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Abschlussball mit Fußball

Fußball kann die Biografie entscheidend beeinflussen, selbst wenn man es nicht zum Bundesligaprofi bringt, sondern stattdessen Literaturkritiker wird. Als solcher hat Helmut Böttiger mit seiner Liebe zum Fußball und einem fast verzweifelten Faible für sportliche Kellerkinder, den 1. FC Nürnberg und den SC Freiburg, lange Durststrecken durchleiden müssen, sportlich wie kulturell.

Von Florian Felix Weyh | 06.06.2006
    Der Mann hat Angst, und das zu Recht. Es geht um die Frage, ob der Staat ihn kasernieren dürfe. Schon zweimal ist er durchgefallen bei der so genannten "Gewissensprüfung", jetzt verhandelt ein ordentliches Gericht über das Begehren, statt des Wehrdienstes den zivilen Ersatzdienst leisten zu wollen - im Schwaben der alten Bundesrepublik ein durchaus aufsässiger Akt. Warum sollte das Verwaltungsgericht anders urteilen als die beiden Spruchkammern der unteren Instanzen? Wäre da nicht der FC Creglingen, ein Dorffußballverein aus dem Hohenloher Land, der sich von den Rumpeläckern der Umgebung auf gepflegte Rasenstücke weitaus größerer Vereine hochgespielt hat, zum Beispiel beim FC Fellbach. Aus Creglingen kommt der Delinquent, aus Fellbach einer der Gerichtsbeisitzer. Und weil man vor der Verhandlung ins sportliche Fachgespräch gerät, entsteht eine Verbindlichkeit zwischen Fußballfreunden, die alle ideologischen Gegensätze überbrückt. Am Ende erkennt das Gericht die Motive des Creglingers Helmut Böttiger an und entlässt ihn in ein angstfreies Leben.

    Natürlich weiß weder der Autor noch der Leser, was sich wirklich hinter den Türen des Beratungszimmers abgespielt hat, doch allein die Vorstellung beruhigt: Fußball kann die Biographie entscheidend beeinflussen, selbst wenn man es nicht zum Bundesligaprofi bringt, sondern stattdessen Literaturkritiker wird. Als solcher hat Böttiger mit seiner Liebe zum Fußball und einem fast verzweifelten Faible für sportliche Kellerkinder, den 1. FC Nürnberg und den SC Freiburg, lange Durststrecken durchleiden müssen, sportlich wie kulturell. Sportlich, weil seine Favoriten zu jenen Fahrstuhlvereinen gehören, die vom Amateurbereich bis zur 1. Bundesliga munter rauf- und runterfahren; kulturell, weil das Bekenntnis zum Fußball als ästhetisches Vergnügen ein jüngeres, popkulturelles Phänomen darstellt. Als Böttiger in den 80ern ein Volontariat bei der Stuttgarter Zeitung absolviert, sitzen die Sportredakteure noch am Katzentisch, werden vom Feuilleton gemieden und scheinen überhaupt wenig Kontakt mit der Realität zu haben. Übers SPD-Urgestein Günther Koch, den legendären ARD-Radioreporter, der bei Spielen seines Clubs regelmäßig aus dem Häuschen gerät, munkeln sie, er sei rechtsradikal - in tumber Verwechslung von Volkstümlichen mit Völkischem. Der eher linke Jungjournalist ist kurz irritiert, dann aber umso motivierter, Koch persönlich kennen zu lernen. Das Treffen findet alsbald auf der Holztribüne des Nürnberger Stadions statt und beschert dem Leser ein liebevolles Portrait jenes Sportjournalismus-Außenseiters, der bis heute kein großes internationales Match kommentieren durfte, obwohl er - nein: weil er - die Fußballreportage zur großen akustischen Kunst entwickelt hat, die es mittlerweile als CD-Pressungen gibt.

    Verspielte Details solcher Art zeichnen Böttigers sehr persönliches Buch zur WM aus. Schon der Titel "Schlußball" lässt mehrere Interpretationen offen. Zum einen soll das Buch Schlussstein in Böttigers literarischer Fußballpublizistik sein, zum anderen imaginiert man den Torschuss als Abschluss eines erfolgreichen Spielzugs. Böttiger selbst meint Variante drei, denn er hofft, die neue Klinsmann-Ära ende auch auf deutscher Seite mit einer Tanzveranstaltung auf dem Rasen, einem Abschlussball, bei dem der ergebnisorientierte deutsche "Systemfußball" ohne Rücksicht auf ästhetische Verluste endgültig überwunden werde. Die Ampel freilich steht zwischen gelb und rot, denn Jürgen Klinsmann scheint ein Betriebsunfall des DFB zu sein und wird möglicherweise bald von dem abgelöst, dem er den Job vor der Nase weggeschnappt hat: Lothar Matthäus, dem Böttiger bei aller Liebe zum Fränkischen nichts abgewinnen kann. Matthäus ist Vergangenheit, alte Bundesrepublik, nie in der Gegenwart angekommen. "Es gibt viele Indizien dafür", schreibt der Fußballkritiker, "dass man den Fußball als ästhetische Größe begreifen kann, der ähnlich wie die klassischen kulturellen Genres auf gesellschaftliche Entwicklungen reagiert und sie zum Teil auch vorwegnimmt." Im letzten Halbsatz steckt seine Hoffnung für die WM, auch wenn er betrübt konstatieren muss, dass sich die "variable Raumaufteilung und das ständige Wechseln der Position" beim Fußball "nicht mit der Ästhetik der Flächentarifverträge" unter einen Hut bringen lässt. Behält Böttiger recht mit seiner Vermutung gegenseitiger Beeinflussung von Spiel und Wirklichkeit, müssten wir als Weltmeister Tarifreformen kriegen - oder aber als früh Ausgeschiedene volkswirtschaftlich im "Weiter so!" stagnieren. Dass das Massenereignis Fußball nicht im kontextlosen Raum stattfinden kann, haben wir immer schon geahnt, und wer sich für diese vielfältigen Kontexte interessiert - vom deutschen Soziologen Niklas Luhmann bis hin zum italienischen Lyriker Marco Lodoli - ist bei Böttiger bestens aufgehoben. Allein: Sehr viele werden das Bändchen nicht mit ins Stadion nehmen. Dort gilt die Aufmerksamkeit dann doch eher den profanen Freuden.