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Adoleszenzdrama vor DDR-Drohkulisse

Julia Franck schildert in "Rücken an Rücken" die DDR als eine Art böse verwunschene Märchenwelt. Die Handlung erstreckt sich von der Mitte der 50er-Jahre bis zum Mauerbau und der Einführung der Wehrpflicht bei der NVA 1962. Alltagsszenen aus der DDR sind allerdings selten - die politische Ebene dient vor allem als Katalysator einer Familientragödie.

Von Wolfgang Schneider | 15.01.2012
    Pack Bücher in deinen Dederonbeutel. Denn soviel DDR wie in diesen Monaten war lange nicht. In den Romanen von Angelika Klüssendorf, Eugen Ruge, Judith Schalansky, Antje Ravic Strubel und nun auch Julia Franck erweist sich die Republik der Arbeiter und Bauern als Land des familiären Verhängnisses. Das verstaatlichte Glücksversprechen wird durch das privatisierte Unglück konterkariert.

    Und es geht hinab zu den Müttern. Die große Beschwörung der Rabenmutter, die mit Peter Wawerzineks "Rabenliebe" furios begann und mit Klüssendorfs "Das Mädchen" den maliziösen Höhepunkt erreichte, zielt auf den bis heute wirksamen Mythos der Ostalgiker: die vermeintliche soziale Obhut und Wärme in der DDR. Oft spielen Märchen dabei eine Rolle als Motivspender, mit ihrem archetypischen Arsenal stiefmütterlich behandelter, von den Eltern verstoßener Kinder.

    Auch Julia Franck bietet keinen realistischen Sozialismus als Gegenentwurf zum sozialistischen Realismus. Vielmehr schildert sie die DDR als eine Art böse verwunschene Märchenwelt. Hänsel und Gretel heißen hier Thomas und Ella - das kindlich-jugendliche Geschwisterpaar wird umstellt mit Instanzen des Bösen.

    Rahnsdorf, weit draußen im Osten Berlins, ist eine Villenkolonie an der Spreemündung in den Müggelsee - wenig Großstadt und viel Idylle. Dort lebte Julia Francks Großmutter, die Bildhauerin Ingeborg Hunzinger in einem Jugendstilhaus mit Atelier und Arbeitsgarten voller Pflanzen und Skulpturen. Die Atmosphäre dieses offenbar recht offenen Hauses hat Julia Franck in ihrem Roman verändert ins Enge, Klaustrophobische, Pathologische.

    Wie "Die Mittagsfrau" beginnt auch "Rücken an Rücken" mit starken Szenen: Ella und Thomas allein zu Haus, schon seit zwei Wochen. Die etwa zehnjährigen Kinder bereiten die Rückkehr der Mutter vor, räumen, putzen, heizen und kochen wie fleißige Märchenzwerge. Als Käthe dann auf ihrem Kleinmotorrad angeknattert kommt, hat sie keinen Blick für all die Liebesmüh, teilt stattdessen bissige Bemerkungen aus und geht zu ihrer Tagesordnung als Künstlerin über.

    "Thomas hätte Käthe gern umarmt ... Er mochte ihr freudiges Wiehern, es lag ein Begehren darin, ein Frohlocken ... Er mochte Käthes Geruch nach Leder und Hund. Aber Käthe ging Umarmungen aus dem Weg, es schien als würde sie in körperlicher Nähe frieren, so sehr presste sie dann ihre Arme an die Seiten, versteifte sich ihr Rücken ... Zu den Kindern hatte sie früher oft gesagt: Klammert nicht so."

