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Afghanistan
Faszinierender Einblick in einen düsteren Kriegsschauplatz

Carlotta Gall hat als Journalistin für die "New York Times" den Krieg in Afghanistan aus nächster Nähe erlebt. Dabei hat sie eine Erkenntnis gewonnen: Dass Amerika jahrelang den falschen Feind bekämpft hat. "The wrong enemy" heißt so auch folgerichtig ihr Buch. Doch wer ist der "wahre" Feind?

Von Gregor Peter Schmitz | 30.06.2014
    Barack Obama will als Rückzugspräsident in die Geschichte eingehen – als ein Oberbefehlshaber, der Amerikas unheilvolle Kriege in Afghanistan und im Irak zu Ende gebracht hat. Aber um welchen Preis ist ihm dies gelungen? Die Frage stellt sich nicht nur im Irak, wo der Bürgerkrieg gerade neu aufflammt. Sie stellt sich auch in Afghanistan, das schon bald wieder zum Rückzugsort für Taliban und Terroristen werden könnte – und wo die USA mehr als ein Jahrzehnt lang den falschen Gegner bekämpft haben, glaubt man der "New York Times"-Reporterin Carlotta Gall. Sie schreibt in ihrem brillant recherchierten Buch "The Wrong Enemy – America in Afghanistan":
    "Die Afghanen haben nie Terrorismus unterstützt, doch sie wurden am härtesten für die Anschläge vom 11. September 2001 bestraft. Der angebliche US-Verbündete Pakistan hat hingegen die Gewalt in Afghanistan aus zynischen Gründen angeheizt. Pakistan, nicht Afghanistan, war unser wahrer Feind."
    Wohl keine ausländische Journalistin hat den Konflikt in der Region so aufmerksam und intensiv verfolgt wie Gall. Ihr Buch liefert nicht nur eine detailgetreue und tief bewegende Rekonstruktion dieses frustrierenden Kriegsjahrzehnts – sondern auch eine wütende Anklage, dass Schuld und Schuldige von Washington und dem Rest des Westens fahrlässig falsch eingeschätzt worden seien.
    Denn der verhängnisvolle pakistanische Einfluss in Afghanistan begann nach Galls Schilderung schon im Winter 2001, als US-Truppen noch Taliban-Stellungen in Afghanistan bombardierten. Damals hätten pakistanische und afghanische Militante bei einem Treffen in der Grenzstadt Peshawar bereits eine enge Kooperation vereinbart, so Gall. Sie schreibt:
    "Unter den über 60 Teilnehmern waren afghanische Taliban-Kommandeure, ihre pakistanischen Verbündeten aus der Grenzregion und pakistanische Militär- und Religionsführer . Die Taliban-Führer teilten Afghanistan in verschiedene Einsatzbereiche auf – das gemeinsame Ziel aber war, Amerika ein Bein zu stellen. Das Comeback der Taliban war schon in vollem Gange."
    Gall spart in ihrem Buch die Versäumnisse der afghanischen Regierung beim Fortschritt im Land keineswegs aus – und kritisiert auch unnötige amerikanische Aggressivität gegen Zivilisten, die US-Truppen viel Unterstützung gekostet habe.
    Doch die "New York Times"-Reporterin konzentriert sich auf die Verantwortung Pakistans für das anhaltende Chaos im Nachbarland. Sie unterstreicht dies mit Ausführungen zu dem Punkt, der diese Komplizen-Rolle am deutlichsten zu offenbaren scheint – der Unterschlupfmöglichkeit für Osama Bin Laden in Pakistan. Um zu belegen, dass die Regierung in Islamabad über den Aufenthaltsort des Terrorfürsten informiert war, untersuchte die Journalistin unzählige falsche Fährten, bis sie auf eine explosive Entdeckung stieß:
    "Laut einem Insider betrieb der pakistanische Geheimdienst ISI ein spezielles Büro, das sich nur um den Al Kaida-Führer kümmerte. Es wurde ganz unabhängig betrieben, der zuständige Beamte musste keinen Vorgesetzten befragen. Er war für eine einzige Person zuständig: Bin Laden. Dadurch konnte diese Aktion natürlich komplett geleugnet werden. So funktionieren super-geheime Geheimdienstkommandos halt. Aber die Spitzen des ISI wussten davon, wurde mir erzählt."
    Insiderquellen und Hörensagen: Dass sich die Autorin auf beides oft verlassen musste, ist bei diesem Thema verständlich. Dennoch ist die unklare Quellenlage eine Schwäche des Buches. Auch versteift sich Gall etwas zu sehr auf die These, Pakistan wolle aus Furcht vor dem starken Nachbarn Indien partout ein freundliches Regime in Afghanistan durchsetzen und lasse sich daher auf einen Pakt mit militanten Kräften ein.
    Die Komplexität der Region – und das Durcheinander von Religions- und Stammesloyalitäten - lässt sich damit nicht alleine erklären.
    Dennoch bietet Galls Buch einen faszinierenden Einblick in einen düsteren Kriegsschauplatz – und hat in den USA neue Debatten ausgelöst, wie viel Rückzug sich die müde gewordene Supermacht leisten kann. Gall selbst warnt im Schlusskapitel voller Sorge:
    "Militanter Islamismus lässt sich nicht ignorieren. Es bleibt dabei: Pakistan muss seiner Verantwortung als Nuklearmacht und als eines der größten muslimischen Länder der Welt gerecht werden und darf nicht länger Terrorismus und Fanatismus verbreiten. Die USA und seine NATO-Verbündeten dürfen die Region nicht im Stich lassen, bis dies sichergestellt ist."