Montag, 25. März 2024

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AfD in der Coronakrise
Abgeschlagen, aber angriffslustig

Krisen sind die Stunden der Exekutive, Oppositionsparteien haben es schwer. Das bekommt auch die AfD zu spüren, deren Umfragewerte in Bund und Ländern sinken. Doch in der Partei hofft man darauf, am Ende von der Coronakrise zu profitieren.

Von Nadine Lindner, Henry Bernhard und Moritz Küpper | 28.04.2020
Alice Weidel und Alexander Gauland im Bundestag während einer Regierungserklärung zur Bewältigung der Covid-19- Pandemie in Deutschland und Europa im Bundestag in Berlin (23.04.2020)
Alice Weidel und Alexander Gauland im Bundestag während der Regierungserklärung zur Bewältigung der Covid-19-Pandemie (imago/Bildgehege)
"So, da ist in der Ecke mein Platz. Guten Tag! Anderthalb Meter – oder!?" Björn Höcke sucht seinen Platz im Sitzungsaal der Thüringer AfD-Fraktion. Es ist genügend Raum, sich zu verteilen. Außer den drei Abgeordneten von der AfD und ihrem Pressesprecher sind nur noch vier Journalisten anwesend. Ein weiterer lässt sich per Handy zuschalten. Es ist Mitte April, Höckes Fraktion will ein Positionspapier vorstellen, Titel: "Mit gesundem Menschenverstand das Land aus der Coronastarre befreien."
"Deutschland und Thüringen müssen so schnell wie möglich raus aus der Coronastarre. Ich will betonen, dass die deutschen Regierungen, besonders aber die Bundesregierung, in den letzten Wochen und Monaten keine gute Arbeit gemacht haben. Man kann sogar regelrecht von Stümperei sprechen."
Kritik - aber auch versöhnliche Töne von Höcke
Zu wenig Tests, zu wenig Wissen, zu wenige Obduktionen, zu viele Spekulationen seien eine wacklige Grundlage für schwere Grundrechtseinschränkungen und eine massive Schädigung des Wirtschaftslebens.
"Vor allen Dingen hat die Bundesregierung unserer Auffassung nach schwere Fehlentscheidungen getroffen, für die sie sich auch zu verantworten haben wird. Man hat erst verharmlost, bevor man dann in einer 180-Grad-Wende einem gesamten Land eine Coronastarre zwangsverordnet hat."
Jens Cotta (l.), stellvertretender AfD-Fraktionsvorsitzender, Björn Höcke (M.), Thüringer AfD-Fraktionschef und Wolfgang Lauerwald, gesundheitspolitischer Sprecher der AfD-Fraktion, sprechen bei einer Pressekonferenz im Landtag
Die AfD-Fraktion im Thüringer Landtag stellt ihr Positionspapier zur Coronakrise vor (dpa/Michael Reichel)
Dennoch schlägt der Thüringer AfD-Fraktions- und -parteichef Höcke auch geradezu versöhnliche Töne an. An die Maskenpflicht werde man sich selbstverständlich halten, auch wenn man sie nicht sinnvoll finde. Auf jeden Fall müsse jetzt Logik und nicht Ideologie das Handeln der Politik leiten. Sogar lobende Worte für die Thüringer Landesregierung findet Höcke in diesen Tagen. Im Krisenmodus manage Rot-Rot-Grün unter Bodo Ramelow das Land pragmatisch.
Wie anders klang das noch vor der Coronakrise bei Björn Höcke: "Dieses Land wird von Idioten regiert! Merkel hat den Verstand verloren. Sie muss in den politischen Ruhestand geschickt werden oder in der Zwangsjacke aus dem Bundeskanzleramt abgeführt werden."
Wahrnehmung in sozialen Netzwerken eingebrochen
Die AfD in Bund und Ländern ist mit der Coronakrise und dem starken Fokus auf die handelnden Regierungen aus dem Tritt geraten. Intern gibt es weiter Machtkämpfe und Streit über die richtigen Anti-Coronamaßnahmen. Manche finden die verordneten Einschränkungen richtig, anderen gehen sie zu weit; einige halten das Virus für kaum gefährlicher als eine Grippe. Damit bleibt auch der große oppositionelle Angriff auf ganzer Breite aus. Die AfD als "einzige evolutionäre Chance", Deutschland zu retten, zu bewerben, alle regierenden Parteien als Totalversager zu brandmarken, zieht nicht mehr.
