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Afghanistan-Einsatz
"Kundus ist ein Alarmzeichen"

Der Vorsitzende des Bundeswehrverbandes, André Wüstner, warnt nach den Taliban-Angriffen auf Kundus vor einer Eskalation in Afghanistan. Man dürfe kein Machtvakuum riskieren, sagte er im DLF. Angesichts des Wiedererstarkens der Aufständischen sei ein Auslaufen des Mandats zum jetzigen Zeitpunkt obsolet.

André Wüstner im Gespräch mit Sandra Schulz | 01.10.2015
    Wüstner in grauer Uniform mit Hemd und Krawatte auf dem Flur vor der Bundespressekonferenz. Er trägt eine Brille.
    Major André Wüstner (Imago / Metodi Popow)
    Spätestens nun müsse klar sein, dass man an dem Zeitplan der Mission nicht festhalten könne. Die Ausbildung und Beratung der afghanischen Sicherheitskräfte müsse verstärkt werden, forderte Wüstner: "Man muss weg von diesem Agieren in Zeitlinien, sondern lageabhängig." Auch mit Blick auf die Flüchtlingsströme müsse Deutschland ein Interesse haben, die Fluchtgründe in Afghanistan zu bekämpfen. Er forderte eine Erhöhung der Mandatsobergrenze: 805 Soldaten seien zu wenig. "Das ist eine rein innenpolitisch motivierte Zahl," sagte Wüstner. "Sie gibt den Militärs keine Möglichkeit, flexibel zu reagieren."
    Die Lage in Kundus wirke sich auf das ganze Land aus, so Wüstner. Auch in Kabul würden die ersten Menschen aus Angst vor einer weiteren Eskalation fliehen.

