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Aix-en-Provence
Opernfestival unter neuer Leitung

Das Festival d'Aix-en-Provence versteht sich als Schaufenster für den französischen Opern- und Konzert-Betrieb. In diesem Jahr fand es unter der Leitung eines neuen Festivalintendanten statt: Pierre Audi will vor allem Künstler und Arbeiten zeigen, die man in Frankreich noch nicht kennt.

Von Frieder Reininghaus | 08.07.2019
    Kurt Weills "Aufstieg und Fall der Stadt Mahagony" in der Inszenierung von Ivo Van Hove im Rahmen des Festival d'Aix 2019
    Kurt Weills "Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny" in der Inszenierung von Ivo Van Hove im Rahmen des Festival d'Aix 2019 (picture alliance/Serge Mercier/MAXPPP/dpa)
    An den Anfang des Festivals in Aix stellte dessen neuer Direktor Pierre Audi zwei gegenläufige Modelle des Umgangs mit musikalischer Historizität, Modelle, die zugleich menschliche, kulturelle, ja: überhaupt irdische Vergänglichkeit reflektieren. Romeo Castellucci machte den Anfang mit Mozarts Requiem und Christophe Honoré widmete sich dem Altern einer Primadonna anhand von Puccinis "Tosca".
    Christoph Honoré inszeniert Puccinis "Tosca"
    Die Geschichte der Floria Tosca aus der Zeit der napoleonischen Kriege und der rasch niedergeschlagenen ersten römischen Republik der Neuzeit wurde in die luxuriöse Wohnung einer in Ehren ergrauten Star-Sopranistin verschoben. Zwischen Schwarz-Weiß-Fotos und vielerlei anderen Reliquien erinnert sich Catherine Malfitano an ihre großen Auftritte, auch mit Placido Domingo und vielen anderen Sängergrößen des 20. Jahrhunderts. Bei ihrer Erinnerungsarbeit wird sie von zwei Kamerateams beobachtet: Immer wieder rekapituliert sie Passagen aus "Tosca" mit Kollegen. Vornan mit der jungen Angel Blue. Nach wenigen von Malfitano markierten Tönen steigt sie in die Partie der Sängerin Floria Tosca ein, in die Liebesgeschichte mit dem Maler Cavaradossi.
    In den hinteren Räumen des Domizils der Diva wird sie vom Polizeiminister Scarpia erpresst und sexuell genötigt und dort ersticht sie auch den Machthaber im Notwehrexzess. Christophe Honoré, ein Romancier und vielseitiger Kulturschaffender, hat eine im deutschen Staats- und Stadttheater längst bewährte Technik der "Musealisierung" eines Historien-Stücks mit Geschick adaptiert. Sie bringt Madame Malfitano nochmals groß heraus. Von ihren viel gerühmten Auftritten ist zwar nicht viel Stimme übriggeblieben, aber ein grandioses Augenrollen. Überhaupt eine in Großaufnahmen immer wieder sehenswerte Mimik.
    Zur Eröffnung des Festivals in Aix-en-Provence begann eine Solostimme den zum Auditorium umgewidmeten Hof der Archevêché zu erfüllen. Sie intonierte, bald unterstützt vom Chor, ein mittelalterliches Graduale als Einstimmung auf das Requiem von Mozart, Franz Xaver Süßmayr und möglicherweise Joseph Eybler. Das wurde abendfüllend angereichert mit manchem früheren Kirchen-Stück, mit Maurerischer Trauermusik und Knabensopransolo. Das historisch informierte Orchester Pygmalion aus Bordeaux war ein eher bemühter als wirkungsmächtiger Sachwalter der Melange. Der Chor hingegen war den sängerischen und choreografischen Herausforderungen vollauf gewachsen.
    Romeo Castellucci, gegenwärtig in den Opern-Rankings ganz vorn, bebilderte und kommentierte auf mehreren Ebenen. Den Fluss der Musik begleitete eine männerlose Familie weißgekleideter Frauen – vier Generationen zelebrieren Leben und Sterben. Schrifteinblendungen auf der Bühnenrückwand verwiesen auf vieles, was in der Erdgeschichte auftauchte und wieder verschwand - oder ausgelöscht wurde: Die Saurier, die Mammuts und viele andere Tier- und Pflanzensorten, menschliche Arten und Völker wie die Neandertaler, die Etrusker oder Appalachen; auch Bau- und Kunstwerke, Städte, Sprachen, Religionen …
    Große Beschaulichkeit stellte sich auch durch mannigfache Zitate aus schönen Bildern von Lukas Cranach, Dürer und Botticelli ein - beziehungsweise durch prächtige balkanfolkloristische oder fernöstliche Kostüme. Angesichts Castelluccis neuer Begeisterung für gesellschaftliche Kollektivität durch alte Volkstänze hegten einige Besucher die Befürchtung, dieser Regisseur wäre empfindlich und empfänglich für totalitäre Gesinnungen und Sportarten. Es lässt sich freilich ebenso vermuten, dass ihn der Originalitätszwang in die Mottenkiste des Völkischen greifen ließ. Ein grandioser Effekt gelang ihm jedenfalls mit einem Erdrutsch- oder Lawinenbild, das sich durch das Aufrichten des vielschichtig präparierten Bodens zur senkrechten Wand herstellte: eine starke Chiffre für "Auslöschung".
    Kammeroper "Les mille endormis"
    Die Frage des Verschwindens bzw. Verschwindenlassens aus der Geschichte spielt auch eine Schlüsselrolle in der Kammeroper "Les mille endormis", mit der Adam Maor beauftragt wurde. Im Théâtre du Jeu de Paume ging es um die Behandlung von hungerstreikenden palästinensischen Gefangenen durch die israelische Regierung und insbesondere um psychophysische Kräfte aus dem Arsenal der Science Fiction-Literatur. Das enthebt die nahöstlichen Probleme ihrer Erdenschwere und blutigen Realitäten.
    Pierre Audi verspricht, die berufliche Erfahrung der letzten 30 Jahre einzubringen und gleichzeitig neue Dinge zu lernen, insbesondere will er bei dem von ihm kuratierten Festival Künstler und Arbeiten zeigen, die man in Frankreich noch nicht kennt. Das mag selbst für Andrea Breth zutreffen. Ihre expressionistisch leidensstrotzende Inszenierung von Wolfgang Rihms Kammeroper "Jakob Lenz", die auch schon in Stuttgart, Berlin und Brüssel gezeigt wurde, hat nun zur Premiere in Aix das Grand Théâtre zur guten Hälfte gefüllt.
    Ebenfalls dort setzte Ivo van Hove den "Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny" steril modernistisch in Szene. Esa-Pekka Salonen veranlasste das Philharmonia Orchestra London zu einer stark sinfonisch motorisierten Interpretation. Das Trio der Stadtbetreiber um die Sopranistin Karita Mattila war diesem Ansturm so wenig gewachsen wie den aktuellen Herausforderungen des Kapitalismus. Den Schluss der Produktion machte eine "confusion génerale": ein filmisch überhöhter Aufruhr der Gelbwesten.