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Adliger mit Vorliebe für Demokratie

Nicht nur seinen Zeitgenossen musste ein Mann wie Alexis de Tocqueville als rätselhaft und voller Widersprüche erscheinen. Wie war es möglich, dass ein Adliger sich für die Demokratie begeistern kann, dass ein Franzose in den Amerikanern ein Vorbild sieht und dass ein freigeistiger Intellektueller in der Religion den letzten Rettungsanker erkennt?

Von Hans Martin Lohmann | 29.07.2005
    Man kann Tocqueville als einen Wanderer zwischen den Welten bezeichnen, als eine Art "multiples Selbst", wie der Soziologe Claus Offe formuliert hat, auf jeden Fall schwer einzuordnen in die zeitgenössischen politischen und weltanschaulichen Strömungen.

    Das Leben und Denken des am 29. Juli 1805 in Verneuil geborenen Tocqueville, Spross einer aristokratischen Familie aus der Normandie, stand ganz im Zeichen der grundstürzenden Ereignisse und Nachwirkungen der Französischen Revolution - aus deren Schatten ist er nie herausgetreten.

    Für Tocqueville stand fest, dass auch die Epoche nach dem Sturz Napoleons, seine eigene, eine Epoche der Revolution sei, die unentwegt fortschreitend zunehmend egalitäre gesellschaftliche Verhältnisse hervorbringt. In der Entwicklung zur "Gleichheit der Bedingungen" sah er eine eherne Notwendigkeit, ja, das Werk der Vorsehung - Les jeux sont faites, der Sieg der Demokratie ist unaufhaltsam. Diese Einsicht gewann er, als er im Jahre 1831 für neun Monate in die Vereinigten Staaten reiste, um dort im Auftrag des Justizministeriums das amerikanische Gefängnissystem zu untersuchen. Was er in Amerika beobachtete, verfestigte sich bei ihm zu der Auffassung, dass die demokratisch organisierte Gesellschaft der USA den europäischen Gesellschaften ihre eigene Zukunft zeige. Im 1835 erschienenen ersten Band von "Über die Demokratie in Amerika" heißt es:

    "Ich zweifle nicht daran, dass wir, wie die Amerikaner, früher oder später zu fast völliger Gleichheit gelangen werden. Ich leite daraus nicht ab, dass wir eines Tages aus einem solchen sozialen Zustand die gleichen politischen Folgerungen zu ziehen haben, aber es genügt, dass in beiden Ländern die Grundbedingungen der Gesetze und der Sitten übereinstimmen."

    Statt also nach England zu schauen, das vielen Kontinentaleuropäern des 19. Jahrhunderts als Vorbild der sozialen und politischen Entwicklung galt, empfiehlt Tocqueville den Blick auf Amerika. Denn dort, so gesteht er, habe er...

    "...mehr als Amerika gesehen; ich habe dort ein Bild der Demokratie selbst, ihres Strebens, ihres Wesens, ihrer Vorurteile, ihrer Leidenschaften gesucht."

    Dabei ist der Schriftsteller Tocqueville weit davon entfernt, die amerikanischen Verhältnisse zu idealisieren. Vor allem im zweiten Band des Werkes, fünf Jahre später erschienen, spart er nicht mit Kritik und sarkastischen Anmerkungen - freilich immer in der Absicht, die Schwächen der Demokratie zu benennen, um ihre Vorzüge zu bewahren. Fast ist man dabei an Winston Churchill erinnert, der die Demokratie einmal als die schlechteste Staatsform bezeichnete - abgesehen von allen anderen.

    Was Tocqueville am meisten umtrieb, ist die bis in unsere Gegenwart nicht schlüssig beantwortete Frage, wie Gleichheit und Freiheit, Eigennutz und Gemeinsinn zu einem balancierten Verhältnis finden. Seit 1837 als Politiker aktiv, nämlich als Abgeordneter seines heimatlichen Wahlbezirks Valognes, 1849 kurzfristig sogar als Außenminister der Zweiten Republik, versuchte Tocqueville seine politischen Ideen praktisch umzusetzen. Nach dem Staatsstreich Louis Napoleons 1851, den Marx in seiner Schrift über den "Achtzehnten Brumaire" polemisch gewürdigt hat, zog er sich aus der Politik zurück. Es bleibt bemerkenswert, dass der französische Graf, der so viel an familiären aristokratischen Traditionen mit sich schleppte, sich beharrlich weigerte, Lösungen in der Vergangenheit zu suchen. Sein Ideal blieb die Gegenwart, das heißt die gerade im Entstehen begriffene moderne Demokratie, der er in seinem Amerikabuch ein Denkmal für die Zukunft setzte: "Eine völlig neue Welt bedarf einer neuen politischen Wissenschaft."

    Die Anfänge dieser neuen Wissenschaft finden wir in einem schriftstellerischen Werk, das bis heute nichts an Strahlkraft verloren hat. Als Politiker freilich muss man Alexis de Tocqueville wohl als gescheitert betrachten.