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Adorno vor 50 Jahren gestorben
Ausnahmetalent und Vertreter der "Kritischen Theorie"

Musiker, Philosoph, Soziologe: Eine geniale Ausnahmeerscheinung war Theodor W. Adorno schon durch die beeindruckende Vielfalt seiner Talente. Bekannt aber wurde er als einer der wichtigsten Intellektuellen der jungen Bundesrepublik und bedeutender Vertreter der "Frankfurter Schule".

Von Rolf Wiggershaus | 06.08.2019
    Der Soziologie-Professor Theodor Adorno am 28.05.1968 bei einer Veranstaltung gegen die Notstandsgesetzgebung im Großen Sendesaal des Hessischen Rundfunks in Frankfurt am Main bei seinem Vortrag.
    Adorno war immer gesellschaftlich interessiert. Kurz vor seinem Tod setzte er sich gegen die damals erlassenen Notstandsgesetze ein. (dpa-report/Manfred Rehm)
    "Ich habe ja mein Leben lang komponiert und betrachte mich immer noch in einem sehr wesentlichen Maße als Musiker, wenn ich auch durch meine philosophische und soziologische Arbeit nicht so viel ans Komponieren gekommen bin, wie ich es ohne gewisse Fügungen vielleicht getan hätte."
    Als Theodor W. Adorno 1968 anlässlich seines 65. Geburtstags interviewt wurde, war er berühmt als Vertreter einer kritischen Gesellschaftstheorie, für die sich der Name "Frankfurter Schule" eingebürgert hatte. Er selbst sah sich immer auch als Künstler, als Musiker.
    "Nicht der Fassade glauben, sondern dahinterkommen"
    Am 11. September 1903 in Frankfurt am Main geboren, wuchs er in einer von Musik geprägten Umgebung auf. Der Vater, Oskar Wiesengrund, war Weingroßhändler; die Mutter, Maria Calvelli-Adorno, und deren zur Familie gehörende Schwester waren Sängerinnen. Außer der musikalischen Begabung zeigte sich bei dem jungen Wiesengrund-Adorno gleichzeitig ein Talent zum philosophischen Hinterfragen:
    "Nicht der Fassade glauben, sondern dahinterzukommen, was eigentlich an Bewegungsgesetzen dahintersteckt. Ich habe schon als Primaner die 'Kritik der reinen Vernunft' mit einem Freund zusammen gelesen, und das war beinahe so selbstverständlich für mich, bei der Philosophie zu sein, wie die Musik für mich selbstverständlich ist."
    "Ich hatte die Möglichkeit, eigene Intentionen zu verfolgen"
    Adorno wurde tatsächlich beides: ein bedeutender Musikexperte und ein berühmter Philosoph. Entscheidend für seine Laufbahn wurde die Beziehung zu dem acht Jahre älteren Philosophie-Professor Max Horkheimer, der seit 1930 das Frankfurter Institut für Sozialforschung leitete. Als Hort der Theorien von Marx und Freud verschrien, musste das Institut 1933 emigrieren. Adorno, als sogenannter Halbjude mit Lehr- und Berufsverbot belegt, folgte ihm 1938 zusammen mit seiner Frau nach New York.
    "Durch meine Beziehung zum Institut für Sozialforschung war ich nicht derart dem unmittelbaren Konkurrenzkampf und dem Druck von außen gesetzter Forderungen ausgesetzt, wie es sonst wohl zu gehen pflegt; ich hatte die Möglichkeit, eigene Intentionen zu verfolgen."
    Überaus produktiv im US-Exil
    Das Exil wurde für Adorno zu einer überaus produktiven Zeit. In Zusammenarbeit mit Horkheimer entstand die "Dialektik der Aufklärung", eines der bedeutendsten philosophischen Werke des 20. Jahrhunderts. Außerdem verfasste er eine "Philosophie der neuen Musik" und die Aphorismen-Sammlung "Minima Moralia. [Reflexionen aus dem beschädigten Leben]". Ferner war er Ko-Autor einer empirischen Untersuchung über Charakterstrukturen, die für faschistische Ideologien empfänglich machten: "The Authoritarian Personality" ("Die autoritäre Persönlichkeit").
    Als das Institut nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs Einladungen zur Rückkehr erhielt, sprach sich vor allem Adorno dafür aus. In den USA war er mit soziologischer Forschung vertraut geworden, doch er fand, sie sei zu reglementiert, zu wenig erfahrungsoffen.
    "Nicht die falscheste Bezeichnung dessen, was mir nach all dem vorschwebt, wäre eine Art Wiederherstellung von Erfahrung gegen ihre empiristische Zurichtung. Das nicht zuletzt wird mich, neben der Möglichkeit, in Europa die eigenen Intentionen ungehinderter verfolgen und zur politischen Aufklärung Einiges helfen zu können, zur Rückkehr bewogen haben."
    Hohe Medienpräsenz in der jungen Bundesrepublik
    In der Bundesrepublik erlebte Adorno seit der zweiten Hälfte der 1950er-Jahre eine Doppelkarriere als Institutsleiter und Professor für Philosophie und Soziologie einerseits, als führender und in den Medien höchst präsenter Kulturkritiker andererseits. Legendär wurde sein Vortrag "Was bedeutet: Aufarbeitung der Vergangenheit?" Darin warnte er vor einem verharmlosenden Gedächtnis:

    "Es verklärt zäh die nationalsozialistische Phase, in der die kollektiven Machtphantasien derer sich erfüllten, die als Einzelne ohnmächtig waren und nur als eine solche Kollektivmacht überhaupt sich als etwas dünkten."
    Die 1966 erschienene "Negative Dialektik" und die 1970 posthum erschienene "Ästhetische Theorie" wurden zu philosophischen Schlüsselwerken des 20. Jahrhunderts. Adornos Tod am 6. August 1969 während eines Urlaubs in der Schweiz bedeutete eine Zäsur, mit der eine große Zeit der Frankfurter Universität zu Ende ging.