    Die Ungeliebten kehren der kalten Mutter nun ihrerseits den Rücken, hauen ab mit dem Boot über den Müggelsee - und als sie nach drei Tagen halb erfroren zurückkehren, hat Käthe ihre Abwesenheit noch nicht einmal bemerkt. Das ist Julia Francks großes Thema: die Zuneigungsverweigerung, das kalte Herz, das Versagen der familiär-"naturhaften" Bindungen. In der "Mittagsfrau" ließ am Ende des Zweiten Weltkriegs eine aus dem Osten flüchtende Mutter ihren kleinen Sohn auf dem Bahnsteig in Pasewalk einfach stehen. Bin gleich wieder da - und nicht wieder gesehen.

    Käthe reagiert schon gereizt, wenn man sie als "Mutter" bezeichnet. Abfällig nennt sie ihre Kinder "Posemuckel" oder "Pimpernelle" - hart gegen sich selbst, verachtet sie alles Schwächliche. Die Bildhauerin ist eine herbe Frau, die man vor allem mit dem Hammer in der Hand kennenlernt, beim "Picken" und "Kloppen". "Mein Vater war Professor und icke kloppe Steine" - so ihr höchstpersönliches Credo der gesellschaftlichen Durchmischung im sozialistischen Staat.

    Wo gibt es das: eine Mutter, die ihrer Tochter zur Strafe für ein paar unerlaubte Naschereien einen Haufen Zucker zum Geburtstag schenkt? Den solle Ella erst einmal aufessen, dann bekomme sie auch wieder anderes. Es hat die perfide Bestrafungslogik eines Märchens.

    Vor dem Maßstab eines wohltemperierten, nach allen Seiten abgesicherten Realismus wirkt vieles in diesem Roman sehr dick aufgetragen - und doch hat er eindrückliche, gerade in ihrer nahezu phantasmagorischen Überzeichnung starke Passagen. Etwa das Kapitel "Stehen". Über vierzig Seiten wird beschrieben, wie Thomas splitternackt und frierend im Atelier für die Mutter Modell steht, ihrem abschätzend-abschätzigen Blick ausgeliefert. Aus dem Steinblock will sie die Skulptur eines "Aufrechten im Klassenkampf" herausmeißeln - und demütigt den Sohn dabei in einem fort. Dann kommen noch einige Genossen und Kollegen herein, mit denen Käthe über Kunst und Sozialismus plaudert.

    "Kaum bemerkte Käthe, wie Thomas sein Unterhemd nahm und über den Kopf ziehen wollte, machte sie ein paar Schritte und riss ihm das Hemd aus der Hand. Wenn dir zu kalt ist, beweg dich ein bisschen, herrschte ihn Käthe an, wir machen gleich weiter. Sie drehte sich zu ihren Besuchern um und sagte: Schon vor Jahren hat der Regierungsaffe da drüben wieder angefangen, seine Soldaten zu bewaffnen. In der Verwaltung und in der Justiz, auf den Regierungsposten, egal, wohin man schaut, überall die alten Recken, die ihre Karriere, ihr Geld, ihr Ansehen bei den Nazis verdient haben ... Jetzt ernten sie, ihre Zeit ist gekommen.

    Der Kampf der Arbeiterklasse gegen die Herrschenden kann nur gelingen, wenn alle mitmachen, nickte Rüdiger. Seine Stimme klang matt, er leierte den Satz, als lese er ihn von einer Tafel ab ...

    Thomas wandte sich ab. Es war ihm peinlich, die drei erwachsenen Menschen in so kindlichen Schablonen sprechen zu hören."

    Es ist eine große Szene, die das gestörte Mutter-Sohn-Verhältnis suggestiv ins Bild setzt. Die Dialoge können jedoch nicht wirklich überzeugen: zu plakativ die Sätzchen über die Rolle der Kunst beim Aufbau der sozialistischen Gesellschaft und den angeblich wieder erstarkenden Faschismus im Westen. Dass Thomas selbst schon das Geleierte, Sprechblasenhafte beklagt, macht die Sache nicht besser. Denn was hat der Leser von solcher selbsttätig diskreditierten Schablonenmalerei? Meinungen, die heute allenfalls historisierendes Belastungsmaterial gegen eine Figur abgeben, müssen nicht so breit ausgeführt werden. Dass aber ist das Problem des DDR-Anteils in diesem Roman. Man versteht an solchen Stellen, warum Angelika Klüssendorf in ihrem Kindesvernachlässigungsroman das Politisch-Ideologische fast völlig ausgespart hat.

