Dienstag, 19. März 2024

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Abstimmung im Unterhaus
Politologe: Zwölf Abweichler "relativ hochgegriffen"

Zwölf bis 50 Labour-Abgeordnete könnten Spekulationen zufolge im Unterhaus für das Brexit-Abkommen stimmen, sagte Christos Katsioulis von der Friedrich-Ebert-Stiftung im Dlf. Er sei aber skeptisch, dass sich diese Abgeordneten tatsächlich für Boris Johnson entscheiden - denn das Misstrauen sei groß.

Christos Katsioulis im Gespräch mit Philipp May | 18.10.2019
Die die britischen Palamentsgebäude und der Big Ben in London an der Themse.
Im britischen Parlament wird am Samstag über das von Premierminister Boris Johnson mit der EU vereinbarte Brexit-Abkommen abgestimmt (imago images / Danita Delimont / Paul Thompson)
Philipp May: Es wird um jede einzelne Stimme gerungen in Westminster. Der ungeliebte Backstop, der ist zwar vom Tisch im neuen Brexit-Deal. Dafür würde aber eine Zollgrenze auf See zwischen Nordirland und dem übrigen Teil des Vereinigten Königreichs entstehen - ein zu hoher Preis für die Abgeordneten der nordirischen DUP. Also muss Boris Johnson jetzt auf die Abweichler bei der oppositionellen Labour-Partei zugehen.
Am Telefon in London erreichen wir jetzt Christos Katsioulis, Leiter des Büros der Friedrich-Ebert-Stiftung dort. Schönen guten Tag!
Christos Katsioulis: Guten Tag.
May: Schafft Boris Johnson das? Kriegt er seinen Deal durch morgen?
Katsioulis: Wenn ich Ihnen sage, ja oder nein, würde ich lügen, genau wie jeder andere, der das im Moment tut. Hier wird fleißig spekuliert. Es wird fleißig durchgezählt, wie die Nummern ausgehen könnten. Aber wirklich wissen werden wir es erst morgen nach der Abstimmung, weil alles noch im Fluss ist.
May: Aber immerhin: Es wird wohl sehr knapp, während Theresa May ja immer gescheitert ist im Parlament. Kann man jetzt schon sagen, Boris Johnson hat etwas besser gemacht als sie?
Katsioulis: Er hat sicherlich einiges besser gemacht als sie. Aber auf der anderen Seite hatte er es definitiv auch leichter als Theresa May. Er hat einfach mehr Glaubwürdigkeit bei den harten Brexiteers, gerade auch bei den Spartanern, die eben ja auch im Interview waren bei Ihnen. Da genießt er mehr Anerkennung als Theresa May, die ja selbst als Remainerin im Referendum für den Verbleib in der EU geworben hat. Das heißt, seine Ausgangsposition war etwas leichter, und die EU ist ihm natürlich auch noch mal ein Stück weiter entgegengekommen, als sie es gegenüber Theresa May gemacht hat. Insofern hat er für diejenigen, die den Brexit wollen, sicherlich etwas besser gemacht.
"Schlechter für die Briten"
May: Sie sagen, die EU ist Boris Johnson entgegengekommen. Das heißt, dieser Deal, kein Backstop, auch keine Zollunion mit der EU mehr, sprich die Möglichkeit, dann dementsprechend auch Freihandelsverträge abzuschließen, aber dafür der Preis einer zumindest teilweisen Abspaltung Nordirlands, der ist wirklich besser für die Briten als dieser May-Backstop-Deal?
