Freitag, 29. März 2024

Archiv

Aksel Sandemose: "Ein Flüchtling kreuzt seine Spur"
Das Gesetz von Jante

Mit dem fiktiven "Gesetz von Jante" hat der 1899 geborene Wahlnorweger Aksel Sandemose einen stehenden Begriff für kleingeistige Sozialkontrolle geschaffen. Sein autobiografischer Anti-Roman ist nun endlich in neuer Übersetzung erschienen - eine provokative Abrechnung mit den Herkunftsverhältnissen.

Von Dorothea Dieckmann | 17.01.2020
Aksel Sandemose und sein Buch „Ein Flüchtling kreuzt seine Spur“
Einen Befreiungsschlag gegen einen schleichenden Unterdrückungsmechanismus hat Aksel Sandemose geschrieben (Foto: Guggolz Verlag / Berndt Klyvare, Buchcover: Guggolz Verlag)
Wie kommt es, dass einer der spektakulärsten norwegischen Dichter des letzten Jahrhunderts ein Däne war? Die Rede ist von Axel Nielsen aus dem dänischen Hafenstädtchen Nykøbing, der als junger Mann den Namen, das Land und die Sprache wechselte. Er floh früh von zu Hause und fuhr zur See, bis er sich, nun unter dem Namen Aksel Sandemose, als Autor in Kopenhagen durchschlug. Mit Dreißig zog er nach Oslo und schrieb nach eigener Aussage innerhalb von drei Monaten über tausend Seiten, aus denen sein berühmtestes Buch werden sollte: "Ein Flüchtling kreuzt seine Spur." Das offen autobiographische Werk enthält zwei Hauptfiguren unter zwei Decknamen: das erzählende Ich namens Espen Arnakke und die Stadt seiner Herkunft, genannt Jante. Fünfundzwanzig Jahre später rekapituliert Sandemose:
"(...) seit dem Tod meiner Eltern [waren] einige Jahre vergangen. Trotz aller (...) scheinbaren Emanzipation hatte ich in ihrem Schatten und in dem meiner Herkunft gelebt. Das bedeutet nun wiederum: im Schatten des Gesetzes von Jante. Die Scham und die Bescheidenheit, die (...) einen Menschen dazu bringen, sich (...) auf allerlei verblümte Weise auszudrücken, und zwar am liebsten mit einer dicken Glaswand zwischen den Wörtern und der Wirklichkeit dieser Wörter, verließen mich, als die Alten nicht mehr da waren. Hier liegt auch einer der Gründe, warum ich Norweger wurde (...). Auch wenn das Gesetz von Jante hoffnungslos universal ist (...), so war für mich die Sprache von Jante (...) zu der Stimme des Jantegottes geworden, der sich weigerte, sich von einem Luzifer benutzen zu lassen."
Denunziation, Heuchelei, Anpassungsdruck
Diese Sätze stehen im Vorwort zu einer späteren Version des revolutionären Werks, das Sandemose 1933 zum Durchbruch verholfen hatte. Das "Gesetz von Jante", in Skandinavien bis heute eine Chiffre für soziale Kontrolle, Denunziation, Heuchelei und Anpassungsdruck, ist die Essenz seiner Abrechnung mit dem lebensfeindlichen Milieu seiner Heimatstadt. Wütend pflückt der Autor die in der provinziellen Enge, Bigotterie und Kleingeistigkeit gereiften Früchte des Zorns. Damit gehört er in die Reihe männlicher, zwischen Jahrhundertwende und erstem Weltkrieg aufgewachsener Autoren wie Hermann Hesse oder Franz Kafka, die ihre frühen Beschädigungen im Licht – oder im Schatten – von Psychoanalyse und Sozialpsychologie reflektierten. Doch die Veröffentlichung brachte keine Ruhe in den Prozess der Aufarbeitung. Jahrzehntelang häuften sich weitere Notizen und Entwürfe, bis 1955 die neue Fassung erschien. Der Text beginnt mit einem alarmierenden Geständnis:
"Jetzt will ich alles erzählen. Und ich muss mit dem Ende anfangen. Sonst würde ich mich niemals bis dahin vorwagen.
Ich habe einmal einen Menschen getötet. Er hieß John Wakefield, und ich habe ihn eines Nachts vor siebzehn Jahren in Misery Harbor ermordet. (...) Ich habe das Geschehene niemals überwunden."
Düsteres Bild eines perfiden Machtapparats
Nach diesem ersten grellen Blitz flackern nur noch Andeutungen an die Tat wie Glühwürmchen im Dunkel des sechshundertseitigen Monologs. Aufklärung erhält der Leser ebenso wenig wie jene Zeitgenossen, die rätselten, ob Sandemose selbst als Jugendlicher im fernen Kanada einen Holzfällerkollegen erstochen habe. Auch wenn der Mord wohl nicht wahr ist, so ist er doch gezielt eingesetzt, denn er gibt den Paukenschlag zu einer dissonanten, brüchigen Sinfonie über das System des "Janteismus" in der Kleinstadt mit ihrer idyllischen Lage am Meer, ihrer Fabrik, ihren arbeitsamen Bewohnern und dem Märchenland unter den Wacholderbüschen. Früh wird der Einzelne auf das kollektive Wir eingenordet und das Zusammenleben mit dem Gift des Verdachts durchsetzt. Jeder denkt vom anderen, er wisse mehr über ihn, als er selbst von sich weiß, jeder kann Zeuge der Anklage sein, alle sind sowohl Jäger als auch Gejagte. Diesen perfiden Machtapparat schildert der Erzähler Espen Arnakke in drastischen Reflexionen und unzähligen Einzelszenen entlang der Biografie des Autors. So entsteht ein düster facettiertes Bild davon, wie die Seelen der Heranwachsenden mit einer tiefen Angst vor Abweichung infiziert werden, bis sie selbst zu Akteuren der alltäglichen Diktatur werden. Einer ist des anderen Aufseher:
"Das war die Jantetechnik, der wir schon als kleine Kinder ausgesetzt waren. Wir neuen Janten wuchsen heran, gründeten Familien, und die Mühle mahlte andere Janten zurecht (...), dazu geschaffen, alle anderen kleinzuhalten. (...) Die Lösung, Sklaven und Unterdrücker in ein und derselben Person heranzuziehen, war genial als selbstverwirklichende Unterdrückung. (...) Man hat die Sklaven mit Hilfe von Schule und Kirche mit Sündenbewusstsein infiziert. Für den Terror sorgen sie dann von allein."
Dass Aksel Sandemoses Alter Ego versichert, mit seinen Erinnerungen zugleich "über die Kindheit aller Menschen" zu erzählen, macht sein Buch zu jenem skandalösen Stoff, der, nach einer Rezension von 1934, ins Blut gleitet "wie flüssiges Feuer." Doch Sandemose wäre nicht der fulminante Ankläger und Verteidiger in eigener Sache, der Diagnostiker und Sezierer konservativ-provinzieller Verhältnisse, hätte er nicht mit seinem Buch – das keine Gattungsbezeichnung trägt – die Konventionen des Romans weit hinter sich gelassen. Das, was er "Formalismus" nennt, die gewaltsame Zurichtung des einzelnen Lebens, gilt auch für die herrschenden ästhetischen Normen; sie gehörten zu den Fesseln, die er lösen wollte:
"(...) das hier ist kein Roman, und wenn dabei eine Komposition herauskommt, dann habe ich sie nicht angestrebt. (...) Was ich erzähle, ist ein Werkzeug in meiner Hand, um meinen eigenen Kosmos zu erschaffen. Je mehr ich erzähle, umso tiefer versinke ich in mir selbst, und ich kann nicht für alles bürgen, was ich gesagt habe."
Schreiben als Befreiungsakt
So entspinnt sich ein wuchtiger Erinnerungs-Sermon, in dem Jante zur Totenstadt und seine Bewohner zu Gespenstern werden. Obwohl immer wieder ein Du angesprochen wird, weil Sandemose ursprünglich eine Briefform anstrebte, ähnelt der Text dem brüchigen Monolog eines Analysanden auf der Couch eines Psychoanalytikers. Auf sein Werk hat er Freuds Metapher der Archäologie angewandt, und auf diese beruft er sich, wenn er begründet, warum es immer neue Schichten ansetzte. Die assoziative Technik macht das Lesen zu einem so wilden wie anstrengenden Vergnügen. Der urwüchsige Nicht-Roman gleicht einem Befreiungsakt, bei dem den Lesern die gesprengten Fesseln um die Ohren sausen. Wenn die Lektüre wehtut, dann aber vor allem wegen ihrer Hellsichtigkeit. Obwohl inzwischen die Macht von Schule und Kirche gezähmt und Körperstrafen verboten sind, ist das Jantegesetz mitnichten veraltet. Als schleichender Unterdrückungsmechanismus charakterisiert es weniger die alte Disziplinargesellschaft als die "weichen" Machtstrukturen und Verhaltenssteuerungen, wie sie Foucault analysiert hat. Sandemose hat sogar, sicher zum Entsetzen seiner ursprünglichen Landsleute, die heilige Kuh der dänischen Heimvolkshochschulen geschlachtet:
"... die blonde, blauäugige Jugend, über die in den Heimvolkshochschulen gelehrt wird, wird uns niemals zuteil werden. (...) Sie hat niemals woanders gelebt als bloß in halbseniler Lyrik."
Gabriele Haefs hat diesem aufrüttelnden, sperrigen Buch den angemessenen mündlichen Ton gegeben, nachdem die alte Übersetzung von Udo Birckholz laut seiner Kollegin Anni Carlsson "skrupellos mit dem Original" umgegangen war. Haefs berichtet von ihrem Respekt vor der Zumutung des Textes, die sie jedoch bravourös meistert, abgesehen von ungeschickten Formulierungen wie "Auf meiner Route kam ich vorbei bei Gebrauchtwarenhändler Ravn" oder "er maß wenig weniger als einen Fuß." Ihrer Übertragung verdanken wir Sätze wie jene über die kindliche Versagensangst, die man allen Eltern ins Stammbuch schreiben sollte:
"Was stimmt denn nicht mit mir? Was habe ich getan? (...) Das Kind hat nur die Sünde begangen, sich nicht mit drei Jahren fertigmontiert aus einer Maschine ausspucken zu lassen."
Aksel Sandemose: "Ein Flüchtling kreuzt seine Spur".
Aus dem Norwegischen von Gabriele Haefs.
Guggolz Verlag, Berlin.
608 Seiten, 28.- Euro.