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AKW per Dekret

Weißrussland plant den Bau seines ersten Atomkraftwerks, obwohl das Land wie kaum ein anderes unter den Folgen der Tschernobyl-Katastrophe gelitten hat. Allmählich aber wächst der Widerstand gegen den Beschluss des Regierungspräsidenten Alexander Lukaschenko: Denn die Mehrheit der Weißrussen spricht sich gegen den Reaktorbau aus.

Mit Reportagen von Anja Schrum und Ernst-Ludwig von Aster | 13.12.2008
    Ein Berater der Lukaschenkoregierung über den Standortvorteil. Weißrusslands beim Reaktorbau:

    "Die Reaktorproduzenten müssen sich darum bewerben, hier bauen zu dürfen. Denn in der öffentlichen Meinung, weltweit, muss das Atomkraftwerk, das hier gebaut wird, das sicherste sein. Darum hat Weißrussland eine Schlüsselfunktion, der Reaktorbau hier ist eine gute Reklame."

    Und ein sogenannter Liquidator. Der nach der Reaktorkatastrophe von Tschernobyl zu radioaktiven Aufräumarbeiten eingesetzt wurde und - wie die meisten seiner Kollegen - schwer erkrankt ist:

    "Wir brauchen kein Kernkraftwerk. Uns reicht ein Tschernobyl. Das ist eine komplizierte Anlage, die gebaut werden soll. Und wir haben keine Fachleute dafür. Und wo sollen wir den Brennstoff herkriegen? Und es ist auch kein Geheimnis, dass alle AKWs bombenfähiges Material liefern."

    Gesichter Europas: AKW per Dekret - In Weißrussland wächst der Widerstand gegen Atomkraft. Eine Sendung von Anja Schrum und Ernst-Ludwig von Aster. Am Mikrofon begrüßt Sie Brigitte Helfer

    22 Jahre nach der Katastrophe von Tschernobyl zeichnet sich in Zentral- und Osteuropa so etwas wie eine Renaissance der Kernenergie ab: Dort planen etliche Länder den Bau neuer Atomanlagen, um den ständig wachsenden Energiehunger zu stillen. So auch Weißrussland, das keine nennenswerten Energieressourcen besitzt und weit mehr als 90 Prozent der Energieträger importieren muss, vor allem Erdgas aus Russland.

    Deshalb beschloss die Regierung, ein Atomkraftwerk zu bauen, das erste überhaupt. Obwohl das Zehn-Millionen-Einwohner-Land wie kein anderes unter den Folgen von Tschernobyl gelitten hat: Weite Teile von Belarus wurden damals verstrahlt, und die Folgekosten verschlangen jahrelang enorme Summen. Dennoch setzt der autokratische Präsident Alexander Lukaschenko alles daran, mit dem Bau des Reaktors so bald wie möglich zu beginnen. Zum einen, um die ständig steigenden Energiekosten einzudämmen, und zum anderen, um sich unabhängiger von russischen Gaslieferungen zu machen. Die Bevölkerung wurde nicht nach ihrer Meinung gefragt.


    Günstige Energie oder großes Risiko? - Der AKW-Bau spaltet Weißrusslands Öffentlichkeit
    Minsk, Nezavisimosti Prospekt, am Abend. Passanten flanieren die Einkaufsstraße entlang. Hell leuchten die Schaufenster. Die Straßenlaternen werfen ein grelles Licht. Jedes offizielle Gebäude wird mehrfach angestrahlt. Lichterketten schmücken die Bäume. Ein Student schlendert vorbei, kommt gerade aus der Ökonomievorlesung. "Die Energie wird immer teurer", sagt er, "darum gibt es auch keine Alternative zu einem Atomkraftwerk". Es gibt einfach keine billigere Energie. Das hat er neulich erst im Studium gehört. Und: Dass es der weißrussischen Wirtschaft auf lange Sicht schadet, wenn sie weiter von Energielieferungen abhängig ist.

    Eine Mittzwanzigerin kommt vom Einkaufen. Trägt zwei schwere Tüten in den Händen. Lebensmittel fürs Wochenende.

    "Sie sind die ersten, die mich nach meiner Meinung zum Atomkraftwerk fragen", sagt sie und lacht. "In unseren Medien wird darüber nicht diskutiert, darum kann man sich auch keine Meinung bilden." Sie ist sehr skeptisch. "Das hängt vor allem mit Tschernobyl zusammen", sagt sie. " Ich will einfach nicht, dass so eine Tragödie noch einmal passiert". Jetzt muss sie weiter, ihr Bus kommt.

    Aus dem steigt eine Gruppe Philosophiestudenten aus. Als sie das Mikrofon sehen, winken die meisten ab, gehen weiter. Sie wollen zum Thema Atomkraft nichts sagen. Ein 18-Jähriger aber bleibt stehen.

    "Ich bin gegen das Projekt", sagt er, "weil es sehr gefährlich ist". Das sehen die meistens seiner Bekannten genauso. Es gäbe doch noch andere Wege der Energiegewinnung, die viel sicherer seien. Und auch wenn die Regierung schon alles entschieden hat, er ist sicher, dass dieses Thema noch lang diskutiert werden wird.