Alexander Gauland, AfD-Fraktionsvorsitzender, aufgenommen nach der Bundespressekonferenz zur Reaktion der AfD Alternative fuer Deutschland nach der Wahl der Hamburger Buergerschaft. Berlin, 24.02.2020.
AfD in der Coronakrise - Schlechte Zeiten für Feindbilder
In der Krise setzen viele Menschen auf etablierte Medien – auf Kosten der AfD, die mit ihren Botschaften gerade nur schwer durchdringt. Ihre Eliten-Kritik kommt in Corona-Zeiten nicht gut an.
Dafür hat der Politik- und Kommunikationsberater Johannes Hillje Belege gefunden: Die Wahrnehmung der AfD, die in den sozialen Netzwerken erfolgreicher ist als alle anderen Parteien zusammen, sei massiv eingebrochen: "Die Interaktionen der AfD auf Facebook haben sich in der Corona-Krise nahezu halbiert. Weniger Interaktionen führen zu weniger Reichweite, also weniger Menschen werden tatsächlich erreicht." Und dies, obwohl die AfD in gewohnter Frequenz kommuniziere, auch zum Thema Corona.
"Da merkt man eben, dass gerade die Beiträge zu Corona sehr viel weniger Zuspruch erhalten als Beiträge aus anderen Monaten zu anderen Themen. Eine Ausnahme gibt es allerdings: Die erfolgreichsten Posts der AfD zu Corona verbinden die Pandemie mit dem Themenkomplex Flüchtlinge und Migranten. Also das heißt, die AfD stigmatisiert Flüchtlinge als Beschleuniger für die Verbreitung des Virus. Wenn man hier so eine Themen-Verbindung macht, dann kann die AfD noch durchdringen bei ihrer Anhängerschaft auf Facebook."
Pro-Establishment-Orientierung schadet der AfD
Die Aufmerksamkeit für die AfD leide unter der aktuellen Pro-Establishment-Orientierung, so Hillje. Knapp formuliert: In Zeiten der Krise vertrauen die Bürger lieber Angela Merkel und der Tagesschau als der AfD und den Bloggern und Youtubern in deren Umfeld, die krude Verschwörungstheorien zu Ursprung und Wesen des Coronavirus verbreiten. Sogar der Thüringer Bundestagsabgeordnete und Vize-Bundeschef der AfD, Stephan Brandner, lobt derzeit die Informationen zu Corona durch ARD, ZDF und Deutschlandradio. Er räumt ein, "dass ich das durchaus zur Kenntnis nehme und die Berichterstattung durchaus akzeptabel ist, die im öffentlich-rechtlichen Rundfunk läuft, und dass er damit wuchern sollte."
Aber in diesem öffentlich-rechtlichen Rundfunk will er die AfD stärker vertreten sehen: "Wenn Sie sich die Massensendungen anschauen, Tagesschau, die ganzen Quassel-Shows, Talkshows, Heute-Sendungen, da kommt die AfD so gut wie nie vor. Und das ist natürlich eine Schieflage." Diese angebliche Schieflage gelte es zu beseitigen, indem den Parteien jetzt Werbezeit im öffentlich-rechtlichen Rundfunk eingeräumt wird – etwa wie sonst vor Bundestagswahlen. Die Partei-Werbesendungen müsse es solange geben, bis die allgemeinen Veranstaltungsverbote zurückgenommen werden und die AfD ihre Wähler wieder persönlich erreichen könne.
"Einschränkungen der Bürgerrechte schnellstmöglich beenden"
Die AfD-Fraktion im Bundestag fordert, die Einschränkungen des öffentlichen Lebens und der Wirtschaft aufzuheben. Es sei unklar, auf welcher Grundlage die Einschränkungen überhaupt getroffen worden seien, sagte die AfD-Politikerin Beatrix von Storch.
"Ich glaube, das ist hier ein Kollateralvorteil, den die Altparteien‚ bemerken und sagen: Mensch, das ist doch ganze einfach, da machen wir ein paar Wochen länger, da kann die AfD keine Veranstaltungen machen. In Thüringen haben wir jede Woche Bürgerdialoge mit 50 bis 250 Leuten und dieses wichtige Standbein ist uns mit Veranstaltungsverboten weggetreten worden."