Katsioulis: Das habe ich nicht gesagt, dass er besser für die Briten ist. Wenn man Ökonomen glauben darf, dann ist er sogar schlechter für die Briten. Er ist besser für diejenigen, die den Brexit haben wollen, und er ist besser für diejenigen, die immer wieder geklagt haben, dass der Backstop Großbritannien auf ewig in das Bett der EU fesseln würde. Dadurch, dass er den Backstop herausverhandelt hat, dadurch, dass wir jetzt dieses sehr komplizierte Zollabkommen für Nordirland haben, das de jure im UK verbleibt, aber de facto in der EU-Zollunion verbleibt und im Binnenmarkt, haben wir eine Situation, die es möglicherweise leichter macht, diesen Deal durchs britische Parlament zu bekommen.
Das ist auch das Problematische an der Brexit-Diskussion, die wir hier in London führen. Wir sprechen gar nicht mehr darüber, was das eigentlich bedeutet für das Land und welche Folgen es haben wird, sondern eigentlich nur noch darüber, geht es durchs Parlament, was passiert in den nächsten Tagen, aber nicht, was passiert in den kommenden Jahren.
May: Dann leisten wir uns doch diesen Schlenker. Ist das die stillschweigende, wenn der Deal durchgeht, langfristige Preisgabe von Nordirland als Teil des Vereinigten Königreichs?
Katsioulis: Es ist sicherlich nicht die langfristige Preisgabe. Es ist aber die Preisgabe Nordirlands für eine bestimmte Zeit, in der Hoffnung, dann Freihandelsabkommen mit der ganzen Welt und auch unter anderem mit der EU abschließen zu können, die es dann irgendwann möglich machen, Nordirland wieder zurück ins Vereinigte Königreich zu führen. Aus meiner Sicht ist das eine große Illusion, die auf der Idee beruht, dass man als Global Britain auf allen Weltmeeren anerkannt sein wird, mit dem Commonwealth eine große Runde von Staaten hat, die sehr gerne Freihandelsabkommen mit London abschließen werden. Ich bin fest überzeugt, dass man sich hier den Kopf an vielen Wänden einrennen wird, aber das sind erst die kommenden Jahre und nicht die nächsten Wochen.
"Dilemma" für Labour-Abgeordnete aus Pro-Brexit-Wahlkreisen
May: Ok. Dann gucken wir mal direkt auf morgen. Sie sind bei der Friedrich-Ebert-Stiftung, SPD-nah. Das heißt, Sie haben wahrscheinlich kürzere Drähte zu Labour als zu den Konservativen. Jetzt hat bei uns heute Morgen Ben Bradshaw, Labour-Abgeordneter, im Deutschlandfunk auch ganz klar gesagt: Jeder Labour-Abgeordnete, der für den Deal von Boris Johnson morgen stimmt, stimmt damit gleichzeitig für sein eigenes Karriereende. Das sind doch ganz schlechte Voraussetzungen dafür, dass das morgen durchgeht.
Katsioulis: Das sind schlechte Voraussetzungen dafür. Jetzt muss man dazu sagen, dass Ben Bradshaw jemand ist, der von Anfang an für Remain eingetreten ist, der vehement ein zweites Referendum fordert und der von Anfang an einer der lautesten Brexit-Gegner auch innerhalb der Labour-Partei war.
Die anderen, diejenigen, die vor allem Wahlkreise vertreten, die mit großer Mehrheit für Leave gestimmt haben, sind hier in einem größeren Dilemma als Ben, und für die ist die Frage jetzt durchaus, stimmen wir diesem Deal zu, um den Brexit quasi über die Hürde zu bekommen und endlich auch über andere Themen sprechen zu können, wie das viele bei Labour erhoffen, oder geben wir hier jemandem wie Boris Johnson freie Hand, dem wir absolut nicht über den Weg trauen.
Unsere Drähte sind kürzer zu Labour, da haben Sie vollkommen recht. Ich habe gestern noch mit einem Abgeordneten gesprochen, der genau dieses Dilemma vor Augen hat, und mein Gefühl ist, dass das Misstrauen gegenüber Boris Johnson, der ja auch nichts dafür getan hat, diesen Leuten das Gefühl zu geben, ihre Anliegen sind bei ihm in guten Händen, dass das so groß ist, dass die Zahlen, die im Moment hier in London kursieren, von zwölf bis 50 Labour-Abgeordneten selbst bei den zwölf relativ hochgegriffen sind.