    Das Interview in voller Länge:
    Sandra Schulz: "Ihr habt die Uhren, wir haben die Zeit" - mit dieser Parole werden die Taliban in Afghanistan zitiert. Der Satz ist einige Jahre alt, aber in diesen Tagen ganz aktuell, denn Anfang der Woche haben die Taliban die afghanische Stadt Kundus mehr oder weniger überrannt. Eine schnelle Rückeroberung hat der afghanische Präsident Ghani angekündigt. Die wurde heute Nacht dann auch gemeldet. Die Diskussion wollen wir jetzt auch fortschreiben. Mitgehört hat André Wüstner, der Vorsitzende des Bundeswehrverbandes. Guten Morgen.
    André Wüstner: Guten Morgen, Frau Schulz.
    Schulz: Nichts ist gut in Afghanistan, hat die frühere EKD-Vorsitzende Käßmann vor Jahren gesagt. Da war die Aufregung groß. Aber recht hatte sie doch?
    Wüstner: Nein! Auch wir haben damals schon gesagt, so kann man das pauschal nicht sagen, denn natürlich hat sich über die Jahre vieles verbessert und man muss natürlich genau überlegen, wovon spricht man und mit welchem Maßstab geht man an Stabilität heran etc. pp. Aber nichtsdestotrotz: Jetzt diese Angriffe auf Kundus, ja, die waren ein Schock. Die waren eine Überraschung, insbesondere was die Art und Weise dieses Angriffs betraf, und wir erwarten jetzt eine klare Position der Bundesregierung und nicht nur von Frau von der Leyen. Auch der Außenminister ist gefragt, der Entwicklungshilfeminister, wie man denn jetzt gedenkt, damit weiter umzugehen.
    Nicht am aktuellen Zeitplan für den Abzug festhalten
    Schulz: Das Mandat für die aktuelle Mission, diese Ausbildungsmission, das endet ja formal am 31.12.2015. Aber dieses Enddatum, das ist jetzt schon obsolet, oder?
    Wüstner: Ich denke schon. Die ganze Zeit hat man zumindest seitens der Streitkräfte schon gewarnt und hat gesagt, Achtung, die Dinge verändern sich. Das hängt einmal zusammen mit der schwächeren afghanischen Regierung, zum zweiten mit dem Wiedererstarken von Aufständischen, und spätestens jetzt müsste klar sein, dass wir einerseits nicht am Zeitplan festhalten können, was diesen Übergang betrifft, diesen Abzug. Das war ja schon der übergreifende Gedanke dieser Resolute-Support-Mission, dass man sagt, Achtung, man leitet über, wenn dann nur noch Schwerpunkt Entwicklung und Diplomatie, Sicherheit weniger, und ich denke, das muss sich jetzt verändern. Man muss weg von diesem Agieren in Zeitlinien, sondern lageabhängig. Und auch, wenn Frau von der Leyen jetzt sagt, das ist doch ganz normal - bis vor wenigen Wochen war das gar nicht normal.
    Schulz: Klaus Remme hat die Stimmen ja auch gerade noch mal zitiert, die sagen, der Kampfeinsatz, der ist auch viel zu früh beendet worden. Wie ehrlich ist es vor dem Hintergrund, dass wir jetzt nur darüber diskutieren, ob diese Ausbildungsmission verlängert werden soll und ein neuer Kampfeinsatz ja überhaupt nicht zur Diskussion steht?
    Wüstner: Ja, das hängt eben damit zusammen, inwieweit sozusagen die Innenpolitik in den USA, aber auch in Europa da eine wesentliche Rolle spielt. Das war sehr umstritten, wie weit man ISAF beendet und in diesen Übergang, in diese Transition geht. Und unabhängig davon, ob man jetzt sagt, wir müssen in einen erneuten Kampfeinsatz, ich glaube, das wird so nicht möglich sein, und ich weiß auch nicht, ob es wirklich nötig ist. Der Punkt ist nur der: bleibe ich jetzt auf der Linie zu sagen, Schwerpunkt Abbau, Rückbau, weil das war schon in den Köpfen auch jetzt verankert, oder sage ich nein, das, was an Ausbildung und Beratung da ist, auch vielleicht wieder eine Verstärkung an Ausbildung oder Beratung mit einem erhöhten Mandat, was die Mandatsobergrenze betrifft, insbesondere mit Blick auf Deutschland, das wird man definitiv in den Fokus nehmen müssen. Denn man kann sich nicht leisten, dass in Afghanistan zunehmend ein Machtvakuum entsteht und, ich sage mal, die Dschihadisten etc. jetzt dieses Machtvakuum nutzen. Wenn wir jetzt davon sprechen, Ursachen von dieser Flüchtlingskrise zu beseitigen oder zu bekämpfen, dann können wir auf keinen Fall jetzt sagen, wir halten an dem aktuellen Zeitplan zum Abzug fest.
    "Das wirkt sich aus auf Gesamt-Afghanistan"
    Schulz: Und da müssen, da verstehe ich Sie richtig, dann auch wieder mehr Soldaten hin?
    Wüstner: Ich bin da relativ klar. Der Verband hat schon vor Monaten gesagt, 850 ist eine rein innenpolitisch motivierte Zahl. Die Streitkräfte haben klar beraten, das ist zu wenig. Es ist ja auch ein Zeichen, wer sich die Zahlen aktuell anguckt. Wir sind ja die ganze Zeit nahezu genau bei 850. Die war viel zu niedrig angesetzt. Sie gibt den Militärs keine Möglichkeit, flexibel zu reagieren. Das muss nach oben und ich hoffe, dass jetzt in Berlin dieser Gedanke reift und man sagt, nein, man muss, um diesen Übergang dennoch vernünftig zu gestalten, diese Mandatsobergrenze wieder nach oben setzen.
    Schulz: Afghanistan war mehr als ein Jahrzehnt im Krieg. Die Sicherheitslage ist, was der Fall Kundus ja zeigt, mehr als desolat. Kundus hätte eigentlich gar nicht von den Taliban eingenommen werden dürfen, einfach wegen der Kräfteverhältnisse gegenüber den afghanischen Sicherheitskräften. Wenn das jetzt aber doch so passiert ist, zeigt das nicht, dass die militärischen Mittel in Afghanistan einfach an ihre Grenze gekommen sind?
    Wüstner: Na ja, gut, das ist jetzt eine Frage, wie man mit der Gesamtsituation natürlich umgeht und wie man die bewertet. Denn vom Grunde her: Wir Deutschen haben, wenn man den extremen Fokus auf Kundus legt - Kundus ist eine von vielen Städten; man muss eigentlich die Lage im Süden und im Osten gleichermaßen bewerten. Aber Kundus ist ein Alarmzeichen und es wirkt sich aus. Auf der einen Seite bin ich bei denen, die sagen, na ja, jetzt warten wir doch erst mal ab, wie sich die nächsten Tage und Wochen die Situation im Norden entwickelt. Auf der anderen Seite wirkt Kundus auch in Afghanistan. Diese Vernetzung, auch die sozialen Medien, das ist ja total spannend in Afghanistan. Teilweise haben die Menschen nichts zu essen, keine Schuhe, aber sie haben überall zwei, drei Smartphones. Und diese Wirkung nach dem Motto, der sichere Norden, die Deutschen waren dort verantwortlich oder sind verantwortlich, der bröckelt. Kundus fällt. Das wirkt sich aus auf Gesamt-Afghanistan, insbesondere Kabul. Das ist der Grund, warum aktuell es schon Bilder gibt, dass Menschen nicht nur aus Kundus und der Region, sondern auch weiterführend aus Kabul sagen, ich packe meine Sachen, ich fange an, dieses Land zu verlassen, ich fliehe. Und diese Wirkung und diese Psychologie, die muss schnellstmöglich gebrochen werden, um zu sagen, nein, es lohnt sich noch, in diesem Land zu bleiben, weil sonst wäre dieser Einsatz bisher wirklich umsonst gewesen.
    Schulz: Ganz kurze Frage noch zum Schluss. Ursula von der Leyen, die Verteidigungsministerin, die hat ja noch ein anderes Problem. Es ist Anfang dieser Woche bekannt geworden, dass der Blog VroniPlag ihre Doktorarbeit untersucht. Kann sie Ministerin bleiben, wenn ihr der Doktortitel entzogen werden sollte?
    Wüstner: Wenn es soweit ist, dann würden wir natürlich darüber diskutieren. Wir kennen die Diskussionen aus der Plagiatsaffäre von zu Guttenberg auch innerhalb der Bundeswehr. Wir haben diese besondere Situation, dass wir auch Universitäten haben. Jetzt braucht man natürlich keinen Doktortitel, wenn man als Dienstherrin auch sozusagen für die Hochschulen verantwortlich ist und diesen vorsteht. Allerdings ist auch klar, es sollte dieser nicht aberkannt werden. Jetzt warten wir mal ab, wie sich die Situation entwickelt. Wir halten uns da insgesamt zurück und warten auf die Ergebnisse.
    Schulz: Der Vorsitzende des Bundeswehrverbandes, André Wüstner, hier bei uns heute Morgen im Deutschlandfunk. Vielen herzlichen Dank für das Gespräch.
    Wüstner: Danke auch.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.