    Die Handlung erstreckt sich von der Mitte der 50er-Jahre bis zum Mauerbau und der Einführung der Wehrpflicht bei der NVA 1962. Alltagsszenen aus der DDR sind allerdings selten - wenn etwa die Rock'n'Roll-Tolle eines Freundes mangels Haargels nach Schweineschmalz duftet. Ansonsten dient die politische Ebene vor allem als Katalysator der Familientragödie. Der privaten Diktatur einer martialischen Mutter tritt der staatliche Unterdrückungsapparat hilfreich zur Seite.

    Dieser nur an der Oberfläche historische Roman verschreibt sich aktuellen Themen wie der Inszenierung des Körpers und dem Missbrauch. Der nackte, der kranke, der malträtierte, der Schlägen und sexueller Demütigung ausgelieferte Körper ist der eigentliche Gegenstand. Selbst eine Nebenfigur wie der Stiefvater der Geschwister, ein ehemaliger Widerstandskämpfer, ist durch das tiefstmögliche Körper-Grauen gezeichnet, als schon zu den Toten geworfener KZ-Häftling, der im letzten Moment noch aus dem Leichenstapel gezogen wurde, bevor das "Kehrfahrzeug", wie Franck in einer auf den krassen Effekt zielenden Szene schreibt, den Körperhaufen in die Grube schob. Wie selbstverständlich wird dieser Geschundene später selbst zum Schinder und Schänder seiner Stieftochter.

    Als er sich dann kaum noch blicken lässt, holt Käthe einen Untermieter ins Haus, damit das Geld für die Heizung reicht. Es ist der Stasi-Mann "Heinz", eine fiese Phantasmagorie schmieriger Männlichkeit und ein Kumpan des Stiefvaters, der dessen Missbrauchswerk an Ella fortsetzt. Nachts schleicht er sich in ihr Zimmer:

    "Gehen Sie, bitte. Verschluckte Worte, Flehen. Es war nicht gut, dass sie bettelte, er würde ihre Unsicherheit bemerken, ihre Angst riechen. Ellas Kopf dröhnte. Nicht doch, der Untermieter näherte sein Gesicht, Ella roch den Cognac, den er getrunken hatte, den Tabak, der aus allen seinen Poren kroch. Der Untermieter presste seinen Mund auf Ellas und wollte seine Zunge hineindrücken ... Das magst du, ja? Lassen Sie! Du, der Untermieter flüsterte jetzt noch leiser, du, nicht Sie, ich bin Genosse. Der Finger war beim Gewühle zwischen der Decke und Ellas Beinen getrocknet und der Untermieter steckte ihn erneut in seinen fauligen Mund, nicht nur den Finger, fast die ganze Hand. Die nasse Hand suchte, grabschte, fasste. Du, nenn mich Heinz, kleine Ella, nenn mich Onkel, sag du zu mir, du böser Onkel ..."

    Die Charakterisierung ist unmissverständlich. Für eine differenzierte, intelligente, gar noch charmante Geheimdienstpersönlichkeit wäre in diesem überhitzten Adoleszenzdrama vor DDR-Drohkulisse kein Platz und keine Funktion.

    Julia Franck ist eine fast humorfreie Autorin. Dazu passt die Körperfixiertheit ihres Erzählens. Körper kennen keine Ironie, sie sind unmittelbar. "Geschichten zum Anfassen" hieß ein früher Erzählband Francks - ein Titel, der bei aller Banalität treffend die Poetologie der Nähe und Leibwärme ausdrückt: Francks Prosa geht es um das Sinnliche, Sensitive. So gelingt ihr auch die schmierige Zudringlichkeit besser als Dialoge über den Sozialismus. Das Direkte ist ihre Sache; mit dem Diskursiven müht sie sich redlich und oft vergeblich.

