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Al Dschasira und die Demokratisierung

Der arabische TV-Kanal Al Dschasira ging am 1. November 1996 zum ersten Mal auf Sendung. Mit journalistisch unabhängiger Berichterstattung sollte der Sender zur Demokratisierung in der arabischen Welt beitragen. Bis Anfang dieses Jahres war davon, kaum etwas zu spüren. Dann bekam Al Dschasira jedoch eine zentrale Rolle beim arabischen Frühling.

Von Tobias Mayer | 29.10.2011
    "Präsident Ben Ali hat das Land verlassen - unter dem Eindruck einer Reihe von neuerlichen Demonstrationen in Tunis und in den Provinzen."

    Es war der erste Höhepunkt des sogenannten Arabischen Frühlings. Am Abend des 14. Januar 2011 brachte Al Dschasira die Nachricht, dass Tunesiens Staatschef Zine al-Abidin Ben Ali nach über 23 Jahren an der Macht zurückgetreten ist und mit dem Flugzeug das Land verlassen hat.

    Die tunesischen Sicherheitskräfte hatten in den Tagen zuvor versucht, Berichte von den landesweiten Protesten zu unterbinden, doch die Kameramänner von Al Dschasira und andere mutigen Journalisten ließen sich nicht einschüchtern. Der Ruf nach einem Leben in Würde, Freiheit und in demokratischen Verhältnissen ging um die Welt.

    Seit Anfang des Jahres berichtet Al Dschasira beinahe rund um die Uhr von den Brennpunkten der Revolutionen: erst Tunesien, dann Ägypten, Libyen, Jemen und Syrien.

    "Man hat Liveberichterstattungen gemacht, wo auch immer das ging, zum Beispiel Tahrir-Platz in Kairo."

    Aktham Suliman ist Deutschland-Korrespondent von Al Dschasira.

    "Und das hat zum Gefühl beigetragen: Wir sind wichtig - ich meine die Revolutionäre oder die jungen Menschen. Wir sind entscheidend. Und wir werden wahrgenommen. Das ist ganz wichtig, also die Wahrnehmung, ansonsten gehen sie alle nach Hause."

    Mit den arabischen Revolutionen festigte Al Dschasira seine Stellung in der arabischen Welt als wichtigster unabhängiger TV-Kanal.

    "Hinter jeder Nachricht steht ein Bild. Hinter jedem Bild steckt eine Geschichte. Hinter jeder Geschichte gibt es ein Ereignis. Wir suchen nach den wirklichen Hintergründen."

    Seit der Gründung 1996 hat Al Dschasira das kleine Pflänzchen Demokratie immer am Leben gehalten - in den Wohnzimmern der normalen Leute, wo Meinungsfreiheit bisher keinen Platz hatte. In kontroversen Diskussionssendungen konnten Zuschauer am Telefon offen ihre Ansichten äußern - etwas ganz Neues im Nahen Osten."

    Studiogäste wie Moderatoren nahmen kein Blatt vor den Mund und prangerten die Zustände in den korrupten verkrusteten Staaten der Region an.

    "Journalistisch hat man durch die 15 Jahre schon eine Linie gefunden, wo man sagt: Wir sind an der Seite der Massen, wir sind mehr für Demokratie, wir sind mehr für den kleinen Menschen auf der Straße."

    Doch lange Zeit schien man den Anspruch, den Nahen Osten durch kritische Berichterstattung zu verändern, nicht einlösen zu können. Vor fünf Jahren antwortete der Medienwissenschaftler Oliver Hahn im WDR auf die Frage, ob Al Dschasira zur Demokratisierung in der arabischen Welt beiträgt, noch folgendes:

    "Da fällt mir auf Anhieb relativ wenig ein. Kurz und gut: zehn Jahre Al Dschasira und politische Wirkung in Richtung Demokratie: sieht sehr bescheiden aus, keine großartigen Veränderungen in Richtung Demokratisierungsprozessen bisher."

    Heute, im Rückblick, wird man das vielleicht etwas anders bewerten. Die Entwicklungen von 2011 konnte allerdings niemand voraussagen. Aktham Suliman.

    "Vor einem Jahr war alles noch nicht absehbar, auch für uns, Al Jazeera, auch für die anderen arabischen Medien, für die arabischen Experten, für die arabischen Bürger. Das ist eine historische Entwicklung, die wirklich sich nicht vorahnen lässt."

    Nun sind einige Länder auf dem Weg zur Demokratie, aber der ist lang. Nur Tunesien hat die ersten freien Wahlen seiner Geschichte hinter sich. Doch den Einfluss von Al Dschasira auf diese Entwicklung sieht Aktham Suliman recht zurückhaltend.

    "Wir neigen in diesem Medienzeitalter dazu, alles mit Medien zu erklären: '89 die friedliche Revolution in Deutschland, nur weil die Ostdeutschen Westmedien empfangen konnten. Und die Demonstrationen in der arabischen Welt, auf der Straße, nur deswegen, weil Al Dschasira da ist. Das ist so nicht zutreffend. Nicht ein Medium demokratisiert eine Welt, nicht wir sind die Initiatoren. Also wenn die Widersprüche einer Gesellschaft den entscheidenden Punkt erreicht haben, dann finden Demokratisierungsprozesse statt. Und ein Medium kann das nur begleiten."