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Alberto Angelo

Telling stories is telling lies

Michael Langer | 22.07.2003
    Das war einer der vielleicht wichtigsten ästhetischen Sprüche des B.S. Johnson: Mach keine Geschichten! Erzähl´ bloß keine story. Geschichten erzählen, heißt Lügen erzählen, sagte B.S. Johnson, der eigentlich Architekt werden wollte, bevor aus ihm dann doch einer der (aller)besten englischen Schriftsteller des 20. Jahrhunderts wurde. Weil er aber vom Lob allein nicht leben konnte, musste er immer wieder als Aushilfslehrer jobben.

    Mit Geschichtenerzählen wollte er sich nicht lange aufhalten, denn damit konnte es, seiner Meinung nach, nicht weiter gehen, schon gar nicht in der Literatur. Das klingt höchst anspruchsvoll & womöglich ein wenig verkopft. Aber seine Bücher sind gerade deswegen unterhaltsam und manchmal sogar zum Brüllen komisch. Aber keine Unterhaltungsliteratur. Denn Johnsons Methode ist die "Konstruktion" und nicht die "Unterhaltung". Nicht von ungefähr bezieht sich er sich deshalb auch auf Architektur und Architekten, weil, wie er sagt, deren ästhetische Probleme grundsätzlich mit funktionalen Problemen verbunden seien. Der Literat und sein Bauplan: "Die Form folgt der Funktion", so sprach´s Louis Sullivan, der Mentor von Frahk Lloyd Wright, was Johnson beim Verfassen seiner Romane offensichtlich befolgte, wobei ihm eine Losung des Architekten Mies van der Rohe besonders wichtig war:

    Die Form aus dem Wesen unserer Aufgaben zu erschaffen mit den Methoden unserer Zeit - das ist unsere Aufgabe.

    Die Form war für Johnson allerdings nie irgendein beliebiges Ziel oder gar Selbstweck, sondern lag im gelungenen Ergebnis seiner Bücher, die von vielfältigen Schreibweisen leben. In seinem Roman Albert Angelo , der 1964 in London herauskam, arbeitet er mit allerlei setzerischen und typographischen Finessen, die etwa innere Stimmen sichtbar machen, er arrangiert Kolumnen & Plakattexte, treibt Milieustudien und Sozialkritik, ventiliert dabei Bildungsfragen, mischt den Geist der englischen Klassengesellschaft auf, mischt Dialoge, Gedankenfetzen, Dramolette und schließlich auch Schulaufsätze unter seine witzige, ironische und mitunter tieftraurige Prosa, die zudem mit Lebensentwürfen und Liebesmodellen spielt. B.S. Johnson führt uns durch die Welt des glücklosen Albert Angelo, der ein Looser ist, wie er im Buche steht.

    Der rundliche Mr. Albert Albert, genannt Albert Angelo hat es leider nicht sehr weit gebracht. Eigentlich ist er Architekt, aber keiner interessiert sich für seine Entwürfe. Seinen Lebensunterhalt verdient er als Aushilfslehrer, aber keiner will etwas von seinem Unterricht wissen, zumal auch viele seiner Schüler zypriotischer Herkunft nur griechisch und türkisch und eben kein Englisch verstehen.

    Albert liebt seit Jahren nur eine Frau namens Jenny; die aber hat ihn längst verlassen: wegen eines Krüppels, der sie nötiger braucht. Albert kommt sich überflüssig vor.

    Erzähl mir eine Geschichte, erzähl mir eine Geschichte. - Die Kinder.

    Über Albert Angelo aus den Aufsätzen seiner Schüler:

    Was ich von Albert Schweinebacke halte: Sir sie können einem ganz schön auf den Geißt gehen mit ihren blöden Regeln und forschriften.

    Jedes Mal, wenn er auf die Waage steigt sagt die Waage: immer schön der reihe nach.

    Im großen und ganzen sind Sie dämlich und Sie sind ein fetter Großkotz Ochse Hirnie Doofi Rabbi Arsch mit Ohren.

    B. S. Johnson, der übrigens ein talentierter Filmemacher war, hielt auch in der Literatur viel von harten Schnitten. Und gerade bei "Albert Angelo", nahm er es damit nicht bloß erzähltechnisch ernst, sondern sogar wortwörtlich: Feinsäuberlich sind in da rechteckige Löcher in einige Seiten gestanzt: Gucklöcher in die Zukunft dieses Romans, damit man rechtzeitig im Bilde sei - darüber, wie es weitergehen könnte.

