Dienstag, 19. März 2024

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Akustisches Mimikry
Gespinstmotte schützt sich mit fremden Rufen

Verkleidung als wehrhafte Wespe oder giftiger Artgenosse: so manches Tier gibt vor zu sein, was es nicht ist. Nachtaktiven Tieren hilft optische Verkleidung allerdings wenig. Ein kleiner Nachtfalter imitiert die akustischen Warnsignale giftiger Motten und entkommt so den hungrigen Fledermäusen.

Von Anneke Meyer | 20.06.2019
Traubenkirschen-Gespinstmotte sitzt auf einem Blatt, Seitenansicht
Gespinstmotten vertreiben Fledermäuse mit lauten Klick-Geräuschen (imago/blickwinkel)
Es ist ein schöner Tag in Bristol, im Süden von England. Es regnet nicht und später spielt Liverpool noch gegen Bayern München. Marc Holderied ist noch im Labor, aber nicht mehr lange. Nach Feierabend geht es heute in den Pub. Die Arbeitsgruppe des gebürtigen Franken feiert eine Veröffentlichung:
"Das ist auch eine interessante Geschichte - da haben wir, hat mein Doktorand Liam O'Reilly entdeckt, dass es einen ganz kleinen Nachtfalter gibt, der auch ein bisschen giftig ist übrigens. Und der erzeugt Ultraschalltöne, die sich genauso anhören, wie die Ultraschalltöne von einem viel größeren und vermutlich viel giftigeren Nachtfalter. Und wenn eine Fledermaus die attackiert, hört die diese Schallsignale, verbindet diesen Schall mit der Giftigkeit - oder mit dem schlechten Geschmack und damit bricht sie die Attacke ab."
Nicht die Augen, sondern die Ohren täuschen
Indem die kleinen Gespinstmotten das Warnsignal der großen Bärenfalter nachahmen, machen sie sich einen Trick zunutze, der im Tierreich weit verbreitet ist: "Mimikry". Bekannte Beispiele, etwa die Schwebfliege, die sich mit ihrer gelb-schwarzen Färbung als Wespe ausgibt, täuschen die Augen. Beispiele für akustische Mimikry, bei der die Ohren getäuscht werden, sind bisher nur wenig bekannt, erklärt Marc Holderied auf dem Weg zum Pub. Das neu entdeckte Beispiel der Gespinstmotte hat dabei eine Besonderheit:
"Diese kleinen Gespinstmotten - die haben keine Ohren, sie machen aber trotzdem Schall."
Von den großen Bärenfaltern weiß man schon lange, dass sie hören, wenn eine Fledermaus sie ortet und darauf mit einer spezifischen Ultraschallsequenz gezielt antworten. Das Schallorgan der tauben Motten war bisher unbekannt und wäre es auch geblieben, wenn nicht der Zufall und das Jahrestreffen des örtlichen Vereins der Schmetterlingsbeobachter gewesen wären:
"Ich hatte eine sonderbare Struktur auf dem Hinterflügel einer Motte entdeckt. Es war ein durchsichtiger Fleck, mit kleinen Erhöhungen am Rand. Meine Beobachtung stellte ich bei dem Treffen vor und zufällig war Liam auch dort.
"Das müsste für irgendetwas gut sein"
David Agassiz, passionierter Schmetterlingsliebhaber und Pensionist, sitzt bereits im Gastraum und wartet bei Fish and Chips. In seinem ersten Leben war David Agassiz ein Mann der Kirche. Mit fünfzig schrieb er eine Doktorarbeit auf dem Gebiet der Schmetterlingskunde. Inzwischen ist er ein weltweit anerkannter Experte.
"Dieser Fleck ist schon seit über 100 Jahren beschrieben. Aber diese Erhebungen hatte noch nie jemand erwähnt. Sie sind schwer zu entdecken, man braucht eine spezielle Technik. Ich sah sie und dachte – sie müssen für irgendetwas gut sein. Mein Vorschlag war, dass sie Töne erzeugen könnten."
Mit bioakustischen Methoden kennt der Naturforscher sich nicht aus. Liam O'Reilly, Marc Holderieds Doktorand, allerdings schon.
"In dem Moment wo ich Davids mikroskopische Aufnahmen sah, dachte ich, das sieht bekannten schallproduzierenden Strukturen sehr ähnlich. Ich bin direkt im Anschluss an das Treffen zum Vorsitzenden des Vereins gegangen und habe gesagt, ich würde gerne Kontakt zu David aufnehmen."
Wer ständig Lärm macht, muss nicht unbedingt selber hören
Das Bier kommt und es wird auf die erfolgreiche Zusammenarbeit angestoßen. Auf hochauflösenden Videobildern, die mit Ultraschallaufnahmen gekoppelt sind, zeigt sich, dass die mysteriösen Erhebungen eine Art Scharnierfunktion haben. Bei jedem Flügelschlag klappen die Scharniere eines nach dem anderen um und erzeugen dabei ein Klacken im Ultraschallbereich.
(Marc Holderied) "Man hört die Veränderung dieser Tonhöhe in so einer Klickerei, das geht so "durut durut". Das sind jetzt zwei Falter die nur ganz wenig miteinander verwandt sind, sich aber so sehr ähnlich anhören."
Das Bier neigt sich dem Ende. Liverpool wird Bayern München an diesem Abend wider Erwarten nicht schlagen. Draußen ist es dunkel geworden. Für menschliche Ohren wird es stiller, für Fledermäuse möglicherweise ziemlich laut. Anders als die großen Bärenfalter, die die Attacken der Fledermäuse hören und gezielt beantworten, senden die Gespinstmotten ihr Warnsignal permanent mit jedem Flügelschlag. Dass sie selbst taub sind, kann kein Zufall sein.