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Afghanistan
Facebook-Kampagne gegen Flucht nach Deutschland

Das Auswärtige Amt hat in mehreren afghanischen Städten eine Kampagne gestartet. Sie soll junge Afghanen vor einer allzu spontanen Ausreise abhalten und mit Gerüchten über Deutschland als Einwanderungsland aufräumen. Zurzeit verlassen dort viele junge Menschen ihre Heimat.

Von Martin Gerner | 24.11.2015
    Junge Männer wollen vom Busbahnhof in Kabul aus ihre Flucht nach Europa beginnen.
    Junge Männer wollen vom Busbahnhof in Kabul aus ihre Flucht nach Europa beginnen. (Deutschlandradio/Martin Gerner )
    Das ist der deutsche Botschafter in Kabul, Markus Potzel. Der Erste, der fließend Dari kann seit Jahren. Das Persisch, das die Afghanen sprechen. 100 Jahre deutsch-afghanische Freundschaft beteuert er. Aber nun stößt die Freundschaft an Grenzen. Auf der Straße in Kabul hat die deutsche Botschaft große Plakate montiert: "Afghanistan verlassen? Haben Sie sich das wirklich überlegt?", steht da in den Landessprachen.
    Darunter ein Link zur Facebook-Seite 'Rumors about Germany' – Gerüchte über Deutschland. Klickt man darauf, kommen Hinweise wie: Deutschland-Einwanderungsland? Nein. Illegale Einreise wird strafrechtlich verfolgt. Das Auswärtige Amt nennt es eine Aufklärungskampagne, Menschenrechtler dagegen blanke Abschreckung angesichts der Lage.
    Am Busbahnhof in Kabul, von wo die meisten westwärts fahren, hängt kein Poster der deutschen Kampagne. Dieser Jugendliche, gerade 17 Jahre alt, wartet auf eine Mitfahrt:
    "Ich will in den Iran und dann weiter nach Deutschland. Hier gibt es keine Sicherheit, keine Chance, zwei Dollar am Tag zu verdienen. Deutschland, hab ich gehört, ist sicher. Da gibt es Arbeit und Fabriken."
    Ob der Junge aus eigenen Stücken geht oder von der Familie geschickt wird, als Vorhut der Familie, bleibt unklar. Dieser Busfahrer fährt junge Menschen an die Grenze:
    "Es fahren 13- und 14-Jährige von hier, bis 25-Jährige. Sie suchen Arbeit. Die Menschen sind unzufrieden mit der Regierung Ghani/Abdullah. Es gibt keine Beschäftigung, keine Unternehmen, um etwas zu verdienen."
    Und das anfängliche Arbeitsverbot für Asylbewerber in Deutschland, will ich wissen?
    "Wenn wir Europa erreichen werden wir mit ganz kleinen Arbeiten anfangen, um etwas zu erreichen. Wir werden ganz unten anfangen, um etwas zu verdienen, und es unseren Familien daheim schicken."
    Sharif, ein Student der Ingenieurwissenschaften, hilft bei der Übersetzung. Auf dem Rückweg zur Universität Kabul erzählt er von sich:
    "Mein eigener Bruder ist nach Deutschland ausgewandert. Er hat Wirtschaft im 2. Semester studiert. Dann hörte er plötzlich auf, zur Uni zu gehen. Er hat nur noch Zuhause rumgesessen. Ein Verwandter in Deutschland hat ihm von den Vorzügen erzählt. Sie haben über Facebook gesprochen. Er hat erzählt, dass er dort weiterkommen könne, vielleicht Karriere machen. Das hat ihn ganz verrückt gemacht."
    In den afghanischen Facebook-Netzwerken tummeln sich viele der Ausreisewilligen, so der Fotograf Massoud Hosseini:
    "Es kursieren dort allerlei Gerüchte. Etwa, dass Angela Merkel an alle Muslime gerichtet gesagt habe soll: 'Fahrt nicht nach Mekka, sondern lieber nach Europa! Deutschland wird euch menschlich behandeln und aufnehmen'."