    Swetlana Alexijewitsch hat in ihrem Buch "Tschernobyl. Eine Chronik der Zukunft" Geschichten von Menschen gesammelt, für die die Reaktorkatastrophe das zentrale Ereignis ihres Lebens wurde. Darunter auch ein "Interview der Autorin mit sich selbst über weggelassene Geschichte und darüber, warum Tschernobyl unser Weltbild in Frage stellt":

    "Vermutlich wären wir eher mit einer atomaren Kriegssituation wie in Hiroshima fertig geworden, darauf waren wir vorbereitet. Aber die Katastrophe geschah in einem nichtmilitärischen Atomobjekt, und wir waren doch Kinder unserer Zeit und glaubten, wie wir es gelernt hatten, die sowjetischen Atomkraftwerke wären die sichersten der Welt, so sicher, dass man sie sogar auf den Roten Platz stellen könne. Das kriegerische Atom, das waren Hiroshima und Nagasaki, das friedliche Atom dagegen war die Glühbirne in jedem Haushalt. Niemand ahnte, dass das kriegerische und das friedliche Atom Zwillinge sind. Komplizen. Inzwischen sind wir klüger, die ganze Welt ist klüger geworden, aber erst nach Tschernobyl. Die Weißrussen sind heute lebendige "Blackboxes": Sie zeichnen
    Informationen für die Zukunft auf. Für alle."

    Eine Zeitlang - von 2004 bis 2007 - konnte Weißrussland ein beachtliches Wirtschaftswachstum vorweisen - zwischen acht und elf Prozent jährlich. Damit lag es in der Spitzengruppe der ehemaligen Sowjetrepubliken. Was allerdings hauptsächlich den hochsubventionierten russischen Gaspreisen zu verdanken war, Freundschaftspreisen für den kleinen Bruder in Minsk. Auf die Art hielt Moskau Alexander Lukaschenko auch den Rücken frei. Lukaschenko - 1994 demokratisch zum Staatsoberhaupt gewählt - errichtete in den folgenden 14 Jahren eine Präsidialdiktatur, die lückenlos funktioniert: Er ernennt und entlässt die Regierung, ist Oberbefehlshaber von Militär, Miliz und Geheimdienst und hat auch die Energiepolitik zur Chefsache gemacht. Energiesparmaßnahmen werden ebenso wie der Bau eines Atomreaktors per Dekret durchgesetzt und anschließend von den zuständigen Ministerien umgesetzt.

    Im Foyer des Minsker Energieministeriums schwenken die weiblichen Angestellten ihre Handtasche kurz in Richtung Sicherheitsschleuse, ein Piepton, die Metallsperre öffnet sich, die Frauen eilen weiter zu ihren Büros in dem mächtigen Altbau.


    Der Minister und sein Atommeiler
    Eine Frau, Mitte 50, winkt uns durch die Metallsperre, bittet, ihr zu folgen. Ohne ihren Namen zu nennen oder ihre Funktion. Es geht eine Treppe hinauf, dann einen breiten Gang hinunter. Ihre Pfennigabsätze klackern über frisch verlegte Fliesen.

    Wieder geht es nach oben. Dann nach rechts, durch eine schwere Flügeltür, in einen Seitentrakt. Hier dämpfen dicke Teppiche den Klang der Schritte. Überwachungskameras und Infrarotmelder hängen an der Decke. Die Frau zeigt auf ein grünes Kunstledersofa, bittet, dort Platz zu nehmen. "Warten sie, ein paar Minuten", sagt sie und entschwindet. Männer und Frauen eilen über den Gang. Verschwinden leise hinter schweren Bürotüren.

    Wenig später erscheint eine schmale Frau mit blondem Pagenkopf in dezentem Schwarzweiß. Ohne sich vorzustellen, fordert sie auf, ins Büro des stellvertretenden Energieministers zu folgen.

    Mihail Iwanowitsch Mihadjuk sitzt an seinem Schreibtisch und telefoniert. Vor sich eine moderne Telefonanlage und ein einzelner, beiger Apparat mit Wählscheibe. Die Frau - offenbar die Pressesprecherin - nickt ihm kurz zu, legt ein silbrig-glänzendes Diktiergerät auf den Besprechungstisch und bittet, Platz zu nehmen. In dem Büro stapeln sich Aktenordner und Papphefter in betagten Regalen. An der Wand lehnt eine Europakarte hinter Plexiglas. Quer durch das Glas zieht sich ein dicker Sprung. Mihail Mihadjuk nickt:

    "Gestern hat man die Lüftung in Stand gesetzt. Und dabei ist die Karte heruntergefallen. Ja, das ist die Karte, auf der die Haupt-Erdgas-Leitungen in Europa verzeichnet sind."

    Ein symbolhafter Sturz: Hatte doch der Streit um die Gaspreise für erhebliche Spannungen zwischen Minsk und Moskau gesorgt. Und die weißrussische Regierung gezwungen, sich verstärkt nach anderen Energieträgern umzuschauen. Atomkraft zum Beispiel. "Weißrussland wird ein Atomkraftwerk mit 2.000 Megawatt Leistung bauen", erklärt der stellvertretende Energieminister. Dann legt der Grauhaarige mit dem breiten Schädel und dem dicken Schnauzer los:

    "Drei Standorte kommen für den Bau in Frage. All diese Standorte sind aus geologischer und seismologischer Sicht sowie von technischer Seite für den Bau geeignet. Die Standorte entsprechen den Anforderungen, die an einen solchen Bau gestellt werden."

    Wo diese Standorte liegen - das verrät Mihadjuk nicht. Jedenfalls nicht von sich aus. Er redet weiter und weiter, ohne seine Gesprächspartner anzublicken, während seine Hände unablässig mit dem Brillengestell spielen. Mihadjuk spricht weiter. Über die enge Zusammenarbeit mit der Internationalen Atomenergiebehörde in Wien. Über die Sicherheit des zu bauenden Atomkraftwerks. Über die Ausbildung des weißrussischen Personals. Er lässt kaum Chancen nachzufragen.

    "Laut der Umfrage-Ergebnisse waren im Jahre 2005 nur etwa 25 Prozent der Bevölkerung eindeutig für die Nutzung der Atomenergie. Heute dagegen sind mehr als 60 Prozent dafür. Daran erkennt man, dass die Bevölkerung die Entwicklung der Atomenergie in Weißrussland unterstützt."

