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Albert Memmi: Portrait du décolonisé arabo-musulman et de quelques autres ;

Mit der Geschichte des Kolonialismus tut man sich auch in Frankreich schwer. Nur allzu gerne haben viele Franzosen an den Mythos des verdienstvollen Exports von Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit geglaubt. Die Realität sah bekanntlich anders aus, und die Folgen beeinflussen nicht zuletzt heute den Umgang mit den Einwanderern aus den ehemaligen Kolonien. Der Schriftsteller Albert Memmi, 1920 in Tunis geboren und heute in Paris lebend, hat sich seit 50 Jahren in die Diskussion um Kolonisation und Rassismus engagiert eingemischt. Jetzt hat er in Frankreich ein neues Buch veröffentlicht, das Portrait des Dekolonisierten.

Von Ruth Jung | 06.12.2004
    Sofern man nicht bloße Augenwischerei betreiben will, bleibt als einziger Ausweg aus der kolonialen Unterwerfung die Revolte; früher oder später werden die Kolonisierten dies erkennen müssen. Denn ihre Lage ist eine absolut desolate und erfordert eine radikale Auflösung: einen Bruch, keinen Kompromiss. Der Kolonisierte war seiner Vergangenheit entrissen und blockiert in seiner Zukunft; seine Traditionen sterben ab, weil er die Hoffnung verloren hat, eine neue Kultur erringen zu können.

    so Albert Memmi 1957. Sein Buch Porträt des Kolonisierten, dem er das Porträt des Kolonisators voranstellte, war eine scharfe Abrechnung mit dem Kolonialsystem. Dieser 1980 auch auf deutsch erschienene Text gilt als grundlegendes Werk der Kolonialismuskritik: eine radikale Bestandsaufnahme des moralischen Bankrotts der Europäer und zugleich eine bahnbrechende Analyse des spezifischen Machtverhältnisses zwischen Kolonisator und Kolonisiertem. Einem Machtverhältnis, aus dem eine pervertierte Form der Bindung erwachsen ist - die es zu zerschlagen gilt. Seinerzeit erregte das Buch des damals noch unbekannten Intellektuellen jüdisch-arabischer Herkunft die Gemüter im kolonialen Nachkriegsfrankreich. Jean Paul Sartre, der das Vorwort verfasste, nannte das Portrait du colonisé eine grundlegende nüchterne Bestandsaufnahme, die jeder Franzose gelesen haben sollte.

    Heute lebt der 1920 in Tunis geborene Memmi in Paris und ist als Professor der Soziologie sowie Autor zahlreicher Romane und Sachbücher eine bekannte Persönlichkeit. Seine Rassismusdefinition ist die in der Fachwelt am meisten akzeptierte und wurde in die Encyclopedia Universalis aufgenommen. Memmis autobiographisch gefärbten Romane spiegeln die bitteren Erfahrungen des Autors, der sich aus Armut und Analpabethentum seiner tunesischen Herkunft befreit und es zu einem angesehenen Intellektuellen gebracht hat. Fast fünfzig Jahre nach Entlarvung des Kolonialismus als der "großen kollektiven Aggression Europas" legt der 83-jährige jetzt das Porträt des Dekolonisierten vor; einen Essay, der mit dem Preis der Académie française für francophone Literatur ausgezeichnet wurde:

    Selten hatte ich so wenig Lust mit der Arbeit an einem Buch zu beginnen wie dieses Mal; wegen des peinigenden Gefühls, dass meine Ausführungen unverstanden bleiben oder verdreht werden würden, dass sie die Schwierigkeiten von Menschen in einer schwachen Position noch steigern könnten, von Menschen, die man doch verteidigen muss. Trotzdem hielt ich es für dringend geboten, den Ex-Kolonisierten endlich eine andere Stimme hörbar zu machen, als die ihrer falschen Freunde.

    gibt Memmi den Ton seiner "Bestandsaufnahme" vor: es spricht ein zorniger, enttäuschter alter Mann. Ein überzeugter Atheist und Denker, der sich auf Voltaire und Kant berufend, Aufklärung und Bildung für die einzig tragenden Säulen eines befreiten Seins hält. Das Heraustreten aus "selbstverschuldeter Unmündigkeit" sieht Memmi in keinem der unabhängig gewordenen ehemaligen Kolonialländer in Angriff genommen, am allerwenigsten in den arabischen. Sein Vorwurf gilt einer Haltung, die dem Kolonialismus und dem Kapitalismus ausschließlich die Schuld am Gescheitertsein zuweist, anstatt sich den selbstverschuldeten Versäumnissen zu stellen. Zunächst beschreibt Memmi die Zustände in den ehemaligen Kolonialländern; sodann die Lage des "Migranten" in Frankreich, um schließlich dem "Sohn des Migranten" den Spiegel vorzuhalten. Von Frauen ist die Rede entweder als Hoffnungsträgerinnen oder schlicht als "Frauen des Migranten"; als Subjekt werden sie nicht angesprochen. Der Leser arbeitet sich durch eine detaillierte Aufzählung erschreckender Fakten, in der Hoffnung der Autor möge den Schimmer einer Antwort auf das drängende Warum und die komplexen Hintergründe aufscheinen lassen. Doch eben das tut er nicht. Bestand der Erkenntniswert der Arbeit von 1957 in der scharfsichtigen Analyse der von Europäern etablierten Machtverhältnisse, die auf der extremsten Form der Verdinglichung basierten, so wird dieser Europäer fünfzig Jahre später höflich ausgespart. Gerade so, als würde er den nach Frankreich eingewanderten "Ex-Kolonisierten" die beste aller Welten bieten - und statt sich dankbar zu erweisen, liefern sich diese mehr und mehr radikalen Islamisten aus. Soweit sich Memmis Zorn gegen den erstarkenden Islamismus und die Rückkehr des Religiösen richtet, kann man seine Argumente noch nachvollziehen, hatte er doch schon 1957 gewarnt:

    Der Kolonisierte muss aufhören, sich über die Kategorien des Kolonisators zu definieren. Und dazu gehört alles, was ihn negativ abgrenzt, wie dieser berühmte und absurde Gegensatz Orient-Okzident, den der Kolonisator ständig in seinem eigenen Interesse bemüht. Was soll das denn bedeuten: Rückkehr zum Orient.

