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Äthiopien
Gelebte Utopie in Awra Amba

In der äthiopischen Provinz hat die Gemeinde Awra Amba alle traditionellen Regeln des Landes über Bord geworfen. Ob Religion, Geschlechterrollen, Arbeitsteilung oder Zusammenleben: Das Dorf lebt die Idee von Gleichheit und Geschwisterlichkeit. Kaum zu glauben.

Von Sven Weniger und Michael Marek | 16.07.2019
Das selbstverwaltete Dorf Awra Amba in Äthiopien
Im selbstverwalteten Dorf Awra Amba in Äthiopien ist friedliches und gleichberechtigtes Zusammenleben möglich (Deutschlandradio / Sven Weniger & Michael Marek)
Wir sind unterwegs in Amhara, eine Region im Nordwesten Äthiopiens. Hier entspringt die Quelle des Blauen Nil. In einem Seitental liegt eine einzigartige Gemeinde. Ein Dorf, in dem fast alles anders ist als im Rest Äthiopiens: Awra Amba. Wir parken unser Auto.
Sofort kommt uns eine Frau mittleren Alters entgegen. Sie heißt uns willkommen und führt uns in einen der Flachbauten.
Wir werden gebeten, uns zu setzen. Nach einigen Minuten kommt ein älterer Mann von draußen in den Raum, begleitet von einer jungen Assistentin. Es ist der, um den sich in Awra Amba alles dreht. Zumra Nuru, allgemein nur Zumra genannt, ist der Gründer der Gemeinde:
"Ich bin sehr froh, dass Sie von so weit hergekommen sind, um meine Ideen mit mir zu teilen."
Zumra ist ein mittelgroßer, korpulenter Mann von 68 Jahren. Berühmt ist sein Markenzeichen, eine giftgrüne Fransenmütze, die er stets trägt.
Er sagt: "Hier in Awra Amba leben etwa 500 Menschen. Außerdem kommen noch andere Leute aus dem Distrikt hierher, um zu arbeiten. Ich selbst komme aus der Nachbarprovinz Süd-Gondar. Bis zu meinem 13. Lebensjahr habe ich Vieh gehütet. Schon als Kind hatte ich komische Ideen und musste mir deshalb oft anhören, dass ich nicht ganz richtig im Kopf sei. Ich glaubte damals schon daran, dass jeder Mensch gleich viel wert sei. Schon als Vierjähriger fragte ich mich, warum bestimmte Dinge erlaubt und andere verboten waren."
"Wir haben alle denselben Gott"
Zumra gründete Awra Amba 1972, nachdem er jahrelang als Wanderprediger durch das Land gezogen war. Er erklärt die Eckpfeiler Awra Ambas:
"Religion ist Privatsache. Sie gehört dir oder mir. Es ist egal, ob du katholisch, protestantisch oder orthodox bist, alle haben denselben Gott. Daher sind wir alle gleich. Es gibt bei uns auch keine geschlechtsspezifische Diskriminierung. Wenn Männer und Frauen körperlich das Gleiche leisten können, tun sie das. Wir respektieren, was jeder in der Lage ist zu tun, aber prinzipiell macht jeder alles. Wir wollen zusammenarbeiten, ohne andere zu übervorteilen oder schlechtzumachen, wir wollen Positives leisten. Jeder Tag ist ein Arbeitstag, egal ob Sonntag oder Montag, ob an muslimischen oder christlichen Feiertagen. Denn durch unsere Arbeit ehren wir sie."
Zumra Nuru ist Gründer der Gemeinde Awra Amba