Dem widerspricht der Politik- und Kommunikationsberater Johannes Hillje vehement. Das Veranstaltungsverbot gelte schließlich für alle Parteien: "Man muss schon auch sagen, dass die AfD im digitalen Raum immer eine größere Durchschlagskraft hatte und auf mehr Resonanz gestoßen ist als mit physischen Veranstaltungen. Man kann das Argument von Brandner auch umdrehen und sagen: Es ist die Stunde der digitalen Kommunikation. Die Menschen müssen derzeit zu Hause sein und sind deswegen sehr stark auf digitale Kommunikation angewiesen. Da ist es doch doppelt verwunderlich, dass die AfD nicht durchdringt."
Das nationale Argument findet keine Aufmerksamkeit
Mit den eigenen Themen durchdringen und gehört werden, das versucht die AfD auch in Nordrhein-Westfalen. "Es ist nicht einfach, die aktuelle Coronavirus-Pandemie parlamentarisch zu debattieren", sagt Martin Vincentz Mitte März im Düsseldorfer Landtag. Der studierte Mediziner ist seit gut drei Jahren gesundheitspolitischer Sprecher der AfD-Landtagsfraktion: "Wenn wir uns also als Gesamtgesellschaft vielen, auch persönlichen Entbehrungen hingeben, wirtschaftliche Konsequenzen in Kauf nehmen, dann tun wir das für die 20 Prozent in unserer Bevölkerung, für die eine Infektion mit dem Virus schwere, lebensbedrohliche Folgen haben kann."
Coronavirus
Übersicht zum Thema Coronavirus (imago / Rob Engelaar / Hollandse Hoogte)
Die damals leitende Einschätzung. Vincentz betont weiter, dass die Notfallpläne des Landes überarbeitet werden müssten – und macht schließlich noch einen Punkt: "Eine Welt, die so vernetzt ist, dass eine Immobilienblase in den USA mich meinen Job in Deutschland in der Autobranche kosten kann, in der mich ein Virus zu Hause in Heinsberg in Quarantäne bringt, den sich ein Arbeiter aus der chinesischen Provinz zwei Monate zuvor vielleicht von einer Mittagspause beim Verzehr einer Fledermaus-Suppe eingefangen hat."
Das führe, so Vincentz, "zwangsläufig zu einem Wunsch nach Kontrolle, nach Selbstbestimmtheit, nach Grenzen, nach weniger Abhängigkeit. Und ich glaube, selten war die Möglichkeit so gut wie heute, genau darüber nachzudenken." - Krisen als Grund für den Rückfall in nationale Denkmuster? Schließung der Grenzen als der richtige Weg? Es gibt - Stichwort Grenzen, nationale Unabhängigkeit - durchaus inhaltliche Punkte, an die die AfD-Rhetorik der vergangenen Jahre anknüpfen könnte, doch Vincentz' Rede im Parlament verhallt – wird kaum wahrgenommen.
Gemeinwohl passt nicht zur Differenz-Partei AfD
"Weil die Parteien-Differenz im Moment nicht erkennbar ist und die politische Mitte geradezu konstruktiv zusammenhält, als Krisen-Bewältiger, als Krisen-Lotse. Und das passt nicht zu einer Partei, die sich mit diesem Thema einmal nicht auseinandersetzt und zum anderen nichts Konstruktives hat in der eigenen Programmatik", analysiert Professor Karl-Rudolf Korte, Parteienforscher an der NRW School of Governance der Universität Duisburg-Essen.
"Krisenmanagement, Wiederaufbau, Ökonomiekompetenz, das ist ja alles bei der AfD überhaupt nicht beheimatet. Und auch wenn es erstmals wieder darum geht, Gemeinwohl zu beschreiben, was ja eine neue Erfahrung ist in der Krise, dann passt dazu auch keine Partei, die eben genau daran nicht interessiert ist, sondern immer Ränder gegeneinander ausspielt, Gruppen gegeneinander ausspielt, also die Differenz zum Hauptthema hat und nicht das Gemeinwohl. Und auch deshalb lässt das Interesse an dieser Partei Moment fundamental nach."