    Wenn sich dieses "zurück" als Rückkehr zu religiösen Traditionen und Werten erweist, heißt das nichts anderes als in die Falle des absurden ideologisch konstruierten Bruchs getappt zu sein. Zurückgebliebenheit und Unmündigkeit der Islamisten und ihrer wachsenden Anhängerschar zu entlarven, ist Anliegen des Buches, denn:

    alle Religionen sind intolerant (...). Die Konzeption eines 'gemäßigten Islam’, den gewisse Leute nicht müde werden zu verteidigen, ist ein Missverständnis: es gibt keine gemäßigte Religion. (...) Und selbst diejenigen arabischen Intellektuellen, die sich in europäische Großstädte zurückgezogen haben, verharren noch im Schweigen, als hätten sie das Rede- und Kritikverbot ihrer Herkunftsgesellschaft ein für alle Mal verinnerlicht.

    So notwendig es ist, Eigenverantwortung einzufordern und die Versäumnisse arabischer Intellektueller anzuprangern, die Klage gerät ihm zur Gardinenpredigt, wenn er – als Soziologe! - die ökonomischen und sozialen Verheerungen, die der Kolonialismus hinterlassen hat, nicht in den Blick nehmen will. 1957 hatte Memmi die totale Entfremdung des Kolonisierten aufgezeigt, sein Aus-der-Geschichte-Geworfensein, das noch Generationen weiterwirken würde. Wie kann er heute dem "Sohn des Einwanderers" vorwerfen, sich selbstzerstörerisch Gewalt und Konsumismus auszuliefern, statt die Bildungsmöglichkeiten in Frankreich wahrzunehmen? Der Appell an die individuelle Vernunft mutet geradezu naiv an; weit schwerwiegender jedoch ist die verallgemeinernde Beschreibung einer ins Extreme gesteigerten Anspruchshaltung des Einwanderers: eine Beschreibung, die Gefahr läuft Klischees zu bedienen, mit denen der Front National hantiert.

    Das Aufnahmeland ist zwar nicht das Paradies auf Erden, doch hat der Einwanderer hier Arbeit gefunden und vor allem soziale Rechte, die ihm niemand streitig macht, außer vielleicht einer verschwindenden Minderheit von Rassisten, die ihrerseits von der Bevölkerungsmehrheit verurteilt werden; er kann sich kostenlos beim Arzt behandeln lassen seine Mietkosten werden fast vollständig von der Sozialversicherung getragen; er bekommt alle möglichen Hilfen aus der Familienversicherung, eine allgemeine Krankenabsicherung, und sogar die Unterstützung für Alleinerziehende, selbst wenn er sich dafür erst scheiden lassen muss, um hernach unbekümmert wieder zusammenzuleben; wenn möglich, erhält er auch noch Unterstützung für politische Flüchtlinge. Und wenn es gar nicht anders gehen sollte, ändert er auch seinen Namen, um in den Genuss aller Sozialrechte zu kommen. Dafür braucht man zwar neue Papiere, doch die zahlreichen Fälscherwerkstätten machen auch dies möglich; die Kameruner, so heißt es, seien darin am besten.

    Wenn man weiß, dass laut einer von Le Monde zum Jahresende 2003 in Auftrag gegebenen Umfrage jede vierte Franzose Zustimmung zu den Positionen des Front national bekundet, kommt einem diese Beurteilung, was die Ablehnung von rassistischen Positionen in Frankreich angeht, einigermaßen wirklichkeitsfremd vor; und in einer solch undifferenzierten "Bestandsaufnahme" mag man weniger eine konstruktive Provokation erkennen, als schlicht eine unverantwortliche Verallgemeinerung.

    Insgesamt fällt Memmi weit hinter seine früheren Erkenntnisse zurück; mit keinem Wort erwähnt er die Arbeiten des 1961 gestorbenen Psychiaters und Befreiungskämpfers Frantz Fanon, der in seiner häufig missverstandenen Streitschrift Die Verdammten dieser Erde Memmis Gedanken weitergeführt und radikalisiert hatte. Fanon, der während seiner Tätigkeit in einem psychiatrischen Krankenhaus in Algerien mit den Auswirkungen des Gezeichnetseins durch koloniale Gewaltherrschaft konfrontiert worden war, wusste, dass Dekolonisierung ein langwieriger Prozess sein würde und nationale Unabhängigkeit nur der erste Schritt. Er warnte vor Clan-Wirtschaft und Korruption ebenso wie vor einer unkritischen Übernahme westlicher Ideen. Es ist zu bedauern, dass Memmis Porträt des Dekolonisierten zur Verdrängung der grundlegenden Einsichten Frantz Fanons beiträgt, statt sie zu diskutieren und weiter zu denken.

    Ruth Jung war das über : Albert Memmis Porträt des Dekolonisierten, erschienen bei Gallimard in Paris. Das Buch hat 167 Seiten zum Preis von 15 Euro.