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Adenauer-Ära am Wendepunkt

Wachsender Wohlstand auf der einen Seite, muffiges gesellschaftliches Klima auf der anderen - so sind die 50er Jahre als Adenauer-Ära in die Geschichte der Bundesrepublik eingegangen. 1957 feierte Adenauer noch seinen größten Wahlsieg mit dem Slogan "Keine Experimente!". Ein Jahr später wurde die Gesellschaft streitlustiger - wie die Bundestagsdebatte vom 23. Januar 1958 zeigt.

Von Winfried Sträter | 23.01.2008
    Konrad Adenauer saß sicher in seinem Kanzlersessel, sicherer denn je. Die Unionsparteien hatten die letzte Bundestagswahl im September 1957 mit der absoluten Mehrheit der Stimmen gewonnen. SPD und FDP saßen in der Opposition, abgeschlagen in der Wählergunst. Die Bonner Republik auf dem Höhepunkt der Adenauer-Ära. Hatte die Opposition überhaupt die Kraft, der Regierung die Stirn zu bieten?

    "Meine Damen und Herren! Ich fürchte, ich muss Sie von dem Höhenflug der Gedanken, die wir eben von dem Kollegen Schmid gehört haben, wieder auf den Boden der Erde zurückführen."

    Im Deutschen Bundestag wird eine Grundsatzdebatte zur Außenpolitik geführt. Konrad Adenauer beginnt seine Rede wie so oft mit launig-spöttischen Bemerkungen über die Oppositionsredner. Die Aussprache verläuft zunächst wenig spektakulär. Doch dann treten am Abend dieses Tages zwei Redner ans Pult, die der Debatte eine ungeahnte Wende geben.

    Das Radio - noch ist es das Massenmedium, das auch abends ein Millionenpublikum hat - überträgt live. So werden die Bundesbürger Ohrenzeugen einer Abrechnung mit der Deutschlandpolitik des Kanzlers, die niemand für möglich gehalten hätte. Den Auftakt macht Thomas Dehler (FDP), ehemals Minister im ersten Kabinett Adenauer. Er wirft Adenauer vor:

    "(...) dass man hier zwar von deutscher Einheit und von Wiedervereinigung spricht und sie nicht ernstlich erstrebt. Darum geht es doch! (...) Was haben Sie getan, um dem deutschen Volke das Gefühl, dass diese Spaltung ein Unglück ist, lebendig zu halten?"

    Wie erstarrt sitzt Adenauer im Kanzlersessel. So war er noch nie von der Opposition angegriffen worden. Der leidenschaftlichen Rede Dehlers folgt eine kühle, aber schneidend scharfe Abrechnung durch Gustav Heinemann. Auch er war einmal Minister unter Adenauer gewesen, bis zu seinem Rücktritt 1950. Jetzt sitzt er für die SPD im Bundestag - und greift Adenauer aus einer ungewohnten Ecke an.

    Heinemann ist ein führender Vertreter des deutschen Protestantismus, und er wehrt sich dagegen, dass die Union unter dem Banner des Christentums den Marxismus bekämpft. Sein Kernsatz an diesem Abend ist bald in aller Munde:

    "Es geht nicht um Christentum gegen Marxismus. Sondern es geht um die Erkenntnis, dass Christus nicht gegen Karl Marx gestorben ist, sondern für uns alle."

    Heinemann hält der Adenauer-Regierung vor, dass sie nach 1950 alle Gelegenheiten zunichte gemacht habe, ernsthaft über eine Wiedervereinigung zu verhandeln.

    "Verehrte Damen und Herren, wie sieht denn nun das Ergebnis eben dieser Politik heute aus? Sie müssen ja selber sagen, dass die DDR stärker im Spiele ist als je zuvor. Wahrscheinlich fühlte die Sowjetunion in all diesen Jahren, dass ihr mehr und mehr an Stärke zuwuchs. Das heißt mit anderen Worten, dass die Politik der eingebildeten Stärke das Spiel der Sowjetunion gespielt hat."

    Er wirft Adenauer vor, Deutschland immer tiefer zu spalten und zieht die Schlussfolgerung:

    "Herr Bundeskanzler, für mich persönlich bedeutet dies alles an Sie die Frage, ob Sie nicht nachgerade zurücktreten wollen."

    Das ist die Überraschung des Abends: Nach den großen Erfolgen, die Adenauer erzielt hatte, rücken Dehler und Heinemann plötzlich die Widersprüchlichkeit seiner Deutschlandpolitik ins Rampenlicht – und der Kanzler weiß sich nicht dagegen zu wehren. Im Nachhinein versucht er, Schuldige innerhalb der eigenen Reihen ausfindig zu machen. Doch das hilft nichts.

    Die Parlamentsdebatte des 23. Januar 1958 markiert die Wende in der Adenauer-Ära. Eine politische und gesellschaftliche Aufbruchstimmung wird spürbar. Die SPD hat mit Heinemann einen neuen Star in ihren Reihen. Und SPD und FDP haben nun ein gemeinsames zukunftsweisendes Thema: die Verständigung mit dem Osten. Mit anderen Worten: eine neue Ostpolitik.