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Abschuss von Flug MH17
Aufklärung als politischer Drahtseilakt für die Niederlande

Fünf Monate nach dem Absturz von Flug MH17 über der Ukraine gibt es noch immer keine offizielle Erklärung. Von den 298 Todesopfern stammen 193 aus den Niederlanden. Die Aufklärung der Tragödie ist für das Land kriminologische Herausforderung und auch ein politischer Drahtseilakt. Denn Regierung und Angehörige haben unterschiedliche Interessen.

Von Kerstin Schweighöfer | 15.12.2014
    Brennende Kerzen und Angehörige und Freunde der Opfer von Flug MH17.
    Kerzen erinnerten bei der zentralen Gedenkfeier in Amsterdam an die Toten von Flug MH17. (picture alliance / dpa / Jasper Juinen)
    Darauf hatten sie fünf Monate lang gewartet. Wrackteile der MH-17 kommen endlich in den Niederlanden an. Lastwagen bringen sie zu einem Stützpunkt der Luftwaffe im Süden des Landes. Hier sollen Teile des Flugzeugs rekonstruiert werden. Angehörige von Opfern ließen es sich trotz Regen und Kälte nicht nehmen, bei der Ankunft der LKW dabei zu sein. Für die meisten war es ein sehr berührender Moment:
    "Beim Vorbeifahren der Laster wussten meine Frau und ich: Das ist das Flugzeug, in dem unser Sohn mit seiner Freundin gesessen hatte", meinte ein Mann.
    "Es sind weitere Puzzlestücke auf dem Weg zur Wahrheit", ergänzte seine Frau. "Puzzlestücke. Im wahrsten Sinne des Wortes."
    Bei der Rekonstruktion sollen die Angehörigen miteinbezogen werden. Eine ebenso aufwendige wie außergewöhnliche Operation, zu der es bisher nur sechsmal kam: Etwa nach dem Absturz einer Pan Am-Boeing 1988 über dem schottischen Lockerbie - 270 Menschen hatten dabei ihr Leben verloren. Oder gut zehn Jahre später, als ein TWA-Jumbo kurz nach dem Start in New York ins Meer stürzte: Alle 230 Insassen starben.
    In beiden Fällen konnte die Rekonstruktion der Unglücksmaschine maßgeblich zur Klärung der Ursache beitragen: Beim Absturz über Lockerbie, so stellte sich heraus, handelte es sich um einen Anschlag, ausgelöst durch eine Bombe, die im Gepäckraum explodierte. Für den Absturz der TWA-Maschine 1996 hingegen war ein Kurzschluss im Treibstofftank verantwortlich.
    Von mehreren fliegenden Objekten regelrecht durchsiebt
    Von der MH17 sollen das Cockpit und Teile der Flügel rekonstruiert werden, Boeing hat bereits Unterstützung zugesagt. Laut Zwischenbericht der niederländischen Luft-Sicherheitsbehörde OVV ist die Unglücksmaschine von mehreren in Hochgeschwindigkeit fliegenden Objekten regelrecht durchsiebt worden – und zwar vor allem das Cockpit, so OVV-Vorsitzender Tjibbe Joustra:
    "Deshalb sind diese Teile so wichtig für uns, wir hoffen herauszufinden, aus welcher Richtung die Objekte kamen und wie genau sie einschlugen."
    Das Wort "Rakete" haben die OVV-Experten bislang bewusst nicht in den Mund genommen. Die ukrainische Justiz hat da weniger Berührungsängste, sie will bereits unumstößlich festgestellt haben, dass die MH17 von einer Rakete abgeschossen wurde – einer Rakete, die etwa 15 Meter vom Cockpit entfernt explodierte:
    Das machte der zuständige ukrainische Generalstaatsanwalt diese Woche in den niederländischen Medien bekannt.
    Die ukrainischen Behörden sehen darin ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Wenn es nach Kiew geht, soll sich der internationale Strafgerichtshof in Den Haag einschalten.
    Ob es soweit kommt, bleibt abzuwarten. Das gilt auch für die Forderung einiger Angehöriger aus Deutschland, Belgien, den Niederlanden und den USA, die Absturzursache durch eine UN-Untersuchung klären zu lassen.
    "Die niederländische Regierung", so ihr Anwalt Bob van der Goen, "habe viel zu zögerlich und zu wenig sorgfältig gehandelt und müsse sich eingestehen, versagt zu haben".
    Vorwürfe an den Ministerpräsidenten
    Ministerpräsident Mark Rutte musste sich in den letzten Wochen wiederholt vorwerfen lassen, den Russen gegenüber zu nachgiebig aufgetreten zu sein. Immer noch fehlen Satellitenaufnahmen, die zur Klärung der Absturzursache beitragen könnten.
    Doch nun sind nach den sterblichen Überresten der Opfer auch die Wrackteile in den Niederlanden eingetroffen. Damit, so finden immer mehr Niederländer, gebe es keinen Grund mehr, sich in Zurückhaltung zu üben.
    Die Christdemokraten machten sich für einen neuen harten Kurs stark. Militärexperten riefen dazu auf, Moskau endlich die Zähne zu zeigen:
    Diplomaten hingegen mahnen weiterhin zur Umsicht: Russland und die Niederlande seien aufgrund wirtschaftlicher Interessen zusammengewachsen wie siamesische Zwillinge, gab der ehemalige niederländische Außenminister Ben Bot zu bedenken. Sein Ratschlag: Tauwetter statt noch mehr Frost.