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Aktionskunst in Paris
Sex-Video gegen Scheinheiligkeit

Der russische Künstler Pjotr Pawlenski steht für drastische Aktionen: Aus Solidarität mit der Band "Pussy Riot" nähte er sich den Mund zu. Jetzt hat er mit einem Masturbationsvideo einen Pariser Bürgermeisterkandidaten zu Fall gebracht. Ob die Aktion Kunst ist, fragt in Frankreich aber keiner.

Von Jürgen König | 17.02.2020
Der russische Performancekünstler Pjotr Pawlenski mit seiner Anwältin in Paris am 10.01.2019
Den Pariser Behörden bekannt: Der russische Performancekünstler Pjotr Pawlenski - hier mit seiner Anwältin (imago stock&people / Aurelien Morissard)
"An der Schlafzimmertür hört alle journalistische Neugier auf." An diesen Grundsatz haben sich alle französischen Medien stets gehalten – auch das Satireblatt "Le Canard enchaîné", das so manchen Skandal in Frankreich aufdeckte. Insofern bedeuten die Umstände, die zum Rücktritt von Benjamin Griveaux geführt haben, für die französische Öffentlichkeit einen nie da gewesenen Bruch mit einem entscheidenden Grundsatz der politischen Kultur des Landes – entsprechend groß ist die Aufregung.
Benjamin Griveaux, Kandidat der Regierungspartei "La République en marche" für das Pariser Bürgermeisteramt, hatte sich erkennbar erschüttert gezeigt, als er am Freitag seinen Rücktritt erklärte.
"Ich bin nicht bereit, meiner Familie und mir das länger zuzumuten – wenn offenbar alle Schläge erlaubt sind. Dies hier geht zu weit. Deshalb habe ich mich entschieden, meine Kandidatur für die Kommunalwahl in Paris zurückzuziehen."
Echtheit des Sex-Videos unklar
Was war geschehen? Am Mittwoch war im Netz ein Video aufgetaucht, das laut Begleittext Benjamin Griveaux beim Masturbieren zeigt. Weiter heißt es, Griveaux habe es selbst gefilmt, um es einer jungen Frau zu schicken, mit der er ein Verhältnis gehabt habe.
Ob das so stimmt, ist nicht mehr nachzuprüfen. Genauere Informationen dazu sind nicht bekannt. Das Video wurde, wie es heißt, inzwischen gelöscht, in den Medien wurde es nie gezeigt. Benjamin Griveaux selbst hat das, was bekannt wurde, nicht dementiert, hat die Echtheit der Aufnahmen aber auch nicht bestätigt.
Bei der Suche nach dem Urheber des Videos fiel schnell der Name Piotr Pawlenski, der umgehend der Zeitung Libération sagte, er habe das Video von einer Frau erhalten, die eine "einvernehmliche Beziehung" mit Griveaux gehabt habe. Er habe das Material auf seiner Website pornopolitique.com veröffentlicht, um "Griveauxs Scheinheiligkeit" zur Schau zu stellen. Griveaux habe in seinem Wahlkampf ständig "die familiären Werte betont", mache aber "genau das Gegenteil". Der Fernsehsender BFM strahlte ein Interview mit Piotr Pawlenski aus, darin sagte er:
"Benjamin Griveaux war ein Kandidat, der seine Wähler belogen hat. Seine Kampagne war eine einzige Lüge. Was wäre passiert, wenn so jemand Bürgermeister von Paris geworden wäre!"
Gegen die Scheinheiligkeit
Pawlenskis Vorwurf der "Scheinheiligkeit" bezieht sich auf den Wahlkampf von Benjamin Griveaux, der verheiratet und Vater zweier kleiner Kinder ist und sich immer wieder als fürsorglicher Familienvater präsentierte - vielleicht auch, um dem Bild des arroganten, kaltherzigen Politikers, das ihm in der Öffentlichkeit überwiegend anheftet, entgegenzuwirken.
Der Aktionskünstler Piotr Pawlenski, der sich einst in Russland aus Solidarität mit den verfolgten Mitgliedern der Rockband Pussy Riot den Mund zunähte, ist für die französischen Behörden kein Unbekannter. Im Januar 2017 hatte er in Frankreich politisches Asyl erhalten, im Oktober desselben Jahres versuchte er in Paris, die Fassade der "Banque de France" anzuzünden - nach eigener Darstellung aus Protest gegen "ihre Rolle in der Geschichte".
Der Anschlag verlief glimpflich, dennoch kam Pawlenski erst in eine psychiatrische Klinik, dann in Untersuchungshaft. Im Januar 2019 wurde er zu drei Jahren Haft verurteilt, von denen zwei zur Bewährung ausgesetzt wurden.
Spekulationen und Mutmaßungen
Wegen des veröffentlichten Videos wurden Pawlenski und "eine Begleiterin", deren Name mit Alexandra de Taddeo angegeben wird, noch am Wochenende in Polizeigewahrsam genommen. Seitdem werden sie verhört, offizielle Mitteilungen dazu gibt es noch nicht.
Die Frage, ob es sich bei der Aktion um Kunst handelt, stellt in Paris niemand: Wegen "Verletzung der Privatsphäre" drohen beiden bis zu zwei Jahre Haft. Da es so gut wie keine gesicherten Informationen gibt, blühen die Spekulationen umso mehr; gemutmaßt wird etwa, dass der russische Aktivist Alexandra de Taddeo gezielt auf Benjamin Griveaux ansetzte, um dem Kandidaten zu schaden und damit auch dem Präsidenten Macron, dessen enger Vertrauter Benjamin Griveaux ist.