    Käthe schickt Thomas nach dem Schulabschluss gleichsam zur Bewährung in den Steinbruch nach Gommern. Dort wird er unter den Arbeitern schnell zum Opfer ekliger Initiationsrituale und schikanöser Mutproben: Ein sensibler Außenseiter zwischen lauter groben Kerlen, die in seine Schuhe pissen und seine Kleider verstecken, worauf er, gerade dem Modellstehen in Rahnsdorf entronnen, den ganzen Tag in einer neuen Form von Zwangsnacktheit schuftet - zur besonderen Freude des Gruppenleiters, der sich gern ein bisschen an dem jungen Mann vergreifen möchte:

    "Der Gruppenleiter nahm die Zigarette zwischen Daumen und Zeigefinger, er blies den Rauch unmittelbar in Thomas' Gesicht, dann speichelte er geräuschvoll und leckte mit der Zunge über Thomas' Wange, langsam, Thomas zitterte kaum, er hielt den Atem an, er schloss die Augen aus Scham. Die Zunge des Gruppenleiters glitt über seine Lippen, deutlich hörte er, wie erneut die Spucke gesammelt wurde, um sie als möglichst dicke Schleimspur auf seinem Gesicht zu hinterlassen."

    Diese schwüle Körperlichkeit wirkt wie eine Obsession, so dick aufgetragen wie die Speichelspur auf Thomas Gesicht. Damit der Sohn nach dem Martyrium in Gommern, auf das er mit einer äußerst schmerzhaften, die Haut verwüstenden Gürtelrose reagiert, eine zweite Chance, will sagen: einen Studienplatz in Medizin bekommt, leistet auch Käthe ganzen Körper-Einsatz. Ella beobachtet, wie sie im Atelier grunzend mit einem Funktionär kopuliert. Dass in der DDR gute Kontakte vieles möglich machten, bekommt hier eine drastische Ausformulierung. Wie in Kafkas "Schloss" sind die Vertreter der Macht gesichtslose, unappetitliche Männergestalten, die sich ihre Untertanen jederzeit sexuell gefügig machen - und deren Attraktivität, wenn überhaupt, im Aroma der Macht besteht. Höhepunkt in der Darstellung der sexuell aufgeladenen Gewaltverhältnisse ist die beinahe horrorromanhafte Szene, in der Ella im Badezimmer Stasi-Besuch vom hässlichen Heinz bekommt.

    "Ella lag in der Wanne, den Nacken auf dem noch kühlen Rand. Es rüttelte an der Tür. Gewiss eine Einbildung. Niemand rüttelte mitten in der Nacht an irgendeiner Tür, andere könnten wach werden davon. Ella schwieg und hielt den Atem an. Doch kein anderer wurde wach, und während es an der Tür rüttelte, beobachtete Ella im Schein der Kerze, wie sich der Riegel Stück für Stück vom Rahmen hob. Bis die Tür aufsprang. Der Untermieter fiel auf die Knie. Er hob den Kopf und sah Ella nackt vor sich liegen ... Sieh da, eine Nymphe. Hab ich es doch gewusst.

    Nümpfe, es klang, als habe er eine heiße Kartoffel im Mund ... Ella hoffte, der Schwindel würde sie nicht überwältigen, verrückt sind Sie, krank.

    Wer hier krank ist, entscheiden immer noch wir, sagte er und griff mit einer Hand in Ellas Badewasser. Ella regte sich nicht, die Übelkeit lähmte sie.

    Hast du dich entschlossen? Der Untermieter legte seine Hand auf Ellas Brust. Du willst doch kooperieren? Du willst Frieden, du liebst dein Land?"