Ein Gitarrist steht auf einem Balkon in Mailand, Italien, und spielt für seine Nachbarschaft.
Soziologe: Solidarität verändert keine Strukturen
Der Soziologe Wilhelm Heitmeyer beobachtet in der Coronakrise viel Gesellschaftsromantik. Die Hoffnung, dass Solidarität zu weitreichenden Neuentwicklungen in der gesamten Gesellschaft führe, sei aber naiv, sagte er im Dlf. In einem kapitalistischen Staat sei das kaum möglich.
Jüngste Umfragen für Nordrhein-Westfalen, dem bevölkerungsreichsten Bundesland, in dem es den größten AfD-Landesverband gibt, weisen für die Partei nur noch sechs Prozent Zustimmung aus. Die Regierungspartei CDU schnellte dagegen auf 40 Prozent hoch. Doch wie nachhaltig ist das Ganze? Schon jetzt werden allerorts Vergleiche zur Flüchtlingssituation 2015 gezogen, als eine große Mehrheit die Politik der Bundesregierung begrüßte.
Hoffen auf den Kater nach der Krise
Auch Professor Korte kennt den Vergleich: "Die Gefahr ist da. Wir haben jetzt wie damals den Helfers-Stolz auch und Solidaritätsgesten. Das kann sich natürlich verflachen, wenn viele Millionen Arbeitslose zumindest kurzfristig da sein werden und so Krisenstimmen lauter werden. Das ist nicht grundsätzlich auszuschließen."
Dass davon dann die AfD profitiert, glaubt Sven Tritschler: "Ich mache mir mittel- und langfristig keine Sorgen, denn der Kater wird kommen." Tritschler ist stellvertretender AfD-Fraktionsvorsitzender in NRW. Er sitzt Mitte April im Düsseldorfer Landtag. Gerade hat das Parlament das umstrittene Epidemie-Gesetz der NRW-Landesregierung beschlossen. Mit den Stimmen aller im Parlament vertretenen Parteien – außer der AfD.
"Man ist jetzt quasi so ein bisschen in so einem Rausch gewesen: Wir müssen jetzt den Virus bekämpfen, das ist das Allerwichtigste, koste es, was es wolle. Ja, und jetzt muss dann irgendwann die Rechnung bezahlt werden und dann wird man sich wahrscheinlich fragen: Können wir uns den vielen grünen Luxus, den wir uns Anfang des Jahres noch vorgenommen haben, können wir uns den noch leisten? Können wir uns zum Beispiel auch noch eine Flüchtlingspolitik in der Form leisten, wie wir sie bisher gemacht haben? Also mache ich mir über die längere Perspektive für die AfD eigentlich keine Sorgen."
Menschenleere Kö in Düsseldorf
Deutschlands Wirtschaft und das Coronavirus
Die Börsen brechen ein, Geschäfte haben nur teilweise geöffnet. Neben wenigen Corona-Gewinnern gibt es vor allem Verlierer. Die Politik hilft mit umfangreichen Programmen. Ein Überblick.
Zusammen mit seiner Fraktion hat Tritschler einen 60-Punkte-Plan entwickelt: Er reicht von Geld für Kliniken zur Virusbekämpfung über Wirtschaftshilfen in Form von Rentner-Unterstützung oder Bafög-Stundungen bis hin zum Aussetzen der Kita-Gebühr. Ein konstruktiver Beitrag sei das gewesen. Doch auch wenn Tritschler selbst einige Punkte davon nun in der Diskussion oder im Regierungshandeln wiederfinden will, die Resonanz darauf war gering.
Vielleicht ist das aber auch nicht weiter schlimm. Politikwissenschaftler Korte von der Universität Duisburg-Essen glaubt, dass es am Ende fast egal ist, wie sich die Debatte um und nach Corona entwickeln wird, denn die AfD hätte eines schon oft bewiesen: "Die Partei war immer clever, sich selbst fliegende Ziele zu suchen, sodass ich nicht ausschließe, dass sie vielleicht irgendein Post-Coronathema auch normal neu für sich entdeckt. Sie hat die klaren Unterschiede in Ost und West. Sie hat ein sehr, sehr gemischtes Wählerpublikum. Auch das macht einen eigentlich resilient, um nicht sofort zu verschwinden."
