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Alberto Manguel: "Die verborgene Bibliothek"
Das verlorende Paradies

Der argentinische Autor und Weltbürger Alberto Manguel hatte im französischen Mondion mitsamt seiner 40.000 Bücher umfassenden Bibliothek eine Heimat gefunden. Nach 15 Jahren musste er diesen Ort, der für ihn das Paradies war, verlassen. Jetzt schreibt Manguel über diesen Verlust.

Von Margrit Klingler-Clavijo | 19.07.2018
    Buchcover: Alberto Manguel: "Die verborgene Bibliothek. Eine Elegie und zehn Abschweifungen"
    Alberto Manguel musste seine Bücher 2015 aus "kleingeistigen und bürokratischen" Gründen einpacken (Buchcover: S. Fischer Verlag, Foto: dpa / picture alliance / EPA/ALEJANDRO GARCIA)
    Es war das Paradies auf Erden, das Haus in Mondion, einem winzigen Dorf im französischen Tal der Loire, wo Alberto Manguel seine im Lauf der Jahre erworbenen Bücher in einer einzigen Bibliothek zusammenführte. 2015 musste er jedoch seine Bibliothek wieder einpacken und in Kanada lagern, ehe er mit seinem Lebensgefährten nach New York übersiedelte.
    Alberto Manguel: "Es gehört zur Natur eines Paradieses, dass wir es verlieren. Ich habe das Paradies verloren, das Mondion für mich war. Ich habe fünfzehn Jahre dort gelebt. Als ich mit meinem Lebensgefährten nach einem geeigneten Ort für die Bibliothek suchte, fuhren wir durch verschiedene Gegenden von Kanada und Frankreich. Dann bat mich meine französische Verlegerin, einen Vortrag in Poitiers zu halten, das ich nichtkannte. Bei der Suche nach einem Haus stießen wir auf ein Presbyterium aus dem 12. oder 13. Jahrhundert, das neben einer Kirche aus dem 11. Jahrhundert lag. Wir wussten sofort, dass das der richtige Ort war. Wir brauchten über ein Jahr für den Ausbau. Irgendwann war es soweit, und ich konnte meine Bücher – damals waren es zwischen 25.000 und 30.000 – in die Regale stellen. 2015 musste ich sie wiedereinpacken. Mittlerweile sind es 40.000 Bücher in Kisten, die in Quebec in einem Depot meiner kanadischen Verlegerin lagern."
    Die Beweggründe dieses Umzuges werden in dieser Essaysammlung nicht erhellt, Alberto Manguel begnügt sich mit dem spärlichen Verweis auf "kleingeistige und bürokratische" Gründe. Der Verlust der Bibliothek schmerzt, denn Bücher sind für einen Leser wie Alberto Manguel keine Objekte, sondern Lebewesen, Weggefährten, Trostspender; Ratgeber:
    "Ich habe mein Leben lang gewusst, dass mir die Literatur hilft zu leben, vor allem als Leser, doch auch beim Schreiben. Als ich diesen Verlust erlitt, wusste ich, dass ich ihn in Worte fassen musste. Nicht, um darüber hinwegzukommen, sondern um mir einen Ort zu schaffen, von dem aus ich die Bücher betrachten könnte. Ich wusste, es würdeeine Elegie werden, allerdings gingen mir dabei so viele verschiedene Dinge durch den Kopf, dass ich dem Werk schließlich den Untertitel 'eine Elegie und zehn Abschweifungen' hinzufügte."
    Transformation durch Verlust
    Alberto Manguel klagt nicht über den Verlust seiner Bibliothek. Der Verlustschmerz steht vielmehr am Anfang einer intellektuellen Autobiographie, die von seiner Bibliothek und seinen Lektüren ausgeht und relativ wenig aus seinem ereignisreichen Leben preisgibt. In seinen imaginären Streifzügen durch seine abhanden gekommene Bibliothek stimmt er ein Loblied auf die Literatur und das Lesen an, auf die Wirkmächtigkeit von Imagination, Traum und Erinnerung in Kunst und Literatur.
    In den zehn Abschweifungen wird der künstlerische Schaffensprozess ergründet, der Umgang mit Wort und Sprache, mit Lexika und mit Wörterbüchern, gespickt mit Querverweisen auf die Werke langjähriger Lektüre - und Weggefährten, unter ihnen Borges, Kafka, Dante.