May: Wobei ich gestern auch viele Analysen gelesen habe, die sagen, egal wie es ausgeht, auch wenn der Deal nicht durchgeht, am Ende profitiert einer vor allem, und das ist Boris Johnson, weil er dann vor anstehenden Neuwahlen sagen kann, seht her, ich habe es zumindest versucht, aber Labour, die wollten ja nicht.
Katsioulis: Das ist sicherlich eine Rückfalltaktik, auf die er setzen wird. Neuwahlen will er ohnehin und er wird sie entweder bestreiten mit "ich habe den Brexit geliefert", oder "ich wollte unbedingt den Brexit liefern, habe alles dafür getan, und das böse Parlament ist mir in die Zügel gefallen und hat mich aufgehalten". Das Problem, was er haben könnte, worauf Labour auch ein Stück weit setzt, ist, dass er nicht den Brexit liefert, den viele Menschen inzwischen haben wollen, nämlich den No-Deal-Brexit. Das ist die Option, die bei den Brexiteers die größte Mehrheit hat. Er wird dann in Neuwahlen mit der Brexit-Partei um Nigel Farage eine Konkurrenz haben um die Stimmen derjenigen, die für Leave gestimmt haben, und das ist ein Stück weit die Hoffnung, dass so, wie sich das Remainer-Lager zwischen Liberaldemokraten und Labour spalten wird, vermutlich bei Neuwahlen, dass sich auch das Leave-Lager zwischen Tories und Farage spalten wird und man damit eine etwas bessere Ausgangsposition hat für die Neuwahlen, die ohnehin kommen werden, früher oder später. Wir reden hier über entweder Dezember, oder das Frühjahr 2020.
"Teil des Spiels für morgen, um den Druck zu erhöhen"
May: Das eine sind die Wahlen; das andere ist der Brexit selbst. Wenn dieser Deal morgen scheitert, wie wird es dann weitergehen?
Katsioulis: Dann greift der sogenannte Benn-Act, das Gesetz, was nach dem Labour-Abgeordneten Hilary Benn benannt ist.
May: Darum will sich ja Boris Johnson herummogeln.
Katsioulis: Das ist richtig. Es gibt Stimmen aus seinem Amtssitz, die sagen, er will sich darum herummogeln. Es gibt andere, die sagen, er wird sich ans Gesetz halten. Auch das ist Teil des Spiels für morgen, um den Druck zu erhöhen. Aber legal gesehen greift dieses Gesetz und er muss um eine Verlängerung bitten, und dann werden wir vermutlich bis zum 31. Januar Neuwahlen haben, um in irgendeiner Form eine Veränderung der Situation herbeizuführen. Wir haben ja das Problem, dass wir weiterhin das gleiche Parlament haben, was bisher jede Option abgelehnt hat - nicht nur den Deal von Theresa May, sondern auch jede andere, die jemals zur Abstimmung gestellt wurde -, und irgendwann wird kein Weg daran vorbeiführen, diese Zusammensetzung zu verändern, um dann in irgendeiner Weise eine Neuordnung der Stimmen zu bekommen und dann eine Brexit-Lösung erreichen zu können.
May: Das ist auch der Grund, sagen Sie, warum eine Fristverlängerung auch von Seiten der EU durchaus noch mal Sinn machen würde, um den Briten diese Chance zu geben?
Katsioulis: Ich glaube kaum, dass sich die EU dem Argument verwehren kann, dass man über demokratische Neuwahlen versuchen möchte, hier eine Lösung herbeizuführen. Demokratie ist einer der Grundwerte der EU. Insofern wäre das oder ein Referendum sicherlich ein Argument, warum man dann auch einer Verlängerung zustimmen kann.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.