Positionswechsel im Bundestag
Die AfD im Bundestag ist mittlerweile selbst zu einem fliegenden Ziel geworden, denn sie hat ihre Position zur Coronapolitik deutlich verändert. Es sei ein gefährliches Virus, hieß es noch zu Beginn. Am 4. März trat AfD-Fraktionschefin Alice Weidel mit eindringlichen Worten ans Rednerpult: "Nach allem, was wir wissen, geht von dem Virus eine höhere Ansteckungsgefahr und ein größeres Mortalitätsrisiko aus, als von der gewöhnlichen Grippe", so Weidel. Der Staat sei jetzt in der Pflicht: "Und wenn die Bürger das Vertrauen haben könnten, dass ihre Regierung sich um ihre Kernaufgaben kümmert, und zwar den Schutz der Bürger und Krisenprävention, die sie wochenlang sträflich vernachlässigt hat."
Nur gut sechs Wochen später verfolgt die AfD ganz andere Ziele. Die einstige Kernaufgabe der Regierung, ist nun verzichtbar. Vergangene Woche im Bundestag: Nach der Regierungserklärung von Angela Merkel formuliert Co-Fraktionschef Alexander Gauland so: "Die Krise ist die Stunde der Exekutive und zugleich die große Versuchung der Exekutive, den Staat als Vormund der Bürger zu etablieren. Frau Bundeskanzlerin, das ist offenbar nicht nur in Ungarn so."
Alexander Gauland, Vorsitzender der AfD-Bundestagsfraktion, spricht in der Plenarsitzung des Deutschen Bundestages
Alexander Gauland, Vorsitzender der AfD-Bundestagsfraktion, spricht in der Plenarsitzung des Deutschen Bundestages (dpa/Bernd von Jutrczenka)
Gauland fährt fort: "Die Menschen halten Abstand voneinander, sie versammeln sich nicht, warten geduldig vor Geschäften, viele tragen Mundschutz. Die Quarantäne-Maßnahmen laufen längst selbst organisiert. Der Staat ist dabei weitgehend überflüssig." Gauland fragt: "Warum dürfen Gaststätten und Biergärten nicht unter Auflagen öffnen?" Die Menschen seien vernünftig genug, um sich gegenseitig zu kontrollieren. Auch größere Läden müssten schnell öffnen.
Doch wie verantwortungsvoll die AfD selbst mit den Abstandsregeln umgeht, zeigt sich umgehend. Nach Gaulands Rede klopft ihm ein AfD-Abgeordneter auf die Schulter. Nach dem nächsten AfD-Redner – Sebastian Münzenmaier – das gleiche Bild. Schulterklopfen, zusammengesteckte Köpfe, Körperkontakt, fast demonstrativ. Der eigene Appell wird nicht eingelöst.
Machtkampf in der Bundestagsfraktion
Wie Basis und Wähler auf den AfD-Kurswechsel reagieren, wird sich spätestens bei den Landtags- und der Bundestagswahl im kommenden Jahr zeigen. In den sozialen Netzwerken sind die Nutzer mit Gaulands Forderung nach Öffnung weitgehend zufrieden. In der Kommentarspalte auf dem AfD-Fraktions-Account heißt es: "Wir wollen unser altes Leben zurück", oder: "Wir brauchen niemanden mehr, der uns in Angst versetzt."
Die Haltung der AfD-Bundestagsfraktion – und damit das Angebot an die Wähler – bleibt indes voller Widersprüche: In einem Positionspapier fordert sie Anfang April Firmen dazu auf, auf physische Meetings zu verzichten. Das Papier entsteht jedoch in einer Sondersitzung der Fraktion, bei der 70 Abgeordnete aus ganz Deutschland zusammengekommen sind. Wer per Telefon teilnimmt – wie etwa Fraktionschefin Alice Weidel – bekommt kurzerhand kein Stimmrecht. Hinter der Sondersitzung – und dem dort beschlossenen Richtungswechsel hin zu schnelleren Lockerungen – steckt auch ein Machtkampf innerhalb der Fraktion. Kritiker von Weidel wie Dirk Spaniel und Hansjörg Müller hatten das Treffen gegen den Willen der Fraktionsspitze durchgesetzt.