    Der Verlust hat auch sein Gutes, sensibilisiert er doch für die wesentlichen Dinge im Leben, stimuliert die Erinnerung und die Vorstellungskraft. Alberto Manguel konstatiert, dass die Texte, die ihm viel bedeuteten, im Gedächtnis gespeichert wurden und jederzeit abrufbar sind. Seine jüdische Großmutter mütterlicherseits, die im Russland der 1920er Jahre Familie und Freunde, Sprache und Besitz verlor, und die nach Buenos Aires emigrierte, lernte durch diese Verlusterfahrungen die Erinnerung schätzen. Manguel schreibt:
    "Es ist nicht schlimm, wenn man etwas verliert, denn dann lernt man, dass man sich nicht an den Dingen erfreuen soll, die man besitzt, sondern an denen, die man in der Erinnerung bewahrt. Es ist gut, sich an das Gefühl des Verlustes zu gewöhnen."
    Offen für die Geschenke des Lebens
    "Ich habe mir in der Deutschen Nationalbibliothek in Frankfurt eine wunderbare Ausstellung über das deutsche Exil in der Nazizeit angesehen. Die Ausstellung verdeutlicht, dass jedem von uns das Exil drohen könnte. Das zeigt, dass der Verlust nicht nur das betrifft, was wir hinter uns lassen, sondern uns auch verpflichtet, etwas Neues zu schaffen. Es ist ein Lebenszyklus. Ich vermute, dass wir ohne Verlust nicht dieses Gefühl von Freude empfinden, das uns Menschen und Dinge bereiten."
    Als Alberto Manguel erfuhr, dass der kanadische Theaterregisseur und Schauspieler Robert Lepage seinen Essay "Die Bibliothek bei Nacht" als Vorlage für eine Performance über Bibliotheken verwenden wollte, freute er sich sehr. Als ihm dann noch mitgeteilt wurde, dass man für diese Performance seine verlorene Bibliothek rekonstruiert hatte, war dies seinen Worten zufolge fast so "als wäre mir der Geist eines alten, unendlich lieben Freundes erschienen."
    Lepages Performance ermöglicht es Alberto Manguel, den Verlust der Bibliothek zu verkraften und dem Unerwarteten den Weg zu ebnen. Ende 2015 wurde Alberto Manguel, obwohl er seit 1969 nicht mehr in Buenos Aires lebte, zum Direktor der argentinischen Nationalbibliothek ernannt:
    "Das Problem der argentinischen Nationalbibliothek ist wie bei allen anderen Institutionen Argentiniens das politische und bürokratische Chaos. Um diese Bibliothek zu einem Symbol nationaler Identität zu machen, die sie sein sollte, um sie zu der Universalbibliothek zu machen, die Borges vorschwebte, müssen wir uns tagaus, tagein mit den Widrigkeiten der Bürokratie herumschlagen, mit der Staats-und Gremienpolitik."
    Borges, einzigartig wie der Himalaya
    Anfang Juli 2018 ist Alberto Manguel aus gesundheitlichen Gründen zurückgetreten. Seine größte Errungenschaft ist zweifellos der Erwerb bedeutender literarischer Nachlässe, allen voran der von Silvina Ocampo und Bioy Casares. Als Direktor der Nationalbibliothek hat er sich nie in der Nachfolge von Jorge Luis Borges gesehen:
    "Borges hat keinen Nachfolger, er ist einzigartig wie der Himalaya. Ich habe auf der Stelle von Borges gearbeitet. Der Schatten von Borges wird immer in der Bibliothek, überall in Argentinien und in der Literatur sein. Niemand kann außerhalb des Schattens von Borges schreiben, weder auf Urdu, Deutsch, Spanisch oder in einer anderen Sprache. Borges beeinflusst alle Literaturen, selbst wenn man ihn nicht gelesen hat. Ich war einer der vielen Vorleser von Borges. Ich war nicht mit Borges befreundet, stand ihm nicht nah. Ich war eine Stimme."
    Wer sich auf Alberto Manguels Essayband "Die verborgene Bibliothek. Eine Elegie und zehn Abschweifungen" einlässt, möchte weiterlesen, notfalls das Depot stürmen, in dem die einzigartige Bibliothek lagert, die er so liebevoll und sachkundig heraufbeschwört.
    Alberto Manguel: "Die verborgene Bibliothek. Eine Elegie und zehn Abschweifungen"
    aus dem Englischen von Achim Stanislawski
    S. Fischer Verlage, Frankfurt a.M., 192 Seiten, 18 Euro.