    Ein überraschender Sinneswandel innerhalb von nur drei Jahren. Da kommen Zweifel. Doch für kritische Nachfragen ist keine Zeit. Der stellvertretende Energieminister fährt fort:

    Man habe sich für einen Druckwasserreaktor entschieden, doziert Mihadjuk, weil dieser Reaktortyp weit verbreitet und sicherheitstechnisch auf dem neuesten Stand sei. Die Ausschreibung sei an drei Firmen gegangen: an den russischen Reaktorbauer "Rosatom", an das französisch Unternehmen Areva und an Westinghouse in den USA:

    "Und wir haben von diesen Firmen Antworten erhalten. Westinghouse, hat geantwortet, sie könnten einen solchen Reaktor bauen, aber nur wenn es ein bilaterales Regierungsabkommen gibt. Frankreich hat den Wunsch geäußert, am Projekt weiterhin teilzunehmen. Auch die Russische Föderation hat ihre Bereitschaft erklärt, dieses Projekt in Weißrussland zu realisieren. Eine endgültige Entscheidung ist noch nicht gefällt worden."

    Die Bürotür öffnet sich vorsichtig. Eine Sekretärin steckt den Kopf herein, deutet mit dem Finger auf ihre Armbanduhr. Der stellvertretende Energieminister nickt. Draußen warten schon die nächsten Besucher: Bankvertreter. Denn die Finanzierung des Vier-bis-sechs-Milliarden-Dollar-Projektes ist noch offen. Eine Dreiviertelstunde hat Mihadjuk geredet, aber wenig gesagt. Auch zu seiner Vita mag er sich nicht so recht äußern:

    "Wozu? Von Beruf bin ich Energieingenieur. Ich habe mein ganzes Leben in diesem Bereich gearbeitet, über 30 Jahre. Im Ministerium arbeite ich erst das vierte Jahr. Die übrige Zeit habe ich in der Praxis gearbeitet."

    Wo genau, will er nicht sagen. Auf jeden Fall nicht in der Nuklearbranche. Das ist Neuland, für Weißrussland - und seinen stellvertretenden Energieminister.


    'Staatsfeinde' nennt Präsident Lukaschenko die Gegner des Atomprojektes, die stets damit rechnen müssen, auch als solche behandelt zu werden. Einschüchterung von staatswegen hat in Belarus Tradition: Das Lukaschenko-Regime entwickelte ein ausgeklügeltes Instrumentarium, das nach Belieben eingesetzt werden kann, um all jene unter Druck zu setzen, die ihre Rechte einfordern. Da können Studenten ihre Hochschulzulassung verlieren, Wissenschaftler ihren Arbeitsplatz und Eltern sogar - bei vermeintlich staatsfeindlichen Umtrieben - das Recht auf Kindererziehung. Organisierter Widerstand gegen Staatsinteressen steht unter strenger Beobachtung und wird, unter Umständen, auch geahndet. Das verlangt Zivilcourage und Hartnäckigkeit von all denen, die versuchen, gegen die Atompläne mobil zu machen.

    Ein Hinterhof in einer Minsker Seitenstraße. Putz bröckelt von der grauen Fassade. Handwerker renovieren in einem der oberen Stockwerke. Dort treffen sich regelmäßig Mitglieder der weiß-russischen Anti-Atombewegung und diskutieren über mögliche Formen des Widerstandes:


    Die Staatsfeinde
    "Kommen sie bitte herein", schallt es aus der Gegensprechanlage. Mit einem Summen öffnet sich die Tür. Dann geht es das Treppenhaus hinauf, in den dritten Stock. Vorbei an Schuttwannen und Stromkabeln, die lose von der Decke hängen.

    Marina Bogdanovich wartet in der Tür ihrer großzügigen Altbauwohnung. Bittet nach rechts, in das Wohnzimmer mit den schweren beigen Vorhängen vor hohen Fenstern und einer gläsernen Balkontür. Dahinter reckt sich eine Eiche in den Minsker Himmel. "Die Fenster und Türen habe ich diesen Sommer neu einbauen lassen", sagt Marina Bogdanovich.

    "Ich liebe meinen Hof, dieses Stückchen altes Minsk. Ich wollte das alte Rathaus im Hof sehen. Aber natürlich auch aus Energiespargründen, weil es ziemlich kalt in der Wohnung war mit den alten Fenstern."

    Bis zu 70 Prozent der Energie gehen durch Fenster und Türen verloren, wirft ein schmaler, älterer Herr ein und erhebt sich vom großen, beigen Sofa. Er drückt den Besuchern ein Buch in die Hand, sein Buch.

    "Auf dem Cover dieses Buches sehen sie ein symbolisches Bild, das ist ein real existierendes AKW. Und darunter ist eine Atombombe zu sehen."Atomenergie - ein friedlicher Mörder", lautet der deutsche Titel. Früher war Grigorij Lepin ein glühender Befürworter der Atomkraft, arbeitete als Physiker an einem Versuchsreaktor. Später dann sechs Jahre in der Tschernobyl-Zone, am havarierten Reaktor: "freiwillig" - wie der 77-Jährige betont. Während dieser Zeit änderte sich seine Meinung. Heute hält der Professor die Atomkraft für gefährlich. Und macht daraus keinen Hehl:

    "Im April haben wir unsere Bewegung "Wissenschaftler für ein atomfreies Weißrussland" gegründet. Da gab es eine sofortige Reaktion: In Choiniki hat der Präsident eine Pressekonferenz gegeben. Da sagte er: Das sind keine Wissenschaftler, das sind Banditen, das sind Staatsfeinde."

