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Ära der Angst

Die äußeren Fakten und Daten des Kalten Krieges, insbesondere seine dramatischen Höhepunkte sind bekannt. Aber was diese Ära im Innern der Menschen und Gesellschaften angerichtet hat, welche Ängste sie ausgelöst hat, darüber ist wissenschaftlich wenig bekannt.

Von Peter Leusch | 07.01.2010
    "Polen in den frühen 50er-Jahren - da kursierte offenbar in weiten Teilen der ländlichen Bevölkerung die Vorstellung eines Dritten Weltkrieges, und diese Angst wurde gleichzeitig abgefedert durch das Gerücht, die Amerikaner hätten ganz wundersam neue Bomben entwickelt, nämlich Schlafbomben, die wenn sie eingesetzt würden, nicht die Spreng- und Zerstörungskraft einer Atombombe entfalten, sondern die Rote Armee von einer Sekunde in die andere in einen Tiefschlaf versetzen, sodass die Befreier dann leichtes Spiel haben."
    Bernd Greiner, Historiker und Politologe am Hamburger Institut für Sozialforschung schildert, welche fantastischen Vorstellungen und wilden Gerüchte in der Nachkriegszeit in Umlauf waren, zum Beispiel jene Mär von der amerikanischen Schlafbombe. In Warschau standen 1952 Frauen vor Lebensmittelgeschäften Schlange und "redeten darüber, Essig und Backnatron zur Vorbeugung gegen die Schlafgase zu kaufen, die die Amerikaner im Zuge eines Fallschirmspringereinsatzes in Warschau einsetzen würden."
    Solche Geschichten muten bizarr an. Aber sie spiegeln die kollektive Seelenlage der Zeit, die beherrscht war von der Angst vor einem Dritten Weltkrieg, der – wie immer wieder gemunkelt wurde – schon im Gange sei. Das Schlimmste müsse man annehmen, aber im Bedürfnis nach Sicherheit träumte man zugleich von Rettung, von Wunderwaffen, die niemandem ein Haar krümmen.
    Angst, in vielerlei Gestalt, bildete das emotionale Zentrum des Kalten Krieges, erklärt Bernd Greiner. Das ist auch die Leitthese des aktuellen Sammelbandes "Angst im Kalten Krieg". Es ist der dritte Band eines internationalen Forschungsprojektes zu dieser Ära, durchgeführt vom Hamburger Institut für Sozialforschung.
    "Grundsätzlich gehen wir in diesem Forschungsprojekt ... davon aus, dass es an der Zeit ist, sich von der traditionellen Schwerpunktsetzung der Kalten-Krieg-Studien, nämlich der Fixierung auf Militär- und Außenpolitik zu verabschieden. Und stärker in den Blick zu nehmen, wie dieser Kalte Krieg Gesellschaften im Innern verändert, auf unterschiedlichen Ebenen, politisch, wirtschaftlich usw. Und diese Herangehensweise impliziert auch die Frage nach kollektiven Befindlichkeiten, nach der Seelenlandschaft einer Gesellschaft. Der harte Kern dieses Problems ist die Atombombe, ist der Umstand, dass beide Großmächte, Sowjetunion und USA und später dann auch China und andere mittlere Mächte im Westen über die Atombombe und mithin die Fähigkeit zur Zerstörung des Gegners verfügen, aber auch immer Gefahr laufen, selbst zerstört zu werden, wenn diese Waffe eingesetzt wird.
    Das macht das Zentrum der Angst im Kalten Krieg aus."
    Die Abschreckung erschöpft sich nicht in einer bloßen militärischen Tatsache, in einem Waffenarsenal. Es reicht nicht aus, die Bombe zu besitzen, über Vernichtungswaffen zu verfügen, - jede Seite muss auch glaubhaft mit deren Einsatz drohen, beim Gegner Ängste schüren und sich systematisch unberechenbar machen - mit einem Wort: den Weltenbrand riskieren, um ihn zu verhindern.

    Was diese paradoxe Logik der Abschreckung nicht nur bei der Bevölkerung des vermeintlichen Feindes, sondern auch im eigenen Land anrichtet, davon handelt der Band.