    Später, nach Ellas Bewusstlosigkeit, wird es heißen, sie verdanke ihr Leben dem Untermieter - der habe die Eingeschlafene in der Badewanne entdeckt und gerade noch rechtzeitig "wiederbelebt". Noch später ist dann die Rede von Schwangerschaft und einer Fehlgeburt auf dem Klo. Ellas Lernblockaden und Regressionen sind gut motiviert.

    Vor dem Medizinstudium muss Thomas im Krankenhaus arbeiten. Auf der Krebsstation kommt er in eine weitere francksche Körperhölle, wo er genau jenen Eindrücken von Schmerz, Siechtum und Tod ausgesetzt ist, die seine politische Hoffnungslosigkeit zum finalen hamletschen Weltekel steigern. Thomas artikuliert ihn in Gedichten - dunklen, vom Expressionismus beeinflussten Versen, die in Wahrheit von Julia Francks früh verstorbenem Onkel Gottlieb Friedrich Franck stammen. Ein literarisches Denkmal in Ehren. Aber Franck verbessert ihr Buch nicht durch diese oft ungelenke, epigonale Lyrik.

    Im Krankenhaus lernt Thomas die Stationsschwester Marie kennen. Die symbiotische Beziehung mit Ella wird aufgebrochen durch eine große, unverhoffte Liebe. Aber auch Marie ist gezeichnet durch ein körperliches Martyrium. Ihr Mann bekommt selbst keinen Auftritt im Roman, aber er ist indirekt anwesend über die Blutergüsse, die seine Prügel auf Marias Körper hinterlassen. Einerseits ist er so eifersüchtig, dass er Thomas niemals zu Gesicht bekommen darf, andererseits zwingt er seine Frau zu Nackttänzen und Prostitution im Kollegenkreis. Schon durch diese geradezu folkloristische Verquickung von Sex und Macht erweist er sich im symbolischen Wertesystem des Romans als repräsentativer Bürger des Landes.

    Thomas und Maries Liebe kennt keine und deshalb bald nur noch eine Perspektive. Die Todesmotive verdichten sich, sogar beim sonnigen See-Ausflug mit Maries kleiner Tochter.

    "Eine Wespe kreiste zwischen ihnen und landete. (...) Marie pustete, aber die Wespe hatte sich am Mund ihrer Kleinen festgesetzt ... Das Kind zuckte mit dem Kopf, drehte ihn hin und zurück, es schlug die Augen auf und im selben Augenblick öffnete es den Mund zu einem gellenden Schrei, ein Schrei, der zum Weinen wurde, noch ehe ihm der Atem ausging und es Luft holen musste. Jetzt berührte Marie die Wespe mit ihren Fingern, doch sie hatte sich hartnäckig in der Lippe des Kindes festgebissen. Thomas stieß mit dem Fingernagel gegen das Insekt, dass es hochflog, einen kleinen Hautfetzen im Kiefer, zurück blieb eine winzige blutende Wunde auf den Lippen des schreienden Kindes. Marie nahm ihr Kind in den Arm, sie drückte es an sich, presste es, sagte tröstende Worte, bis ihr selbst die Tränen über das Gesicht liefen, sie küsste ihr Kind, sie sang und wiegte es."

    Diesem Kind wird noch ein ganz anderer Stich versetzt werden. Wie kann eine Frau ihr Kind trösten und gleich darauf mit dem Geliebten sachlich über das möglichst unauffällige Sammeln der nötigen Giftmenge für den gemeinsamen Selbstmord sprechen? "Ohne mein Kind kann ich nicht leben", sagt Marie. Aber sie kann ohne ihr Kind sterben und es als Halbwaise dem sadistischen Vater überlassen. Das sind Paradoxien des Lebens, Engführungen widerstreitender Gefühle und Grenzbereiche der Psychologie, in die Julia Franck mit wechselndem Erfolg vordringt - beim Leser mal ungläubiges Kopfschütteln, mal Erschütterung bewirkend.