    Lepin streicht sich mit zitternder Hand das glatte, graue Haar hinter die Ohren. Mitstreiterin Marina Bogdanovich nickt und deutet auf ein Bild neben dem Fernseher. Es zeigt einen etwa 20-jährigen breitschultrigen Mann und ein blondes Mädchen mit Zöpfen und Nickelbrille. Die Kinder von Marina Bogdanovich:

    "Meine Tochter geht jetzt in die achte Klasse einer wunderbaren Minsker Schule. Wenn sie von der Schule nach Hause kommt erzählt sie mir, dass alle Kinder in der Schule sagen, das Atomkraftwerk sei ein Glücksfall für Weißrussland. Das bedeute neue Arbeitsplätze, bessere Löhne. Ich versuche ihr zu erklären, dass es eine schöne Fassade ist, und dass man die Mülldeponie dahinter nicht sieht."

    Marina Bogdanovich schüttelt den blonden Pagenkopf. Grigori Lepin rutscht derweil unruhig auf seinem Platz hin und her, blättert in ein paar deutschen Zeitungsartikeln.

    Lepin berichtet von dem AKW-Neubau im finnischen Olkiluoto, dem ersten Reaktorbau in Europa nach dem Tschernobyl-Unfall. Immer wieder wurden die Bauarbeiten gestoppt. Die Baukosten steigen weiter an. Alle Kalkulationen sind hinfällig. Genauso wird es in Weißrussland werden, sagt Lepin

    "All diese Probleme werden nach und nach auch hier auftauchen. Eines nach dem anderen. Sie bauen ein AKW und dann fällt ihnen erst ein, dass unser Stromnetz dafür nicht geeignet ist. Das ist auf eine dezentrale Versorgung mit kleineren Kraftwerken ausgelegt. Ein AKW, das auf einen Schlag so viel Energie produziert, braucht ein anderes Netz. Ein Ausbau des Netzes aber ist sehr teuer, das kostet Milliarden von Dollar. Damit werden sie es zuerst zu tun bekommen."

    Weißrussland wird hohe Kredite aufnehmen müssen, um den Bau des AKWs sowie die Ver- und Entsorgung mit Brennstäben finanzieren zu können, sagt der alte Professor. Kredite, die man mit dem erzeugten Atomstrom abzahlen muss. Energetische Unabhängigkeit sieht anders aus, sagt Grigorij Lepin:

    "In Weißrussland selbst haben wir ein schönes Beispiel dafür. In Orsa hat man vor Jahren das Kraftwerk modernisiert, indem man die alten Turbinen durch moderne ersetzt hat. Als Ergebnis hatten wir 40 Prozent weniger Gasverbrauch. Also dadurch haben wir einen großen Gewinn gemacht. Die Modernisierung der vorhandenen Kraftwerke, die sehr alt sind, wäre um das fünf bis zehnfache billiger als der Bau des AKWs."

    Grigorij Lepin und Marina Bogdanovich wollen sachlich argumentieren, als Wissenschaftler. Sie wollen alle Daten und Fakten zusammentragen und offen auf den Tisch legen, nicht nur die politisch genehmen. Doch die Medien sind fest in der Hand des Staates. Und wer sich aktiv gegen die Regierung wendet, muss mit erheblichen Repressionen rechnen. Die "Wissenschaftler für ein atomfreies Weißrussland" wissen noch nicht, wie sie die Öffentlichkeit erreichen können. Bislang gibt es lediglich eine Homepage. Sie wissen allerdings, worauf sie sich einlassen. Marina Bogdanovich engagiert sich seit Jahren für die politische Opposition. Und auch Grigorij Lepin macht sich keine Illusionen:

    " Wir verstecken uns nicht, aber die Mehrheit hat Angst. Bei uns im Lande gab es schon Beispiele, wo Menschen buchstäblich umgebracht wurden. Bei der erwähnten Konferenz in Choiniki hat Lukaschenko gesagt: Ich werde handeln, Kraft meiner mir gegebenen Macht. Und er hat große Macht hier. Deswegen überlegt die Mehrheit, welche Konsequenzen das für sie haben könnte. Er hat Erfahrung damit, Menschen zu verfolgen. Und es gibt viele, die gezwungen wurden, das Land zu verlassen, weil es für sie gefährlich wurde, hier zu leben."


    "Noch immer benutzen wir alte Begriffe wie 'fern - nah', 'Unsere - Fremde'. Aber was bedeutet nah oder fern noch nach Tschernobyl, da die radioaktiven Staubwolken schon vier Tage später über Afrika und China waren? Die Erde ist klein, sie ist nicht mehr wie zu Kolumbus' Zeiten unendlich. Wir haben heute ein neues Raumgefühl. Wir leben in einem bankrotten Raum. Und: Seit einigen Jahren werden die Menschen immer älter, trotzdem ist ein Menschenleben lächerlich kurz gegen die Lebensdauer der radioaktiven Teilchen auf unserer Erde. Viele davon werden Jahrtausende existieren. Soweit können wir gar nicht vorausblicken! Angesichts dessen entsteht ein neues Zeitgefühl. Das alles ist Tschernobyl. Das sind seine Spuren."

    Doch trotz aller Willkür gilt Präsident Lukaschenko bei Teilen der Bevölkerung als beliebt; so bei denen, die auf dem Land leben und die sich noch voller Furcht an die chaotischen Zeiten des Umbruchs in Russland erinnern. Wie auch bei den Alten, die in Lukaschenko wenigstens einen Garanten wirtschaftlicher Stabilität sehen. Zumindest in früheren Tagen verschafften regelmäßig erhöhte Renten und eine volkstümliche Rhetorik dem Präsidenten starken Rückhalt bei diesen Menschen.