    Das ist lustig, aber eben nicht nur ein Gag, sondern, so wie der Roman letztlich gebaut ist, gut begründet, kein überflüssiger Zierrat, und für den Leser zudem eine hübsche Irreführung. Denn auch ein Fenster zum Hof zeigt bekanntlich nur einen Ausschnitt. Suspense: in der Kunst wie beim Literatur-Krimi, nur soviel: Wenn man auf Seite 183 schon mitkriegt das sechs Seiten später ein Messer ins Spiel kommt, lässt das nichts Gutes ahnen für Angelo´s Albert, der halt nicht nur ein Engel ist. Man kann natürlich auch zurück schauen von Seite 189 in die Vergangenheit des Romans oder wiederum voraus in die Historie der englischen Literatur.

    Auch in seinen anderen Bücher ist Johnson ähnlich risikofreudig vorgegangen. Die Kapitel seines Romans "Die Unglücksraben" z.B., ließ er einzeln in einer schwarzen Pappschachtel herausbringen, damit der Leser nach eigenem Gusto über die Reihenfolge des Erzählens & des Erzählten bestimmen könne. Das war dann eigentlich schon kein Buch mehr. Aber aufregende Literatur - wie "Albert Angelo". In solchen Fällen ist man in der Regel schnell mit dem Etikett "experimentell" zur Hand, einem durchaus fragwürdigen Begriff ist, der Johnson verständlicherweise nicht gefiel:

    Ich protestiere dagegen, das das Wort "experimentell" auf mein Werk angewandt wird. Für die meisten ist "experimentell" fast immer ein Synonym für "missglückt".

    Und also ein Schimpfwort.

    Natürlich mache ich Experimente, aber die missglückten verschwinden unauffällig in der Schublade, und was ich zu veröffentlichen gedenke, ist nach meinem Verständnis geglückt.

    Einer von Johnson´s Filmen, die er fürs Fernsehen drehte, hieß A fat man on a beach . Johnson steht am Strand, fuchtelt mit den Armen herum, liest Gedichte vor und philosophiert über seine Poetologie, so wie er das auch in "Albert Angelo" tut: Ein Mann auf seinem einsamen Posten. Aber einer, der das Leben für keinen Roman hielt.

    Johnson sitzt jetzt am Strand und wirft er mit Kieseln auf eine wacklige Pyramide aus Steinen. Ob das Zufall sei, wenn er treffe? Man könne ja nicht bestreiten, dass er es versuche. Plötzlich trifft er. So ein Zufall. Warum könne denn nun ein Film oder ein Buch nicht den Zufall feiern? Muss denn immer alles so fein säuberlich sein und glatt ablaufen? Das Leben erzähle ja auch keine Geschichten, und Geschichtenerzählen, heiße Lügen erzählen --

    Das Leben sei chaotisch, im Fluß, willkürlich; es lasse Myriaden von Fäden einfach unverknüpft liegen, unordentlich. Schriftsteller können, so Johnson, dem Leben doch eine Geschichte nur durch strenge Auswahl abgewinnen, und das bedeute nun einmal: Verfälschung. Es gehe ihm um die Bruchstückhaftigkeit des Lebens,

    Um Versuche, die fortschreitende Bruchstückhaftigkeit des Lebens wiederzugeben und mit Hilfe von Techniken zu spiegeln, eine Collage aus Bruchstücken meines eigenen Lebens, dem armseligen Krimskrams, dem Nippes, ein daraus zusammengesetztes Ding also.

    Die Form aus dem Wesen unserer Aufgaben zu erschaffen mit den Methoden unserer Zeit - das ist unsere Aufgabe. Material gibt es überall. Die Art, wie man es zusammensetzt ist das Entscheidende und das Besondere. Ich bin mir aber dessen bewusst, dass nicht nur Formprobleme, sondern auch Schreibprobleme existieren. Die Form ist nicht das Ziel, sondern das Ergebnis. Wäre die Form das Ziel, dann würde es sich um Formalismus handeln, und Formalismus lehne ich ab.

    Der Romancier kann heutige Realität in erschöpften Formen weder gültig noch erfolgreich darstellen. Wenn es ihm ernst ist, wird er eine Aussage treffen, die versucht, die Gesellschaft in eine Richtung zu verändern, die er für besser hält, und er wird zumindest implizit ein Vertrauensvotum abgeben für die Entwicklung der Form, in der er arbeitet. Beide Handlungsweisen sind radikal; das ist unvermeidlich, es sei denn, er wählt den Eskapismus. Die heutige Realität verändert sich rasch; das war immer so, aber für jede Generation scheint sich das Tempo zu beschleunigen. Die Romanciers müssen (indem sie erfinden oder andere Medien beleihen, bestehlen oder zusammenwürfeln) Formen entwickeln, die mehr oder weniger befriedigend eine sich ständig verändernde Realität erfassen können, ihre e i g e n e Realität und nicht die von (Charles) Dickens oder (Thomas) Hardy, ja nicht einmal die von James Joyce.

