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Abschied von Standardtherapien bei der Krebsbekämfpung

Jeder Krebs ist anders, genauso, wie die Diagnose und der Heilerfolg. Gynäkologen und Onkologen aus 36 Ländern diskutierten über Krebstherapien auf dem Charité-Mayo-Kongress. Ein Resümee: Die Mediziner verabschieden sich von Standardtherapien.

Von Wolfgang Noelke | 23.04.2013
    Das auf die Leinwand des Hörsaals projizierte Bild aus dem benachbarten Operationssaal bestätigt die vorherige Diagnose. Auf den Organen einer Patientin tummeln sich kleine, fleischfarbene zum Teil auch weißlich schimmerde Erhebungen, Metastasen eines Eierstock-Karzinoms. Vor ein paar Jahren noch hätten Chirurgen die Bauchdecke einer derart von Metastasen betroffenen Patientin gar nicht erst geöffnet, heutzutage schält die geschickte Hand des Operateurs die befallene Hautschicht von den Organen und den freiliegenden Gefäßen. Blut fließt nicht bei der Operation. Professor Jalid Sehouli, einem der beiden Organisatoren des siebten Charité-Mayo-Kongresses ist die Überraschung seiner, im Hörsaal gebannt zuschauenden Kolleginnen und Kollegen gelungen, weil:

    "Im ersten Eindruck hätte man die Patientin gar nicht operiert, weil überall Tumore waren. Aber durch meine Erfahrung, durch eine spezialisierte Ausbildung, ist es sehr gut gegangen, den Darm zu entfernen, ohne einen künstlichen Darmausgang zu legen. Das Bauchfell entfernt, ohne andere Organe zu entfernen, um dann zum Schluss in eine Situation zu kommen, wo wirklich ohne Blutkonserven - wir eine Tumorfreiheit zu bekommen und damit auch die Prognose für die Frau zu verbessern."

    Wesentlich präziser und damit effektiver ist inzwischen auch die Radiotherapie. Nicht mehr von zwei Seiten werden energiereiche Strahlen auf einen Tumor fokussiert, sondern der Brennpunkt im sogenannten 3D- Verfahren "Rapid Arc" ensteht erst dort, wo sich unendlich viele schwache Strahlen kreuzen. Ein ständig, die Patientin umkreisender Strahlenfächer berücksichtigt ihr Computertomogramm und weiß, wo empfindliche Organe im Wege sind. Ideal für den postoperativen Erhalt der Brust, meint der Onkologe Dr. Harun Badakhshi:


    "Weil man davon ausgeht, dass eine Operation wahrscheinlich nicht alle Tumorzellen entfernt. Fünf Zellen sehen Sie nicht im Gewebe. Das ist die Rolle der Strahlentherapie, die eventuell noch verbliebenen Tumorzellen zu vernichten. Relativ sinkt das Risiko um 70 Prozent. Das ist ein Quantensprung in der Onkologie. Die beste, teuerste langwierigste Chemotherapie wird das nie nachholen können, weil es da sich um kleinere Quantitäten handelt."

    Im während des Kongresses ausgetragenen akademischen Streit, Chemotherapie durch Radiotherapie zu ersetzen, dominierte allerdings auch ein anderes Argument. Professor Sehouli:

    "Strahlentherapie mag für die eine Frau eine Heilung bringen, für eine andere Frau kann das aber die Ursache für einen zweiten neuen Krebs sein, obwohl die Prognose schon so toll war, dass aber nach zehn Jahren plötzlich die Frau einen neuen Krebs bekommt, nur wegen der Bestrahlungen. Sowas, was wir hier in der Charité-Mayo-Konferenz erlebt haben, worauf die Leute sich ein Jahr lang vorbereitet haben, die Dafür- und Dagegen-Argumente herauszuarbeiten, das ist wichtig, weil – die Patientin soll ja auch selber mitentscheiden! Wie soll sie entscheiden, wenn sie nicht weiß, was die Pro- und die Contra- Argumente sind – und deswegen fand ich das hier als eine ganz außerordentliche Leistung."

    Deswegen werden Therapien immer detaillierter personalisiert. Zur Zeit entwickelt das Team um Professor Sehouli ein Verfahren, um per Ultraschall und Bluttest gut- und bösartige Tumoren sicher zu diagnostizieren. Die Zeit der Standard-OP's ist vorbei, auch familiäre Vorbelastungen verlieren für die Diagnose prozentual an Bedeutung:

    "Viele überschätzen ihr Risiko, weil - es sind eben nur fünf bis zehn Prozent. Viele denken, weil die Tante oder der Großvater Blutkrebs hatte, dass sie jetzt auch ein Risiko hat, Krebs zu bekommen, aber der Großteil der Erkrankungen ist gar nicht genetisch fixiert, sondern nur ein ganz kleiner Teil - und diese Frauen gilt es zu erkennen, sie zu informieren, aufzuklären und dann eben zusätzliche - sage ich mal - schlechte Rahmenbedingungen zu vermeiden."