    Mittlerweile aber geht ein immer größerer Teil der Lebenshaltungskosten für Strom und Gas drauf: Allein im vergangenen Jahr stiegen die Preise dafür um zwölf Prozent. Was zunehmend auf die Kosten für Lebensmittel wie Brot und Milchprodukte durchschlägt. Besonders die Rentner registrieren diese Entwicklung voller Besorgnis.

    Markttag in Slutsk, einem 75.000-Einwohner-Städtchen rund 100 Kilometer von Minsk entfernt. Zwischen Fleisch- und Gemüseständen bieten alte Frauen handgestrickte Socken und selbstgenähte Einlegesohlen an; versuchen so, ihre Rente aufzubessern:

    Auch Tamara Petrowa kauft regelmäßig auf dem Markt ein, weil es billiger als im Supermarkt ist. Zweimal in der Woche schleppt Tamara die Einkäufe nachhause - anderthalb Kilometer vom Markt bis zu ihrer Wohnung. Dort wartet meist schon ihre Enkelin.


    Von Kosten und Kälte - Der Alltag einer Rentnerin
    "Lass mich auch mal probieren", bittet Tamara Petrowa ihre Enkelin Aljona. Beugt sich über den schmalen Küchentisch mit dem geblümten Wachstuch und greift nach einer der säuerlich eingelegten Tomaten: "Kuszna" - "lecker", sagt Tamara.

    "Oma, gib mir ein Tuch", verlangt die Sechsjährige schmatzend und streckt die tomatensaftnassen Finger in die Luft. Tamara reicht ihr ein Geschirrtuch. Dann schiebt sie die Gardine beiseite und blickt durchs Küchenfenster auf das Außenthermometer. Sieben Grad sind es draußen, Nieselregen. Die 58-Jährige mit dem fröhlich-runden Gesicht unter dem rötlichen Pagenkopf schließt die Knöpfe ihrer Hausjacke und greift zum Spülschwamm. Eiskalt läuft das Wasser aus dem Hahn. Mit klammen Fingern spült Tamara ein paar Tassen. Seit dem Frühjahr gibt es kein warmes Wasser mehr:

    Mitte April hat man die Heizung abgestellt und damit auch das warme Wasser, sagt Tamara. Denn der unverputzte, viergeschossige Wohnblock, in dem ihre kleine Dreizimmerwohnung liegt, wird mit Fernwärme versorgt. Oder besser: Wurde versorgt. Von der benachbarten Möbelfabrik:

    "Sie können uns nicht mehr mit Wärme versorgen. Die Möbelfabrik ist pleite. Die kommunalen Heizbetriebe werden vom Staat unterstützt, sie bekommen Zuschüsse. Aber die Möbelfabrik finanziert niemand. Deswegen können sie uns auch nicht mehr mit Wärme versorgen."

    Im Frühjahr und im Sommer wärmt die Sonne die Wohnung, erzählt die 58-Jährige, die selbst bis zu ihrer Frührente in der Möbelfabrik gearbeitet hat. Aber ab Ende September wird es kalt. Selbst, wenn die Fernheizung wieder läuft. "Eigentlich friere ich nicht so leicht", lacht Tamara und deutet auf ihren fülligen Körper.

    Letzten Winter hatten wir maximal 13 Grad Zimmertemperatur, erinnert sich die Rentnerin. Und zieht fröstelnd die Schultern hoch. Ihre Parterrewohnung ist die erste im Block: drei Außenwände, ungedämmt.

    "Wir dichten die Fenster ab. Wir haben eine Doppeltür zum Treppenhaus eingebaut. Früher haben wir mit dem Gasherd die Wohnung geheizt. Das machen wir jetzt nicht mehr."

    Denn auch das Gas wird immer teurer. Tamara deutet auf einen klobigen Zähler neben dem altmodischen Herd. Den Gaszähler hat sie auf eigene Kosten einbauen lassen. Jetzt bezahlt sie nur noch das, was sie wirklich verbraucht.
    Tamara sitzt auf einem Hocker und reibt ein paar Möhren. Für die Suppe, die leise auf dem Gasherd köchelt. "Die wärmt wenigstens von innen" sagt sie. Über dem Herd hängt die Wäsche zum Trocknen.

    Obwohl der Block erst 1994 gebaut wurde, haben die Nachbarn über ihr bereits saniert, erzählt die Rentnerin: neue Fenster einbauen lassen. Doch Tamara und ihrem Mann fehlt dafür schlicht das Geld. Ein Elektroboiler - davon träumt die 58-Jährige, damit sie nicht mehr ständig bei den Verwandten duschen muss:

    "Wenn ich einen Elektroboiler für 30 Liter warmes Wasser kaufen würde, so würde das 350.000 weißrussische Rubel kosten. Plus Installation werde ich auf 500. bis 600.000 Rubel kommen."

    Umgerechnet rund 220 Euro. Das entspricht der Monatsrente des Ehepaares. Mit dem Geld kommen sie gerade über die Runden. Denn die Lebensmittelpreise und die Energiekosten steigen stetig.

    "Nicht nur Strom, nicht nur Gas. Man hat in der Lokalzeitung geschrieben, dass alle Betriebskosten steigen werden, alles wird teurer. Ich weiß gar nicht, wie wir weiterleben sollen, mit diesen geringen Renten."

    Ihr Mann Grigorij schlurft in die Küche. Ganz langsam und am Stock. Er ist krank, urplötzlich wollten seine Beine nicht mehr. "Opa, du musst still sein", sagt die kleine Aljona.