    Johnson opponierte gegen den seinerzeit tonangebenden realistischen Roman, der vorgab Wirklichkeit abzubilden, aber mit mehr oder weniger gut erzählten Geschichten, seine eigene Künstlichkeit bloß verschleierte Das Verhältnis von Realität und Fiktion bekam bei ihm eine neue Spannung. Wenn Kritiker sich an (deutlichen) autobiographischen Bezügen stießen, betonte Johnson, dass er ja gerade kein Geheimnis daraus mache, Leben in Literatur zu verwandeln (und so verlässlichere Aussagen über "Wirklichkeit" zu treffen): Er habe kein Interesse daran, in seinen eigenen Romanen Lügen zu erzählen. Er halte es für eine nützliche Unterscheidung zwischen Literatur und anderem Geschriebenen, dass erstere einen etwas Wahres über das Leben lehrt: Aber wie solle man Wahrheit mit einem Ausdrucksmittel der Fiktion herüberbringen? Die beiden Begriffe "Wahrheit" und "Fiktion" seien Gegensätze.

    Fiktion und Roman seien dagegen nicht synonym, bedeuteten eben nicht das Gleiche - wie viele anscheinend meinen und die beides, dann auch austauschbar verwenden. Der Roman sei in dem Sinne eine Form wie auch das Sonett; innerhalb dieser Form könne man Wahrheit oder Fiktion schreiben. Johnson wörtlich:

    Ich habe mich dafür entschieden, Wahrheit in der Form eines Romans zu schreiben.

    Ich schreibe, weil ich etwas mitzuteilen habe, das ich im Gespräch, in persona, nicht hinreichend mitzuteilen imstande bin... Vor allem schreibe ich, um mich von der Bürde zu befreien, Leid ertragen zu müssen, den Schmerz einer Erfahrung: damit er in einem Buch ist und nicht in meinem Kopf.

    B.S. Johnson mag ein trauriger Mensch gewesen sein, aber seine Bücher haben etwas Tröstliches. Das klingt nach Klischee, aber es zählt nun einmal zu seinen Qualitäten, dass er bspw. Melancholie, Trauer und Traurigkeit (be-)schreiben kann, ohne sentimental zu sein. Und Ärger vertreibt Johnson, der ohne Klischees auskommt, mit Humor fast jeweder Art, ohne elende Zustände zu ignorieren.

    Eines Abends trifft Albert Angelo seine Freunde im Pub:

    Also, als ich nach den Ferien zurückkam, einigermaßen erholt wie gewöhnlich, da hockte meine Klasse kichernd über ein paar Zeitungsausschnitten. (...) "Tätigkeit an Vandalenschule treibt Lehrer in den Selbstmord" stand da, und es war ein Artikel über den Selbstmord meines Vorgängers in den Pfingstferien. Burrouhgs hieß er, Bunny haben sie ihn genannt. (...) Machen Sie sich weiter keine Gedanken über Burroughs, sagte der Direktor zu mir, er hatte viele Gründe Selbstmord zu begehen. Ja, dachte ich, aber außerdem hatte er auch dreiundvierzig Gründe in der Schule, die mir die Klasse auf den Kopf stellen. Die Verhältnisse an dieser Schule sind so extrem, daß jeder Lehrer, der von außen dazukommt, von vorneherein schon verloren hat. (...) Ich komme mir vor, als arbeitete ich die ganze Zeit auf einem Außenposten der Zivilisation.

    Als das Buch fertig war und (im Commenwealth) ausgeliefert wurde, führte es doch noch zu einer humorigen Geschichte, wie sie das Leben schrieb -- etwa über neugierige Zensoren, die anscheinend bloß zu faul zum Lesen waren.

    Die australischen Zollbehörden beschlagnahmten nämlich seinerzeit, also Mitte der 60er Jahre, "Albert Angelo", bei dem, wie gesagt, aus guten Gründen einigen Seiten etwas fehlte. Aber die zuständigen Stellen wollten >jenes Buch mit den Löchern < erst dann wieder freigeben, wenn man ihnen die Obszönitäten gezeigt hatte, die - wie sich Johnson ausdrückte, "ihrer festen Überzeugung nach herausgeschnitten worden waren" ...

    Albert ging zur Musikbox und warf einen Shilling ein. "Ich habe letztens einen Roman gelesen, in dem ein Lehrer im Eastend die Herzen der Kinder mit Liebe und Zuwendung für sich gewonnen hat, mit Moral und Ehrlichkeit hat er sich über alle Hindernisse hinweggesetzt - das ist doch Gefühlsduselei und Wunschdenken in Reinkultur.