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Afghanistans bekannteste Radioshow
Politiker stellen sich Hörerfragen

Lange hatte die afghanische Bevölkerung keine eigene Stimme, sagt Radiomoderator Masoud Sanjer. Nach Ende der Taliban-Herrschaft ging er mit einer Live-Show auf Sendung, in der Anrufer Missstände anprangern und Verantwortliche antworten können. Mit Erfolg - doch zu einem hohen Preis.

Von Silke Diettrich | 28.04.2018
    Masoud Sanjer (l.) und Humayun Danishyar, die beiden Moderatoren der Morgensendung auf Arman FM
    Masoud Sanjer und Humayun Danishyar, die beiden Moderatoren der Morgensendung auf Arman FM (Deutschlandradio / Silke Diettrich)
    Im Radiostudio brummen die Handys und Telefone neben den Mikrofonen. Um die 1000 Hörer melden sich jeden Tag, sprich, mehr als 1000 Probleme landen bei der Sendung "Safaye Shaher", auf Deutsch übersetzt heißt die Show: Räum' deine Stadt auf.
    In einem Land wie Afghanistan wisse man oft gar nicht, wo man da eigentlich anfangen sollte, sagt Masoud Sanjer, er ist einer der beiden Moderatoren der Frühsendung:
    "Unser Erfolgsrezept ist, das wir den Dingen nachgehen. Die Regierung nimmt viele Probleme der Leute nicht ernst. Aber wir bleiben dran, helfen bei der Lösung und die Leute sehen, dass sich etwas ändert, jeden Tag!"
    Und das seit 15 Jahren. Nach dem Talibanregime Anfang 2000 ging die Sendung on Air, im ersten privaten Radiosender Afghanistans, bei Arman FM. Die Idee war tatsächlich, die Stadt Kabul aufzuräumen.
    "Aber im Laufe der Zeit wurde uns klar, dass wir viel mehr bewegen können", erzählt Sanjer. "Und jetzt ist unsere Sendung die bekannteste im ganzen Land."
    Der Polizeichef verspricht on air, dass er sich kümmern will
    Heute ist der Polizeichef von Kabul zu Gast, die Hörer grillen ihn mit Fragen:
    "Ich stehe hier mal wieder mitten in der Stadt im Stau", erzählt dieser Einwohner von Kabul. "Weil ihr hier ständig alles absperrt, weil es wieder eine Sicherheitswarnung gegeben hat. Wann denkt ihr mal an die kleinen Leute, die hier jeden Morgen zur Arbeit müssen?"
    Der Polizeichef windet sich ein wenig und verspricht am Ende, er werde sich darum kümmern. Aber er allein werde bei diesem Problem wohl nicht viel ausrichten können, sagt Sanjer:
    "Politiker und Menschen mit viel Geld werden in diesem Land von einem großen Konvoi mit Sicherheitsleuten begleitet, egal wo sie hinfahren, und sie verstecken sich hinter Betonmauern. Dadurch gibt es einen großen Spalt zwischen den Bürgern und den Leuten aus der Regierung."
    Die Elite schirmt sich ab. Vor den Häusern der Regierungsbeamten oder einflussreichen Kriegsfürsten in Kabul gibt es immer mehr Checkpoints mit Schranken und Betonpfeilern.
    "Wir nehmen jeden Tag einen anderen Weg zur Arbeit"
    Seitdem die meisten internationalen Truppen vor drei Jahren aus Afghanistan abgezogen sind, drehe sich in der Sendung fast alles nur noch um das Thema Sicherheit. Alleine in der Stadt Kabul gab es im vergangenen Jahr mehr als zwanzig große Anschläge, fast 500 Menschen sind dabei gestorben. Auch die Journalisten im Land sind gefährdet:
    "Es gibt viele Drohungen gegen uns", erzählt Sanjer. Die kämen von allen Seiten, von Kriegsfürsten, Extremisten aber auch manchmal von der Regierungsseite.
    "Wir nehmen jeden Tag einen anderen Weg zur Arbeit, manchmal habe ich einen Bodyguard dabei. Wie lange wir das hier noch machen können? Ich hab keine Ahnung!"
    Transparenz, hergestellt von Arman FM: Der Polizeichef setzt sich ins Studio und nimmt live Stellung zu den Beschwerden der Anrufer
    Transparenz, hergestellt von Arman FM: Der Polizeichef setzt sich ins Studio und nimmt live Stellung zu den Beschwerden der Anrufer (Deutschlandradio / Silke Diettrich)
    Sanjers Familie lebt mittlerweile in Istanbul. Eine Woche im Monat ist der Moderator dort, dann schaltet er sich aus der Türkei in die Sendung dazu. Ans Aufhören denkt hier aber niemand aus dem Morgenshow-Team. Fast Tag und Nacht beschäftigen sich um die zehn Leute mit den Problemen der Anrufer.
    Live beim Polizeichef anrufen und nachfragen
    Gerade hat ein Mann aus der umkämpften Provinz Baghlan angerufen, die Polizei hätte dort einfach sein Haus besetzt, er zahle Miete und könne seit über einem halben Jahr nicht mehr dort wohnen. Sanjer ruft live in der Sendung beim Polizeichef von Baghlan an.
    Der Polizeichef sagt, die Gegend habe geräumt werden müssen, weil sie umkämpft sei. Zur Not werde er eben aus seiner eigenen Tasche die Miete zurückzahlen.
    Das lassen die Moderatoren nicht lange auf sich sitzen. Wie viel er denn verdiene, wenn er das so locker anbieten könne und ob es denn überhaupt rechtens sei, dass die Polizei einfach ein Haus besetze?
    Das ist eine der Stärken der Show, das Radioteam versucht nicht nur, die Probleme der Leute zu lösen, sie machen das auch extrem unterhaltsam.
    Als ein Regierungsbeamter nicht ans Telefon gegangen ist, haben die beiden gescherzt, er sei wohl zurückgetreten. Keine fünf Minuten später hat sich der Beamte in der Sendung gemeldet.
    "Die Leute hatten so lange keine eigene Stimme"
    "Die Beamten haben keine Angst vor uns", sagt, Sanjer, "sie haben Angst vor den Leuten. Die Leute geben uns Macht und wir wiederum verleihen ihnen Macht. Also helfen wir uns gegenseitig, um stark genug zu sein in einem Land wie Afghanistan, um gemeinsam unsere Stimmen zu erheben."

    Eine derart freie Presse kannten die Afghanen vor dem Fall der Taliban noch nicht, sagt Sanjer.
    "Die Leute lieben das, in einem Land wie Afghanistan, wo es so viele Diktaturen gegeben hat und auch Zensur, da ist das großartig für die Menschen, die hatten so lange Zeit keine eigene Stimme. Wir sind schon so weit, dass wir Scherze über die Taliban machen."
    Die beiden Radiomoderatoren würden lieber heute als morgen ihren Job an den Nagel hängen, denn das würde bedeuten, die Regierung und deren Beamten könnten die Probleme der Bevölkerung ohne weiteren Druck selber lösen. Aber bis das jemals der Fall sei, sagt Sanjer, würde das gesamte Team der Show definitv noch da bleiben.