    Tamara lacht, zieht die Sechsjährige zu sich auf den Schoß. Die Rentnerin weiß: Um unabhängiger von Russland zu werden, will Lukaschenko ein Atomkraftwerk bauen lassen. Die Rentnerin drückt die kleine Aljona fest an sich und blickt ernst:

    "Ich will nicht, dass es hier in der Nähe gebaut wird. Ein Tschernobyl reicht uns. Ich will, dass meine Kinder und meine Enkel hier weiterleben können."

    Dass Weißrussland dadurch unabhängiger wird und die Energie billiger, das verkündet zwar das Fernsehen. Aber Tamara schüttelt den Kopf:

    "Natürlich glaube ich das nicht. Atomenergie ist sehr teuer. Wir müssen praktisch alles in Russland kaufen. Denn wir hier haben nichts."


    Die Nationale Akademie der Wissenschaften in Weißrussland zählt mehr als 16.000 Mitglieder. Ihr Präsidium berät den Präsidenten und hilft bei der Umsetzung wissenschaftlicher Erkenntnisse in praktische Politik. Wie zum Beispiel bei der sogenannten Direktive Nr. 3, die im September 2007 in Kraft trat: Demnach müssen Unternehmen bis zum Jahr 2010 insgesamt 31 Prozent ihres Energieverbrauchs einsparen: ein Modernisierungskurs, den Lukaschenko persönlich angeordnet hat. Denn der Regierung ist bewusst, dass fast alle Betriebe Energie verschwenden. Allerdings ... die Besichtigung eines Betriebs, der das neue Konzept erfolgreich umsetzt, sei leider nicht möglich, ließ die Pressestelle des Außenministeriums wissen.

    Da es in Weißrussland keinerlei Erfahrung mit dem Reaktorbau oder -betrieb gibt, wurden jetzt an den Universitäten neue Studiengänge eingeführt, um den nötigen wissenschaftlichen Nachwuchs auszubilden. Selbst im Präsidium der Akademie fehlt es an Kernphysik-Know-how. So avancierte denn auch ein 70-jähriger Professor für Energie- und Anlagentechnik zum Nuklear-Berater der Regierung.


    Der Professor und sein Atomprojekt
    Fünf Stufen, ein Plateau, noch einmal fünf Stufen, noch ein Plateau. Streng geometrisch ist der Vorplatz ausgerichtet. Läuft keilförmig auf die Nationale Akademie der Wissenschaften zu. 26 Säulen tragen einen schweren Zierbogen, der sich von Seitenflügel zu Seitenflügel erstreckt. Im Zentrum - streng neoklassizistisch - das Hauptgebäude. Wie ein überdimensionales Tortenstück liegt die Nationale Akademie am Unabhängigkeitsprospekt.

    Ein Pantheon der weißrussischen Wissenschaft, klar strukturiert, klassische Konturen. Hierher, in Zimmer 226, bestellt Prof. Aleksandr Mikhalevich seine Besucher, wenn er ihnen die nukleare Zukunft Weißrusslands erläutern will.

    Mit energischem Schritt kommt jetzt Alexander Mikhalevich herein. Den Trenchcoat offen, darunter den blauen Anzug, in der rechten Hand eine braune Lederaktentasche. Der graumelierte 70-Jährige grüßt kurz die Besucher, bittet ihm zu folgen.

    Mikhalevich öffnet eine schwere Tür, bittet in ein riesiges Büro. Das gehört dem stellvertretenden Akademie-Chef. Vor dem massigen Schreibtisch mit dem kleinen Einsteinbild steht ein großer Besprechungstisch, darum herum 15 Stühle. Mikhalevich setzt sich in die Mitte, zieht ein silbernes Brillenetui aus der Tasche, greift erst zur Lesebrille. Dann zum Visitenkarten-Etui. Darauf prangen die Buchstaben BNFL:

    Belgium Nuclear Fuel. Oder British Nuclear Fuel. Eine belgischer oder ein britischer Atombrennstoffhersteller. Mikhalevich weiß nicht mehr so genau, wem er das Geschenk zu verdanken hat. Er streicht sie über den präzise gestutzten Vollbart, lacht.

    "Letztes Jahr und Anfang dieses Jahres haben wir einige Länder besucht. Frankreich, China, Russland, Schweden, Finnland. Wir haben uns dort über die Erfahrungen berichten lassen."

    Mikhalevich nickt. Ein leichtes Lächeln umspielt seine Lippen. Er ist der Atomberater der weißrussischen Regierung. Ein Handlungsreisender in Sachen AKW-Kauf. Einer der wenigen Experten in dem kleinen Land.

    "1998 wurde eine öffentliche Kommission eingesetzt, die über die Zukunft der Kernenergie beraten sollte. In dieser Kommission saßen nicht nur Atomwissenschaftler, sondern auch Experten aus anderen Bereichen. Und aufgrund der Tschernobyl-Ereignisse und der Besorgnis in der Bevölkerung, empfahl die Kommission, in den nächsten zehn Jahren kein Atomkraftwerk zu bauen."

    Auch er saß in der Kommission. Und stimmte damals gegen den Beschluss. Doch er wurde überstimmt. Die AKW-Planungen kamen zu den Akten. Mikhalevich konnte weiterforschen, aber mehr nicht. Zehn Jahre schrieb der Physiker wissenschaftliche Artikel, sprach mal in London, mal in Sydney. Immer zum selben Thema: Weißrussland braucht ein Atomkraftwerk.

    Im vergangenen Jahr dann gab Präsident Alexander Lukaschenko grünes Licht für den Reaktorbau, ordnete die schnellstmögliche Errichtung einer Nuklearanlage an. Aleksandr Mikhalevich nickt zufrieden. Für ihn geht mit 70 Jahren doch noch ein Lebenstraum in Erfüllung:

    "Genauso denke ich. Weil ich schon vor 25 Jahren verstanden habe, dass die Wirtschaft Weißrusslands sich ohne Atomkraft nicht weiterentwickeln kann."