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Zumra Nuru ist Gründer der Gemeinde Awra Amba (Deutschlandradio / Sven Weniger & Michael Marek)
In Äthiopien kommt so etwas bis heute nicht gut an. Die äthiopische Kirche ist sehr orthodox. Es gibt Regionen mit 170 religiösen Feiertagen im Jahr, das schränkt die Arbeitseffizienz stark ein - vor allem in ländlichen Gebieten. Männer und Frauen haben in Äthiopien traditionell sehr unterschiedliche Alltagsaufgaben. Dazu kommt, dass Mädchen oft noch von der Familie verheiratet werden, auch schon im Kindesalter; im Süden des Landes ist Polygamie noch weit verbreitet. Beides ist in Awra Amba tabu, Mann und Frau heiraten nur, wenn beide es wollen. Ehen unter 18 Jahren sind verboten.
Zumra erklärt: "Polygamie untergräbt das Verhältnis von Mann und Frau. Wenn sich zwei Menschen selbst und nur füreinander entscheiden, ist ihre Beziehung auch langlebiger."
Betreuung und Bildung für den Nachwuchs
Anfangs wurde Awra Amba von den Nachbargemeinden angefeindet. Es war der wirtschaftliche Erfolg, der sie milder stimmte. Zumras Gemeinschaft betreibt eine Molkerei und eine Kornmühle. Es gibt ein Teehaus und ein Hostel. Touristen kommen. Awra Amba verdient Geld. Die eigene Schule nimmt auch Kinder aus anderen Dörfern auf.
Zumras Assistentin Worksew Yeshanew und Zumras Sohn Ayalsew führen uns durch die Siedlung.
"Ich heiße Ayalsew Zumra und bin der Sohn des Gründers. Ich würde gerne etwas über Schule und Erziehung sagen. Sie verändern die Welt! Sehen Sie dort drüben, da lernten die Kinder früher draußen unter einem Baum. Unsere Eltern hatten sogar gar keine Erziehung. Doch für uns haben sie das verändert. In Awra Amba geht jedes Kind zur Schule."
Etwa die Hälfte der Bewohner Awra Ambas sind Kinder und Jugendliche. Worksew and Ayalsew zeigen uns die beeindruckende Bücherei Awra Ambas, mehr als tausend Bände. Wer ländliche Schulen in Äthiopien kennt, deren Lehrbücher dort oft zerfleddert herumliegen, der ist überwältigt vom Umfang an Literatur hier in Awra Amba. Danach geht es in den Kindergarten:
"Wir sehen hier den Kindergarten für Vier- bis Siebenjährige. Er ist auch dazu da, sich um den Nachwuchs zu kümmern, wenn Vater und Mutter arbeiten müssen, das heißt von montags bis samstags, denn sonntags sind die Betriebe im Ort geschlossen, dann bleiben die Kinder bei ihren Eltern. Hier gibt es etwa 25 Stühle, an den Wänden stehen englische Wörter geschrieben und deren amharische Bedeutung. Die Kinder lernen hier auch rechnen. Draußen liegt der Spielplatz. Die Kinder sind hier von morgens bis nachmittags, nur zum Mittagessen gehen sie nach Hause und essen mit den Eltern, die dann auch Pause haben."
Lehrerin Worksew Yeshanew in der Bücherei von Aware Amba
Lehrerin Worksew Yeshanew in der Bücherei von Aware Amba (Deutschlandradio / Sven Weniger & Michael Marek)
Erst beim Spaziergang durch Awra Amba fallen uns ein paar frappierende Unterschiede auf zu all den anderen Gemeinden: Im ländlichen Äthiopien wird in den weißen Besuchern vor allem deren Reichtum gesehen. Verständlich, denn viele Äthiopier verdienen nicht mehr als einen Euro pro Tag. Touristen werden daher umgehend um Geld angebettelt. Nichts von alledem in Awra Amba, hier bettelt niemand. Die meisten beachten uns kaum. Vor einem Haus auf einer Bank sitzen einige der Bewohner. Worksew Yeshanew erklärt:
"Dies ist unser Haus für ältere Menschen. Es hat zehn Bewohner, zwei sind gerade nicht im Dorf. Die, die sich zum Beispiel ihr Essen noch selbst zubereiten können, tun das auch. Andere Dinge übernehmen die Mitglieder der Gemeinschaft, also Aufräumen, Wäsche waschen, Körperpflege: Alle drei Tage können sie duschen. Wir wissen nichts über ein Leben im Himmel nach dem Tod. Wir wollen für das Glück dieser Menschen hier auf der Erde sorgen."
"Wir überprüfen, wer ein guter Mensch ist"
Was ist Awra Amba? Ein Experiment? Eine Kommune? Eine Vision? Im Ort leben 144 Familien. Komitees der Bewohner kümmern sich um die Entwicklung der Gemeinde. Es gibt zwei Formen, in Awra Amba zu leben: als Mitglied der Gemeinde oder darüberhinausgehend als Teil der Kooperative, erklärt Ayalsew, der Sohn des Gründers von Awra Amba:
"Wenn man in die Gemeinschaft eintritt, bezahlt man 500 Birr. Das sind etwa 15 Euro. Danach gibt es keine weiteren Gebühren. Wenn die Leute zusammen in der Kooperative arbeiten, werden die Einnahmen aufgeteilt. Es gibt ein Komitee, eingesetzt von den Mitgliedern, das sich um die Finanzen und alles andere kümmert. Jeder bekommt dann am Jahresende gleich viel. Zurzeit haben wir nicht viel Land, das wir Interessenten zur Verfügung stellen können, nicht jeden können wir aufnehmen. Man muss zuerst unsere Regeln anerkennen, erst dann kann man Mitglied werden. Zu sagen: Ich bin ein guter Mensch, reicht nicht. Wir überprüfen das selbst."
Awra Amba ist eine wohlhabende Gemeinde - an sich schon ein Wunder im bitterarmen Äthiopien. Auf die Frage nach seiner Vision für die Zukunft dieses so einzigartigen Projekts in Äthiopien wird Zumra Nuru bescheiden.
Er sagt: "Ich habe, ehrlich gesagt, keine Vorstellung, wie Awra Amba in der Zukunft aussehen kann. Aber ich wünsche mir, dass die Leute, die hierherkommen, in uns wie in einem Spiegel das sehen, was möglich ist, nämlich Frieden. Wer Konflikte im Kopf hat, lebt in Unfrieden, wer Frieden im Kopf hat, lebt friedlich. Ich habe zwar nichts zu sagen, keine Autorität in der Welt, aber das ist meine Idee. Vielen Dank!"
Atlas Obscura, ein US-amerikanisches Magazin, das bizarren, unbekannten und wundersamen Reisezielen nachspürt, nannte Zumras Gemeinde: pantheistisch, kommunistisch, feministisch und kultisch – ein wilder Querschnitt durch den Garten der Ideologien.