09.01.2020, Berlin: Der AfD-Vorsitzende Jörg Meuthen spricht vor Beginn der Verhandlung über mutmaßliche unzulässige Wahlkampfhilfe an seine Partei mit Journalisten. 
Vorschlag zur Teilung der AfD - Heftiger Gegenwind für Parteichef Meuthen
AfD-Parteichef Jörg Meuthen hat für seine Forderung nach einer Teilung der Partei in eine sogenannte Mehrheits-AfD und in die Anhänger des rechtsextremen "Flügels" viel Kritik aus den eigenen Reihen einstecken müssen. Die AfD steckt fest zwischen Spaltungsangst und Verschwörungstheorien.
Weidel-Kritiker Hansjörg Müller verbreitet via YouTube zudem Verschwörungstheorien: "Eignet sich jetzt die Coronahysterie, um von den wahren Schuldigen des jetzt ablaufenden Zusammenbruchs der Weltwirtschaft abzulenken? Von den Zentralbanken, der endlosen Geldschöpfung, von der globalen Finanzoligarchie." Bundesvorstandsmitglied Stephan Protschka verbreitet über seinen Twitter-Kanal die Behauptung, dass es den Corona-Lockdown nur gebe, um eine Wirtschaftskrise zu überdecken. Protschka und Müller gelten als Abgeordnete, die dem Flügel nahestehen sollen, der vor seiner Auflösung steht.
Coronapolitik der AfD verfängt beim Wähler nicht
Ansonsten kann die AfD in der Gesundheitspolitik wenig inhaltliche Angebote an die Wähler machen. Sie fordert zwar aktuell den Aufbau nationaler Produktionsstäten für Antibiotikum, aber im Grundsatzprogramm der Partei taucht das Wort Gesundheitspolitik nicht ein einziges Mal auf. Und auch im neuen Leitantrag zur Sozialpolitik, in dem Kernsätze zur Gesundheitspolitik formuliert werden, taucht die Pandemie-Vorsorge nicht auf.
In der Wählergunst verfängt die Coronapolitik derzeit nicht. Ähnlich wie in Nordrhein-Westfalen sind auch die Umfragewerte im Bund seit Mitte März merklich zurückgegangen. Bei mehreren Umfrage-Instituten rutscht die Partei von 14 auf neun oder zehn Prozent. Ein Dämpfer. Bei der Bundestagswahl 2017 hatte sie 12,6 Prozent erreicht.
AfD-Bundestagsabgeordnete berichten, dass Mitglieder drei Wünsche an sie herantragen: Die Partei soll in den Medien sichtbar sein, sie soll fundamentale Kritik an der Bundesregierung zum Beispiel bei der versäumten Schutzmaskenbeschaffung üben und die AfD soll auf schnelle Wirtschaftsöffnungen drängen. Aber selbst wenn die AfD derzeit an Zustimmung verliert und programmatisch im Schlingerkurs ist, liegt sie für die Zeit nach der Corona-Krise in Lauerstellung.
Die Wirtschaftskrise soll es richten
Georg Pazderski, Fraktionsvorsitzender im Abgeordnetenhaus in Berlin, setzt auf kommende wirtschaftliche Schwierigkeiten – ähnlich wie sein Parteikollege Sven Tritschler in Nordrhein-Westfalen: "Die AfD profitiert deshalb vom Szenario, weil wir sehen werden, dass Geld eben nicht gedruckt wird, sondern dass Geld erwirtschaftet werden muss. Und dass natürlich, wenn man jetzt das Geld mit vollen Händen ausgibt, es irgendwann fehlt."
Auch in Thüringen scheint der Oppositionsmodus der AfD wieder zu erwachen. Am Abend nach der Pressekonferenz, auf der die Thüringer Landtagsfraktion eine schnelle Öffnung aller Lebensbereiche gefordert hatte, verkündete die Rot-Rot-Grüne Landesregierung, dass Veranstaltungen und religiöse Zusammenkünfte sofort wieder möglich sein sollten – mit Verweis auf die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichtes.
Dagegen protestierte die AfD: Dies sei ausdrücklich eine Bevorzugung der Muslime, deren Ramadan gerade da beginne. Die Regelung sei sofort zurückzunehmen, sie untergrabe "die Legitimation und Akzeptanz der Mundschutzpflicht". Da war die AfD wieder bei ihrem Thema.