    "Die Hälfte meiner Freunde ist unterwegs nach Deutschland"
    Hosseini, Ende 20, reist viel ins Ausland und kehrt immer wieder zurück: "Die Hälfte meiner Freunde ist unterwegs nach Deutschland. Künstler, junge Autoren, mit denen ich immer zum Kaffee saß. Es ist ein Desaster."
    Ob die deutsche Kampagne die jungen Afghanen erreicht?
    "Nicht wirklich. Ich poste sie immerhin im Netz. So wie die Kampagne der Norweger."
    Norwegen hat, Berichten zufolge, einen Deal mit der afghanischen Regierung ausgehandelt. Deutschland, so heißt es, kann Gleiches dagegen nur mit EU-Konsens tun. Bei der Debatte im afghanischen Parlament beteuert der Minister für Flüchtlingsfragen, Alemi Balkhi: solange Krieg herrsche in Afghanistan, werde es weiter Flüchtlinge geben.
    "Wir können die massenhafte Emigration momentan nicht stoppen. Es ist unmöglich, die Menschen physisch am Auswandern zu hindern. Keine Institution kann das verbieten. Ein Teil verlässt das Land mithilfe von Schmugglern. Das entzieht sich dem Auge der staatlichen Behörden."
    In Berlin wird außerdem, nicht zum ersten Mal, diskutiert die Entwicklungshilfe für Kabul zu kürzen. Thomas Ruttig, Co-Direktor des Afghanistan Analysts Network, einer Forschungseinrichtung in Kabul.
    "Da fehlen mir die Worte wenn ich das höre. Wenn Bundesregierung behauptet, 100.000 oder 120.000 Afghanen würden das Land verlassen, ist das meiner Meinung nach zu hoch gegriffen. Auch nach Meinung der UN. Und es heißt nicht, dass die alle bei uns ankommen. In Europa sind in diesem Jahr 150.000 Afghanen angekommen. Bei 100.000 im Monat ist da schon ein gewisser Schwund dabei. Also 'Ausreise' gleich 'Ankunft' zu setzen, wie bei uns, das ist demagogisch."
    Massiver Brain Drain
    Afghanistan erlebt in diesen Tagen einen massiven Brain Drain, so der Islamwissenschaftler Ali Amiri. Amiris Universität ist selbst massiv betroffen von der Abwanderung:
    "Zu meinem Unglück haben 280 unserer Studenten – junge Männer wie Frauen - den Unterricht und das Land verlassen zuletzt. Sie sind jetzt in Hamburg und in Köln. Sie können sie dort treffen. Aber ich möchte klarstellen: Ich habe Niemanden dazu animiert. Im Gegenteil."
    Amiri nennt die Flucht einen beispiellosen kulturellen Wandel unter jungen Afghanen:
    "Wir reden hier von einem europäischen Traum vieler junger Leute. So wie es einen amerikanischen Traum gibt. Von Europa geht eindeutig eine Magie aus. Eines dürfen wir nicht vergessen: Viele junge Menschen in Afghanistan und den islamischen Ländern akzeptieren längst nicht mehr die Werte und Traditionen, wie sie von den Älteren vorgelebt werden. Dazu kommt die Anziehungskraft, die Europa auf sie ausübt."
    "Die Schlepper-Netzwerke haben derweil auf die Wirtschafts-Krise in Afghanistan reagiert. Für die Reise nach Europa ködern sie jetzt mit Preisen von 6.000 bis 7.000 US-Dollar statt bisher 10- bis 15.000 Tausend, erzählen mir die Menschen. Der Kleidung nach zu urteilen hat am Busbahnhof von Kabul niemand soviel Geld."
    "Hier fängt man als Fahrer an, zu arbeiten, so dieser Mann. Und 50 Jahre später ist macht man immer noch Dasselbe. In Europa dagegen kann man weiter kommen und etwas werden."