    Thomas ist durch das Missbrauchstrauma der Schwester zur Asexualität konditioniert: Ein guter Mann ist einer, der Frauen nichts antut, und das ist am sichersten gewährleistet, wenn er erst gar keine Triebwünsche äußert. Es erscheint psychologisch plausibel, dass er gerade deshalb für Marie attraktiv ist, die eine Zuflucht sucht vor der Gewaltherrschaft ihres Mannes. So ist auch diese innige Liebe zweier beschädigter Seelen doch wieder nur ein weiteres Szenario der körperlichen Qual, bis zum Ende, dem zu Kleist hinüberschielenden Doppelselbstmord. Bei der literarischen Leichenbeschauung geht Julia Franck ein weiteres Mal in die körperlichen Details.

    "Der Arzt hat einen der Polizisten gebeten, mit anzufassen. Es geht nicht leicht, sie versuchen es von verschiedenen Seiten, aber die Körper sind starr ineinander verschlungen ... Dauert es lang, dauert es Minuten, eine Ewigkeit? Sie stecken ineinander fest. Als sie schließlich Maries Körper von Thomas heben, zeigt sich, dass ihre strahlend weiße Haut am Bauch verfärbt ist, dunkle, violette, fast schwarze Flecken sind dort an ihrem Bauch und an ihren Brüsten entstanden. Behutsam legen die beiden Männer Maries Körper auf das ausgebreitete Laken."

    DDR-Liebestod. Solche Pathos-Szenen sind riskant und selten geworden im Zeitalter der Coolness. Man würde Julia Franck für ihren Mut zum Extrem lieber rühmen, wenn sie den Schock nicht zu oft mit dem Schmock verrühren würde. Sie ist nie eine besonders stilsichere Autorin gewesen, und wer Gestelztheiten sucht, wird sie in der "Mittagsfrau" ebenso finden wie in "Rücken an Rücken". Etwa: "Ein hartes Räuspern entkam Käthes Kehle". Oder: "Das abfällige Schnaufen sprudelte in Ellas Ohr." Oder: "Die Schnödigkeit wehte Käthe wohl an wie ein Ungeheuer." Oder: "Ihr Duft rauschte gegen seinen inneren Strom".

    In Eugen Ruges Bestseller "In Zeiten des abnehmenden Lichts" inspiziert ein mit Komik und Ironie arbeitender Gebärdensammler die untergegangene sozialistische Gesellschaft und stochert in der Asche der Utopie. Die autobiografische Familiengeschichte wird auf kühlende Distanz gebracht. Julia Franck dagegen melodramatisiert die Tragödie der Unfreiheit rückwirkend noch einmal. Hier wird noch einmal mächtig gelitten unter dem Bau der Mauer, hier wird mit dem Luftgewehr auf ein Porträt des "Lügners" Ulbricht geschossen. Die jugendbuchhafte Überdeutlichkeit bekommt dort literarische Qualität, wo sie sich am weitesten vom Realismus entfernt und die Themen und Obsessionen ins Märchen- und Alptraumhafte hinüberspielt. In dieser Sphäre geht die plakative Entgegensetzung von Gut und Böse auf. Dann bekommt in der vielleicht einzigen Szene, die komische Züge hat, sogar eine Zauberin ihren Auftritt. Sie soll Thomas von der Gürtelrose heilen. Die wundertätige Frau ist im Alltag allerdings Verkäuferin in Erkner und besteht darauf, nicht als "Hexe" bezeichnet zu werden.

    Julia Franck: "Rücken an Rücken". Roman. S. Fischer, Frankfurt a. M. 2011, 384 S., 19,95 Euro

    Das Hörbuch zum Roman, ungekürzt gelesen von der Autorin, ist im Hörverlag erschienen: 9 CDs, 29,99 Euro