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Ai Weiwei in Berlin und Liao Yiwu
Dissidenten diskutieren

Erstmals seit seiner Verhaftung vor vier Jahren hat sich der chinesische Künstler Ai Weiwei auf einer öffentlichen Bühne in Berlin geäußert, gemeinsam mit dem Schriftsteller Liao Yiwu. Während seines Auftritts in der Philharmonie nahm Ai Weiwei auch zu seinen umstrittenen Äußerungen in einem Zeitungsinterview Stellung.

Von Verena Kemna | 03.09.2015
    Der chinesische Künstler Ai Weiwei in seinem Atelier in Berlin
    Der chinesische Künstler Ai Weiwei (dpa / picture alliance / Michael Kappeler)
    Der zierliche Mann mit Glatze, 58 Jahre alt, ist lässig gekleidet in weite blaue Hosen und T-Shirt. Er hat eine Flöte und ein Zupfinstrument mitgebracht. Es ist ihm wichtig, für den Aktivisten und befreundeten Schriftsteller Li Bifeng zu spielen, der wegen angeblichen Betrugs in China zu einer langjährigen Gefängnisstrafe verurteilt wurde.
    Liao Yiwu sitzt entspannt in einem Sessel mitten auf der Bühne. Neben ihm Ai Weiwei, 57 Jahre alt. Der Dissident mit dem runden freundlichen Gesicht trägt Schlabberhosen und ein olivgrünes Knitterhemd.
    Gespräch auf Augenhöhe
    Schnell wird an diesem Abend klar, dass Liao Yiwu die Rolle des Interviewers übernimmt. Er, der die Berichte von Zeitzeugen des Massakers auf dem Platz des Himmlischen Friedens festgehalten hat, der dafür bekannt ist, dass er sich für die Menschen am unteren Rand der Gesellschaft interessiert, befragt den vielseitigen Künstler Ai Weiwei. Es ist ein Gespräch auf Augenhöhe. Es beginnt mit Apfelkernen, die als Symbol für die Heimat China stehen. Apfelkerne, bei denen Liao Yiwu ans Ausspucken denkt, Ai Weiwei dagegen assoziiert den Begriff Heimat mit Seil, mit Wasserfläche und mit Mauern.
    Dann kommen beide auf die Geschichte der Volksrepublik zu sprechen. Dazu Liao Yiwu: Wer über Geschichte spricht, endet in China im Exil oder im Gefängnis. Im Verlauf des Gesprächs wird der Abend zu einer intimen Runde vor über 1.000 Besuchern, die das Gefühl bekommen, als wären sie bei den beiden Künstlern zuhause eingeladen.
    Kritisches Nachfragen
    Mit einem Grinsen im Gesicht gibt Ai Weiwei die Bühne frei für eine Frage, die Liao Yiwu ihm eigentlich gar nicht stellen wollte.
    "Hast du nicht den Medien gesagt, ein paar Rechtsanwälte zu verhaften wäre keine große Sache? Hast du das etwa ironisch gemeint?"
    Es ist eine Anspielung auf ein umstrittenes Zeitungsinterview, eines von vielen, die Ai Weiwei in den kurzen vier Wochen seit seiner Ankunft in Berlin gegeben hat. Seine Antwort hatte für einigen Aufruhr gesorgt. Auf die Frage zur Verhaftung von Rechtsanwälten in China wurde Ai Weiwei mit den Worten zitiert: "Ein paar Leute festzunehmen, sei doch keine große Sache. Es gäbe viel Schlimmeres."
    An diesem Abend in der Philharmonie erklärt er, dass seine Äußerung aus dem Zusammenhang gerissen worden sei. Ai Weiwei verweist auf den historischen Kontext. Immer wieder habe es in China seit 1949 politische Kampagnen gegeben. So seien während der Kulturrevolution Millionen Menschen verhaftet und getötet worden.
    "Vor dem Hintergrund der chinesischen Geschichte ist die Verhaftung tatsächlich kein großes Thema. Bei der Kulturrevolution hat Niemand nach Einzelschicksalen gefragt."
    Natürlich sei er bewegt, zwei der festgenommenen Rechtsanwälte hätten schließlich auch für ihn gearbeitet. In China gebe es heute zwar auf dem Papier ein Rechtssystem, aber keine rechtsstaatlichen Verhältnisse. In einem zentralistischen Regime fühlten sich die Menschen ohne Kraft und ohne Macht. Ai Weiwei erinnert sich an seine Angst, die er empfand, als er vor vier Jahren 81 Tage lang eingesperrt war, ohne Kontakt zur Außenwelt.
    "Wer in einer Diktatur lebt, hat Angst, dass er seine Freude nicht ausdrücken kann, sich nicht beweisen kann, sich nicht zeigen kann. "
    Ein System der Angst
    Ai Weiwei spricht über den Begriff Freiheit als eine sehr persönlich erlebte Erfahrung. Für den Exilschriftsteller Liao Yiwu dagegen sind Kunst und Literatur Möglichkeiten des Widerstands und damit ein Weg zur Freiheit. Noch einmal spannend wird es beim Thema Zensur in der Volksrepublik. Die Zensur ist allgegenwärtig, erklärt Ai Weiwei.
    "Wer sich als Individuum verhält, wird bestraft. Dieses System hat in China in den 40er-Jahren begonnen. Während der Kulturrevolution sind so Millionen für ihre Persönlichkeit bestraft worden.
    Ein solches System führt dazu, dass die Menschen es verlernen, selbständig und frei zu denken. Das ist für die Nation eine große Tragik. Jeder vermeintliche Fortschritt in China wird dadurch hinfällig. "