    Einen Schauplatz, wo sich die Widersprüche der atomaren Drohung besonders deutlich zeigen, wo Ängste artikuliert, entfacht oder auch bagatellisiert werden, stellt das Feld des Zivilschutzes dar.

    "Einerseits versuchte man der Öffentlichkeit zu suggerieren, es gibt Möglichkeiten, der Gefahr zu entgehen: "Baut Atombunker"; auf der anderen Seite musste man immer auch die Vorstellung pflegen, wir müssen alles zur Erhaltung des Friedens tun, denn wenn es zum Krieg kommt, können wir ihn wir ihn nicht überleben, - jetzt bringen Sie einmal diese beiden Aspekte zusammen. Das Ergebnis dieser merkwürdigen Doppelung war in der Öffentlichkeit – salopp formuliert, dass eine Mehrheit denen, die so gedacht und argumentiert haben, den Vogel gezeigt hat, sie haben sich zurückgezogen auf eine – stille – Verweigerung."
    Auch in der DDR rief man die Bürger zu Eigenanstrengungen bei der sogenannten Zivilverteidigung auf. Wie das konkret aussah, hat der Historiker Christian Müller vom Hamburger Institut für Sozialforschung untersucht.

    "Es ging darum, dass die Brandmasse in den Häusern reduziert wird, sprich: die Dachböden entrümpelt werden, dass Löschmittel einfachster Art, also die Göbbelsche Feuerpatsche, die im Zweiten Weltkrieg schon berühmt-berüchtigt war, und Tüten mit Sand bereit gestellt werden, und dass man sich also Wasser abfüllt und konservierte Lebensmittel bereithält, wo der radioaktive Staub von ferngehalten wird, da sollte man die Badewanne mit Wasser befüllen und dann abdecken, und ansonsten sich auf Büchsennahrung und eingeschweißtes Brot stützen bei der Ernährung, das war im Prinzip die Konzeption."
    Die Deutschen, im Osten wie im Westen, wussten jedoch aus leidvoller Erfahrung, dass man mit einer Feuerpatsche bestenfalls Entstehungsbrände bekämpfen, aber nichts gegen die Feuerstürme eines Luftangriffs ausrichten kann, und deshalb erst recht nichts gegen noch stärkere Vernichtungswaffen vermag.
    Rückblickend und mit historischem Abstand treten die Parallelen zwischen den Lagern des Kalten Krieges hervor: Beide haben ideologische Feindbilder aufgebaut.

    Beide haben den jeweils anderen dämonisiert und bei der eigenen Bevölkerung systematisch Angst entfacht, um sie für den Kampf der Systeme zu mobilisieren. Und anschließend versuchte man mit teilweise dürftigen Zivilschutzprogrammen, diese hoch gepuschten Ängste wieder einzuhegen und zu beschwichtigen.

    Welche Blüten das in den USA getrieben hat, führte der amerikanische Dokumentarfilm Atomic Cafe vor Augen, eine makaber komisch wirkende Collage aus Bildungs-, Werbe- und Propagandastreifen der 40er und 50er-Jahren. Da gab es zum Beispiel einen Ausschnitt aus dem Lehrfilm Duck and Cover, wo man sich zum Schutz vor einem Atomblitz unter den Tisch verkriecht oder eine Zeitung vor Augen hält.
    Ängste heraufbeschwören und Ängste wieder bannen, auf dieser Klaviatur spielten die Mächtigen im Osten wie im Westen. Aber damit ist noch nicht die die ganze Komplexität von Angst im Kalten Krieg erfasst, so die Osteuropa-Historikerin Claudia Weber, ebenfalls vom Hamburger Institut für Sozialforschung.

    "Es zeigt sich auf der Grundlage der Beiträge, dass wir nicht von einer einseitigen Beziehung reden können, auch nicht in Osteuropa. Angst im Kalten Krieg ist nicht etwas von oben implementiertes, von der Regierung nach unten transportiertes, sondern die Wissenschaftler mit denen wir zusammengearbeitet haben, haben sehr schön gezeigt, auf welchen unterschiedlichen sozialen und politischen Ebenen Angst funktioniert hat, also dass es durchaus auch eine Angst der Machthaber, der Regierungen vor ihrer eigenen Bevölkerung gegeben hat."
    Angst ist keine Einbahnstraße von oben nach unten. Und die Manipulation von Ängsten funktioniert oft nur deshalb, weil ihr eine spezifische Bereitschaft zur Angst entgegenkommt.
    Bernd Greiner:

    "Zum Beispiel gibt es in den USA, die Bereitschaft sich zu ängstigen, die sehr eng verbunden ist mit religiösen Vorstellungen, die einher geht mit eingeschliffenen Wahrnehmungsmustern von Gut und Böse, mit der permanent abrufbaren Vorstellung, man sei vom Teufel bedroht, oder vom Armageddon, - der Russe wird dann zur Versinnbildlichung dieses Armageddon, dieses Empire of Evil, wie Reagan später sagte, das sind Vorstellungen, die man gar nicht dramatisieren muss, dafür ist diese Bevölkerung empfänglich, und in der Zeit des Kalten Krieges, wurden in der amerikanischen Öffentlichkeit Empfindlichkeiten geweckt, die über die Jahrzehnte vorhanden waren, zum Beispiel die Vorstellung: man hätte sich verschworen, um das Vorbild stiftende Amerika zu Fall zu bringen, das ist der Kern des McCarthyismus in den 50er-Jahren."
    In den 60er-Jahren kam es zu einer Entspannungsphase im Kalten Krieg. Die Vorteile von Kooperation und friedlicher Koexistenz schoben sich in den Vordergrund, Anstrengungen zur Rüstungskontrolle griffen partiell, ohne freilich den Rüstungswettlauf wirklich zu beenden. Willi Brandts neue Ostpolitik suchte Wandel durch Annäherung, wollte Erleichterungen für die Menschen im Besuchsverkehr zwischen Ost und West. Und auch die Angst legte gleichsam eine Pause ein.

    "Sie können eine Gesellschaft nicht permanent in einem Zustand von Angst behalten, Herrschaft heißt auch Versprechen von Sicherheit, und die Regierung, die Machthaber, die Eliten, die nicht mehr in der Lage sind, einem Kollektiv Zukunft und Sicherheit zu versprechen, die ihre Herrschaft nur auf Angst gründen, deren Tage sind gezählt, natürlich funktioniert das für eine Zeit lang, Stichwort Stalinismus, aber irgendwann ist diese Ressource erschöpft."
    Es gehört zu den Stärken dieses Sammelbandes, das er versucht, den Entwicklungsverlauf des Kalten Krieges, die Entspannungsphase ab Mitte der 60er-Jahre, und die erneute Eskalation Ende der 70er im Spiegel der Ängste aufzuarbeiten. Auch die Ängste wandelten sich zwischen der frühen und der späten Phase des Kalten Krieges. Claudia Weber führt es darauf zurück, dass die Gewalterfahrungen des Zweiten Weltkrieges allmählich verblassten.

    "Konkret hat das Olga Seznewa in ihrem Beitrag gezeigt am Beispiel von Königsberg, Kaliningrad, wie dort nach der Vertreibung der deutschen Bevölkerung nach dem Zweiten Weltkrieg komplett die Bevölkerung ausgetauscht wurde, mit einer bäuerlich geprägten Bevölkerung aus Weißrussland und aus der Ukraine, die sich in dieser völlig leeren Stadt neu zurecht finden musste, neue Identitäten aufbauen mussten, dort wurde in der ersten Phase des Kalten Krieges sehr stark mit antideutschen Stereotypen, teilweise auch mit Aufrufen zur Gewalt gegen den Rest der dort noch verbliebenen deutschen Bevölkerung argumentiert immer unter dem Vorwand, ihr seid die Schutzmacht, ihr müsst uns gegen die Feinde des Weltkrieges weiter schützen, das ändert sich in der zweiten Hälfte des Kalten Krieges, und der Feindbegriff verliert an Konturen, dann sind es Spione, es sind imaginäre Feinde, und in dem Moment wo das Feindbild imaginärer wird, gibt es auch einer Möglichkeit für eine politische Entspannung."
    Aber das Klima der Entspannung hielt nicht an. Die Supermächte kämpften um ihre Einflusssphären, zettelten über die Geheimdienste Rebellionen an gegen missliebige Regierungen, führten Stellvertreterkriege. Als die Sowjetunion 1979 in Afghanistan einmarschierte, trat der Kalte Krieg in seine zweite Phase. Und das Waffenarsenal der ideologischen Zerrbilder stand wie ehedem zur Verfügung: Ronald Reagan dämönisierte die Sowjetunion als Empire of Evil, als Reich des Bösen, die wiederum beschimpfte die USA als Fratze des Imperialismus.