    Und das galt damals wie heute. Zumindest nach Mikhalevichs Berechnungen. Doch er weiß: Ein wichtiger Faktor in seiner Reaktorrechnung beruht auf einer Schätzung: Der Preis des Atommeilers. Denn trotz aller Besuche und Besichtigungen - was die Nuklearanlage am Ende kosten wird, das wollte kein Hersteller verraten

    "Wir haben mit den meisten europäischen und russischen AKW-Herstellern gesprochen. Und am Ende eines jeden Treffens stellten wir die Frage: Wieviel wird es denn kosten? Und in allen Fällen hörten wir: "Oh, das hängt von vielen Dingen ab." Am Ende habe ich selbst nach Daten gesucht. In der Fachzeitschrift "World Nuclear News-Letter"."

    Mikhalevich nimmt die Lesebrille ab, dreht sie zwischen den Händen. Nein, genau will er sich lieber nicht festlegen. Eines aber hat er seiner Regierung geraten: Bei den Preisverhandlungen ordentlich zu pokern. Die Russen gegen die Europäer auszuspielen. Und auf jeden Fall auf einen Tschernobylbonus zu achten:

    "Warum nicht? Die Reaktorproduzenten müssen sich darum bewerben, hier bauen zu dürfen. Denn in der öffentlichen Meinung, weltweit, muss das Atomkraftwerk, das hier gebaut wird, das sicherste sein. Darum hat Weißrussland eine Schlüsselfunktion, der Reaktorbau hier ist eine gute Reklame. Die Weißrussen sind sehr sensibel gegenüber dem Strahlungsthema. Ein Viertel der Bevölkerung lebt in einer belasteten Region."

    Mikhalevich weiß, dass das Vertrauen in die Wissenschaftler seit Tschernobyl erschüttert ist. Predigten die doch erst die Segnungen und die Sicherheit der Atomkraft und verschwiegen dann lange die Folgen. Darum setzt der Physiker jetzt auf einen Neuanfang, auf Überzeugungsarbeit, bei den Allerjüngsten.

    "Ich schreibe gerade ein Buch für Kinder über Atomenergie. Zusammen mit einem litauischen Autor. Wir schreiben dieses Buch für Kinder im Alter von sechs bis zehn Jahren. Das ist ein sehr schön illustriertes Buch."


    "Ein alter Imker erzählte mir (später hörte ich ähnliches auch von anderen):" Ich komme am Morgen in den Garten, und irgendwas fehlt, ein vertrautes Geräusch. Keine einzige Biene ... Keine einzige Biene war zu hören! Keine einzige! Was war das? Was war los? Auch am nächsten Tag flogen sie nicht aus. Und am übernächsten. Hinterher erfuhren wir von der Havarie im Atomkraftwerk, und das ist ganz in der Nähe. Aber lange wussten wir nichts. Die Bienen wussten Bescheid, aber wir nicht. Jetzt werde ich immer nach Ihnen richten". Noch ein Beispiel: Ich sprach mit Anglern, die an einem Fluss saßen. "Wir warteten darauf, dass man uns im Fernsehen etwas erklärte ... ... .. Uns sagte, wie man sich schützen kann. Aber die Regenwürmer ... .. Einfache Regenwürmer! Die verkrochen sich tief in der Erde, einen halben oder einen ganzen Meter tief. Wir kapierten natürlich nicht. Wir buddelten und buddelten. Wir fanden keinen einzigen Regenwurm zum Angeln."

    Als am 26. April 1986 der Reaktorblock IV in Tschernobyl außer Kontrolle geriet, kam es zur Kernschmelze. Die freigesetzte Radioaktivität war 400 Mal größer, als die Explosionen von Hiroshima und Nagasaki zusammen. Die radioaktive Wolke zog nach Norden, etwa zwei Drittel des Fallout gingen in Weißrussland nieder. Doch die Menschen dort erfuhren erst einmal nichts davon. Noch Tage später, am 1. Mai, ließ man sie überall im Land zu den traditionellen Aufmärschen antreten, im Süden von Belarus marschierten die Menschen über verstrahlte Straßen.

    Nach der Katastrophe wurden Hunderttausende - Soldaten und Milizangehörige - zu Aufräumarbeiten nach Tschernobyl geschafft. Arbeiteten zum Teil direkt am havarierten Block IV und setzten sich dabei ungeheuren Strahlendosen aus: Liquidatoren - so werden diese Menschen noch heute genannt. Viele von ihnen sind gestorben, und die Überlebenden kämpfen mit den Spätfolgen. Und um die Unterstützung, die ihnen der Staat damals versprochen hatte.


    Uns reicht Tschernobyl - Die Liquidatoren
    Mit gebeugtem Rücken fegt ein alter Mann den Parkplatz. Kleintransporter rangieren zwischen Containern und Mülltonnen, parken - oder verschwinden in einer von drei Hofeinfahrten. Verrostete Eisentore hängen in den Angeln, Dampf wabert aus maroden Fernwärmerohren. Anatoli Gniewka parkt seinen Kleinwagen, greift zum schwarzen Stoffbeutel, geht auf ein zweistöckiges Gebäude zu. Der Putz bröckelt, die Fenster im Erdgeschoss sind vergittert.

    Jede Woche kommt er hierher. Immer montags. Da trifft er sich mit seinen Kollegen in dem kleinen Büro der oppositionellen Sozialdemokraten. Ein paar knarzende Stühle, eine alte Bank mit einem Überhang bedeckt, ein kleiner Schreibtisch. Die verblichene, beigebraune Tapete ist an einigen Stellen abgewetzt. Darüber erlaufen die Stromkabel. "Chernobyl today" mahnt ein Poster an der Wand.

