Donnerstag, 28. März 2024

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Afghanistan
Irdische Kriegshölle für Frauen

Unter der russischen Besatzung ging es den Frauen in Afghanistan vergleichsweise gut. Mit den Mudschaheddin und den Taliban wurde Afghanistan zum Kriegsgebiet und zur irdischen Hölle für sehr viele Frauen: Viele begehen Selbstmord und damit eine große Sünde im Islam.

Von Sabina Matthay | 08.03.2014
    Ein Friedhof wenige Kilometer vor Mazar-e-Sharif. Ein paar Jungen spielen in der schlammigen Einöde, weit weg von der Hektik der nordafghanischen Provinzhauptstadt. Und weit weg auch vom Elternhaus der Schwestern Fariba und Nabila, die hier beerdigt sind.
    Die Gräber der beiden Studentinnen sind mit Pflöcken und Feldsteinen markiert, keine Tafel mit Inschrift erinnert an die Mädchen.
    Die beiden haben Selbstmord begangen, und das ist eine große Sünde im Islam, erklärt der Journalist Bashir Ansari, der den Fall recherchiert hat.
    Die Töchter aus wohlhabendem Hause schienen vom Glück begünstigt: jung, hübsch und gebildet, verkörperten sie die Fortschritte, die Afghaninnen seit dem Sturz des Taliban-Regimes gemacht haben.
    Strenger Moralkodex der konservativen afghanischen Gesellschaft
    Doch dann verliebte sich Nabila, erzählt Bashir Ansari. Eine Beziehung zu einem Mann eigener Wahl einzugehen, verstößt eklatant gegen den strengen Moralkodex der konservativen afghanischen Gesellschaft und beschädigt die Familienehre. Fariba, die ältere, versuchte, die Abiturientin zum Abbruch des Verhältnisses zu bewegen.
    Der heftige Streit endete mit dem Tod der Schwestern: Kurz nacheinander schluckten sie Rattengift.
    Selbstmord mit Rattengift
    Rattengift ist frei erhältlich, sagt Mohammad Reza, dessen Drogerie in der Stadtmitte von Mazar-e-Sharif liegt. An Frauen und Mädchen verkaufe er aber nicht mehr, behauptet der Drogist. - Längst ist in Mazar-e-Sharif und Umgebung von einer Selbstmordwelle unter jungen Frauen die Rede. Daran will Reza nicht Schuld sein.
    Wie viele Frauen sich hier im letzten Jahr das Leben genommen haben, ist nicht genau zu erfahren. Oft vertuschten Familien einen Selbstmord wegen des damit verbundenen Stigmas, sagen die Ärzte am Regionalkrankenhaus. Doch die Mediziner sind sich einig, dass die Zahl eklatant gestiegen ist.
    Manchmal wird alle paar Tage eine Selbstmordkandidatin eingeliefert, dann wieder sind es mehrere auf einmal, vor allem junge Frauen, berichtet Doktor Noor Mohammad Faizi, der Leiter der Klinik.
    Gelangen sie schnell genug ins Krankenhaus, können die meisten Frauen nach Faizis Worten aber gerettet werden. So wie Khatera:
    Die 28-jährige ist vor drei Tagen der Magen ausgepumpt worden. Jetzt hält ihre Mutter ihre Hand, der jüngste Sohn spielt am Krankenbett.
    Die Mutter von sechs Kindern hat nicht zum ersten Mal versucht, sich das Leben zu nehmen.
    Manchmal überkommt mich einfach die Verzweiflung, sagt sie.
    Zwangsheiraten gelten als Hauptgrund der Selbstmordwelle
    Khateras Lebensgeschichte verweist auf einen mutmaßlichen Hauptgrund dieser Selbstmordwelle: Mit knapp siebzehn zwang die Familie sie zur Heirat mit einem sehr viel älteren Mann. Eine Ehe, die Khatera nicht wollte, sechs Kinder, die sie überfordern. Ein selbstbestimmtes Leben war ausgeschlossen. Depressionen waren die Folge.
    Balkh ist nicht nur sicherer und wohlhabender als viele andere afghanischen Provinzen, auch die Lage der Frauen sei hier besser als anderswo, unterstreicht Maryam Moradi, die Frauenbeauftragte der Regionalregierung:
    Knapp die Hälfte der Mädchen besucht die Schule, an den Universitäten der Region stellen sie rund 40 Prozent, viel mehr als im afghanischen Durchschnitt. Deshalb sind auch sehr viele Frauen berufstätig.
    Viele Frauen sind berufstätig
    In Mazar-e-Sharif besuchen junge Männer und Frauen gemeinsam Vorlesungen, sie können sich manchmal auch in gemischten Gruppen treffen. Internet und Mobiltelefonie erleichtern den Kontakt. In anderen Teilen Afghanistans ist ein solches Aufweichen der Geschlechtertrennung undenkbar.
    Doch die unerbittlichen Regeln des Patriarchats gelten im Endeffekt auch hier, sagt Qazi Said Same, Leiter der Menschenrechtskommission in Balkh.
    "Wenn die Mädchen ein bestimmtes Alter erreichen, dürfen sie nicht mehr über ihre Zukunft mitreden. Das ist für viele sehr schwierig."
    Neben Zwangsheiraten ist es das Verbot, die Ausbildung fortzusetzen, das junge Frauen nach Sames Beobachtung verzweifeln lässt.
    Von Familienoberhäuptern arrangiert
    Auch in Balkh werden fast alle Ehen noch von den Familienoberhäuptern arrangiert. Die meisten Väter glaubten eben nach wie vor, dass es völlig in Ordnung sei, ihre Töchter gegen deren Willen zu verheiraten, sagt Heather Barr von der Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch. Von einem Verfahren wegen Zwangsheirat hat Barr noch nie gehört. Dabei ist die Praxis gesetzlich ausdrücklich verboten.
    So sind afghanische Frauen auch im scheinbar liberalen Norden, selbst angesichts einer Rechtslage, die ihnen Selbstbestimmung garantieren soll, ihren Familien immer noch völlig ausgeliefert.
    Das Erwachen aus dem Traum von der persönlichen Freiheit kann schmerzhaft sein. Manchmal ist es offenbar so unerträglich, dass nur noch der Tod erstrebenswert erscheint.