    Die Rüstungsspirale drehte sich schneller denn je. Aber dieses Mal avancierte die Angst der Menschen vor dem atomaren Inferno zu einem politischen Motor der Kritik.

    "Wir haben parallel zu diesem Zweiten Kalten Krieg, parallel zu dem Bemühen den Weltuntergang in Gestalt einer übergriffigen Sowjetunion an die Wand zu malen, eine Öffentlichkeit in Westeuropa und in den USA, die sagt, jetzt reicht es. Wir entziehen uns erst mal diesem Szenario und wir nehmen das nicht mehr für bare Münze. Und interessanterweise selber zu erstem Mal zu sagen: 'Ja, wir ängstigen uns, aber indem wir über Angst reden, überwinden wir sie.'"
    Angst wird selbstbewusst und offensiv, verbündet sich mit Kritik und Aufklärung. Das ist etwas Neues, gleichsam eine Metamorphose der Angst. Denn in der Bewegung Kampf-dem-Atomtod in den 50er-Jahren galt Angst als unvernünftig, als schlechter Ratgeber, den man verbannen muss. In den 80ern hingegen in der geistesverwandten Friedensbewegung wird Angst akzeptiert, ja geradezu abverlangt, weil sie zu Vorsicht, und Friedenssicherung mahne, so die Argumentation der Gegenöffentlichkeit.

    Die Nachrüstung wurde trotzdem beschlossen, aber der neue Umgang mit Angst in der Friedensbewegung - so Claudia Weber - trug vor allem im Osten weitere Früchte.

    "Das hat sehr zu Popularisierung der Friedensbewegung in der DDR und in Osteuropa beigetragen, da es nicht mehr eine von oben aufoktroyierte Angst vor dem Feind war, vor den Amerikanern oder vor dem Imperialismus, sondern plötzlich hat sich die Angst der Friedensbewegung gegen die eigenen Machthaber gerichtet, aber nicht im dem Sinne: Wir haben Angst vor den Russen, wir haben Angst vor Moskau, sondern wir haben Angst vor den ökologischen Folgen dessen, was hier im Kalten Krieg passiert ist, von unseren eigenen Waffen mit verursacht, von unseren eigenen Aufrüstung im Kalten Krieg. Das Ende des Kalten Krieges am Beispiel Bulgariens ist eingeläutet worden durch die Umweltbewegung im nordbulgarischen Ruse, in dieser Stadt, wo die Kinder nicht mehr atmen konnten, da hat sich noch einmal eine ganz andere Angst artikuliert, die dann zur Delegitimierung des Systems beigetragen hat."
    Der Sammelband "Angst im Kalten Krieg" des Hamburger Instituts für Sozialforschung lädt in seinen Beiträgen dazu ein, über Macht und Ohnmacht von Gefühlen im politischen und gesellschaftlichen Raum neu nachzudenken. Gehörte zum Ende des Kalten Krieges auch eine Katharsis der Angst wie im antiken Drama? Musste man erst die Angst eingestehen, durch sie hindurchgehen, um ihren Würgegriff abzuschütteln, ihre Fixierung auf Feindbilder loszuwerden?
    Soweit gehen die Forscher nicht. Ein Buch, das sich auf den Aspekt Angst fokussiert, läuft natürlich Gefahr einen bislang unterschätzen Faktor nun seinerseits überzubewerten. Korrigieren kann diesen Eindruck die gesamte Reihe von Studien zum Kalten Krieg, die fortgesetzt wird.

    "Angst ist nur ein Ausschnitt aus einer Gesellschaftsgeschichte des Kalten Krieges. Wir werden uns im nächsten Band befassen mit Fragen der Ökonomie des Kalten Krieges und der Frage, wie dieses grenz- und systemüberschreitende politische Regime die Wirtschaftsverfassung in einzelnen Ländern, Ost wie West verändert hat, oder ob die Wirtschaft ein immunes Eigenleben gegenüber der Politik führte - oder eben nicht."