    Anatoli Gniewka rückt die Stühle um einen abgenutzten Holztisch, fingert dann einen roten, verblichenen Ausweis aus seiner Stofftasche:

    "Das ist mein Tschernobyl-Ausweis. Hier stehen Name, Vorname und Vatersname. Dieser Ausweis ist unbefristet und gilt für das gesamte Territorium der ehemaligen Sowjetunion. Das ist der Ausweis für diejenigen, die als Liquidatoren bei der Katastrophe gearbeitet haben."

    Gniewkas rechte Hand zittert. Der grauhaarige Offizier mit dem sorgfältig gestutzten Kinnbart ist schon lange frühverrentet. Er erkrankte an Schilddrüsenkrebs. Noch heute erinnert sich genau an den Tag im Jahr 1988, als er den Marschbefehl erhielt, vom sibirischen Nowosibirsk nach Tschernobyl. Mit dem Flugzeug ging es nach Kiew:

    "Man hat mich mit einem Auto abgeholt und in die 30-Kilometer-Zone gebracht. Das war schrecklich: Verlassene Häuser und Gärten, zerschlagene Fenster. Alles zugewachsen. Nur wilde Katzen und Hunde liefen herum. Und im Mund hatte ich so einen metallischen Geschmack, von der Radioaktivität."

    Anatoli und seine Kollegen mussten verstrahlte Erde abtragen, Häuser abreißen. Hunderttausende - sogenannte Liquidatoren - wurden Aufräumarbeiten in der verstrahlten Zone eingesetzt. Meist junge Militär- und Milizangehörige. Sie konstruierten den sogenannten Sarkophag, die notdürftige Abdeckung über dem zerstörten Reaktorblock, riegelten schließlich eine Zone im Umkreis von 30 Kilometern um den Reaktor hermetisch von der Außenwelt ab.

    Alexander Mikulin kommt herein: Jeans, beiges Hemd, eine Sonnenbrille im grauen Haar. Mikulin hält einen dampfenden Wasserkocher in der einen Hand. Plastikbecher und Teebeutel in der anderen: schwarzen Tee für die Gäste.

    "Ich war ein bisschen früher da in Tschernobyl. Ich bin wesentlich jünger. Aber wir beiden sehen gleich alt aus. Das ist der Einfluss von Tschernobyl, das die Jungen und die Alten gleich alt aussehen."

    Mikulin lacht. 47 Jahre ist er alt, Kriminalkommissar, seit zehn Jahre pensioniert, aus gesundheitlichen Gründen.

    "Ich bin relativ jung. Aber ich habe eine Handvoll Krankheiten, die sonst ältere Leute haben. Und wenn ich zum Arzt gehe, sagt der mir: Alexander, fangen sie an, ein vernünftiges Leben zu führen. Hören sie auf zu rauchen und zu trinken. Ich antworte dann: Ich rauche nicht, ich trinke nicht. Ich mache sogar Sport. Dann sagt er zu mir: Dann haben sie Pech gehabt."

    Mikulin zuckt mit den Schultern. Täglich muss er Medikamente schlucken. Ein junger Mann in einem alten Körper bin ich, sagt er. Jeden Montag trifft er sich mit anderen Liquidatoren, mit Anatoli zum Beispiel, dem Offizier. Sie diskutieren, schreiben Eingaben.

    "Wir wurden nach Tschernobyl geschickt - und zwar vom Staat. Er hat uns damals Garantien für unser weiteres Leben gegeben. Und zwar: soziale Garantien, materielle und gesundheitliche. Fast alle diese Garantien sind heute nichts mehr wert. Vielleicht sind maximal 20 Prozent geblieben."

    Medikamente müssen sie selber zahlen. Unterstützung für Angehörige gibt es kaum. Die Helden von einst sind politisch nicht mehr gefragt. Erinnern sie doch allzu offensichtlich an die Schattenseiten der Atomkraft, die zerstörerische Kraft der Strahlung:

    "Es liegt in der menschlichen Natur, dass man versucht alles Schlechte zu verdrängen. Man spricht heute vom Tschernobylsyndrom. Dass die Weißrussen damals in Panik geraten sind. Dabei war doch nichts Schlimmes passiert, einfach nur eine Katastrophe. Dass die Katastrophe aber viele Tausende Menschleben gefordert und Existenzen zerstört hat, ist heute in Vergessenheit geraten."

    Dagegen gehen sie jedes Jahr auf die Straße, immer am 26. April, dem Jahrestag der Tschernobylkatastrophe. Dann erinnern sie an die Folgen der Reaktorkatastrophe, die ein Viertel des Landes verstrahlte. Seit dem Regierungsbeschluss zum Reaktorbau aber, ist jede dieser Kundgebungen auch ein Protest gegen die aktuelle Atompolitik. Gegen eine Regierung die kein Geld für die Liquidatoren hat. Wohl aber für einen AKW-Neubau.

    "Wir brauchen das nicht, uns reicht Tschernobyl. Das ist eine komplizierte Anlage, die gebaut wird. Und wir haben keine Fachleute dafür. Und wo sollen wir den Brennstoff herkriegen. Und es ist auch kein Geheimnis, das alle AKW bombenfähiges Material liefern."

    Das waren "Gesichter Europas: AKW per Dekret - In Weißrussland wächst der Widerstand gegen Atomkraft", eine Sendung von Anja Schrum und Ernst-Ludwig von Aster. Die Musik suchte Babette Michel aus. Die Literaturauszüge entnahmen wir dem Band "Tschernobyl. Eine Chronik der Zukunft" von Swetlana Alexijewitsch, Berliner Taschenbuch Verlag 2006.

    Am Mikrofon verabschiedet sich Brigitte Helfer.