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Aggression
Der Psychopath in uns

Warum handeln manche Menschen aggressiver als andere? In gewisser Weise sind alle Menschen psychopathisch, sagt Konrad Lorenz in seinem Buch "Das sogenannte Böse". Seine Begründung: Das Gemeinwohl verlange einen Triebverzicht, unter dem sie grundsätzlich leiden würden.

Von Martin Winkelheide | 25.03.2014
    Wenn ein Löwe ein Gnu schlägt, ist das kein Kampf im eigentlichen Sinne, schreibt Konrad Lorenz in "Das sogenannte Böse":
    "Zwar mag das Zuschlagen der Tatze, mit dem der Löwe seine Beute ergreift, in seiner Bewegungsform derjenigen gleichen, mit der er seinem Nebenbuhler eins auswischt. Aber die inneren Beweggründe des Jägers sind von denen des Kämpfers grundverschieden."
    Das Gnu, das der Löwe niederschlägt, ruft nicht dessen Aggression hervor. Aggression richtet sich gegen den Artgenossen und hat in der Natur viele Funktionen: um Weibchen zu konkurrieren, das Revier zu verteidigen oder die Rangordnung zu bestimmen. Oft laufen die Kämpfe nach festen Mustern ab, sie sind selten darauf ausgerichtet, den Gegner zu beschädigen oder gar zu töten. Unterwürfigkeitsgesten des Unterlegenen etwa lösen beim Sieger eine Beißhemmung aus.
    Der Mensch, er ist auch ein Tier. Aber ist er dem anderen Menschen ein Wolf?
    Leider nicht, meint Konrad Lorenz. Es sei tief beklagenswert, dass der Mensch eben keine "Raubtiernatur" habe.
    "Ein Großteil der Gefahren, die ihn bedrohen, kommen daher, dass er von Natur aus ein relativ harmloser Allesfresser ist, dem natürliche, am Körper gewachsene Waffen fehlen, mit denen er größere Tiere töten könnte, denn eben deshalb fehlen ihm auch jene stammesgeschichtlich entstandenen Sicherheitsmechanismen, die alle "berufsmäßigen" Raubtiere daran verhindern, ihre Fähigkeiten zum Töten großer Tiere gegen Artgenossen zu missbrauchen."
    Es wird immer schwieriger, aggressive Triebe abzureagieren
    Aggression ist ein Teil der menschlichen Natur. Dies zu verleugnen, so Lorenz, macht keinen Sinn. Dennoch ist es möglich, Aggressionen in Bahnen zu lenken, sie zu minimieren oder von vornherein gar nicht erst aufkommen zulassen. Rituale gehören dazu, Konventionen - wie Höflichkeit - Gebote, deren Übertretung bestraft wird. Vernunft.
    Verhaltensbiologen haben in den letzten Jahrzehnten diese Liste weiter vervollständigt: Teilen, Kooperieren, mit Artgenossen mitzufühlen. All das wirkt ebenso aggressionshemmend. Und ein ausgeprägtes Gerechtigkeitsempfinden, das die Forscher dem Menschen und zahlreichen Tierarten attestieren.
    Moderne komplexe Gesellschaften haben ein Problem, sagt Lorenz: Es wird immer schwieriger, aggressive Triebe abzureagieren. Gleichzeitig werden die Ansprüche, dass wir uns sozial verhalten, immer größer:
    "Wir sollen unseren "Nächsten" so behandeln, als wäre er unser bester Freund, obwohl wir ihn vielleicht nie gesehen haben."
    Und weiter heißt es:
    "Wir alle leiden unter der Notwendigkeit, unsere Triebe beherrschen zu müssen, der eine mehr, der andere weniger. Nach einer guten alten psychiatrischen Definition ist ein Psychopath ein Mensch, der unter den Anforderungen die von der Sozietät an ihn gestellt werden, entweder selbst leidet oder aber seinerseits die Sozietät leiden macht."
    In gewissem Sinne, so Lorenz sind wir alle Psychopathen, denn jeder von uns leidet unter den Triebverzichten, die das Gemeinwohl von ihm fordert.