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Albrecht Dürers "Melencolia I"
"Unser blöd Gemüt kann zur Vollkommenheit nicht kommen"

Er war einer der einflussreichsten europäischen Künstler: Albrecht Dürer. Weltberühmt sind seine "Betenden Hände" oder das "Rhinozeros". Renaissance und Humanismus prägten ihn. Auch die Schriften Martin Luthers hat Dürer regelrecht verschlungen. Sein Meisterstich "Melencolia I" gewährt Einblick ins Denken Dürers - und ins Denken der Reformationszeit.

Von Astrid Nettling | 01.03.2017
    Eine Frau betrachtet am Donnerstag (16.02.2006) in der Neuen Nationalgalerie in Berlin das Bild "Melancholia" von Albrecht Dürer. Das Kunstwerk ist Teil der Ausstellung "Melancholie. Genie und Wahnsinn in der Kunst" die von Freitag (17.02.2006) bis zum 07.05.2006 in der Neuen Nationalgalerie in Berlin fast 400 Gemälde und Skulpturen aus zwei Jahrtausenden zeigt.
    "Melencolia I" - der berühmte Kupferstich von Albrecht Dürer (dpa / Steffen Kugler)
    Das sinnende Haupt lastet schwer auf ihrer linken Hand. Bewegungslos sitzt die kräftige Frauengestalt mit ihren mächtigen Flügeln auf einer flachen Steinstufe. Gedankenvoll richtet sie den Blick in eine unbestimmte Ferne. In ihrem Schoß ruht zugeklappt ein Buch, die rechte Hand hält einen aufgeschlagenen Zirkel. Zu ihrer Rechten hockt auf einem Mühlstein ein dösender Putto, davor liegt zusammengerollt ein schlafender Hund.
    Ein seltsames Tier
    "Melencolia I" lautet der berühmte Kupferstich von Albrecht Dürer. Geschaffen hat ihn der Maler 1514. Drei Jahre bevor Martin Luther in Wittenberg mit seinen Thesen an die Öffentlichkeit dringt. Als Dürer diesen dritten seiner so genannten. "Meisterstiche" vollendet, ist er 43 Jahre alt.
    Allerhand Werkzeug liegt achtlos verstreut vor der Frauengestalt auf dem Boden. Eine Säge, ein Rundhobel, ein Streichmaß und ein Richtscheit. Daneben eine große Kugel. Dahinter ragt ein riesiges Rhomboeder ins Bild. Nichts rührt sich, alles scheint von lähmender Untätigkeit befallen. Am fernen dunklen Horizont fliegt ein seltsames Tier durchs Bild - einer schreienden Fledermaus ähnlich. Auf seinen weit aufgespannten Flügeln ist der Titel dieses Meisterstichs von Dürer zu lesen: "Melencolia I".
    Eine Frau betrachtet am Donnerstag (16.02.2006) in der Neuen Nationalgalerie in Berlin das Bild "Melancholia" von Albrecht Dürer. Das Kunstwerk ist Teil der Ausstellung "Melancholie. Genie und Wahnsinn in der Kunst" die von Freitag (17.02.2006) bis zum 07.05.2006 in der Neuen Nationalgalerie in Berlin fast 400 Gemälde und Skulpturen aus zwei Jahrtausenden zeigt.
    Allerhand Werkzeug liegt achtlos verstreut vor der Frauengestalt auf dem Boden. (dpa / Steffen Kugler)
    Schon den Menschen in der Antike galt die Fledermaus als ein lichtscheues Tier, als ein Tier der Dunkelheit. Sie könne es nicht ertragen, die Sonne zu sehen und fliehe alles Licht, heißt es bei Ovid. Daher sei die Fledermaus mit jenen melancholischen Gemütern vergleichbar, deren Geist ebenso das Licht der Wahrheit fliehe und sich in dunklen, pseudophilosophischen Lehren verliere. So erklärt der Humanist Andrea Alciato, ein Zeitgenosse Dürers:
    "Während sie nach den himmlischen Dingen forschen, machen sie ihre Augen trübe und sehen allein Trug."
    Die schwarze Galle
    Hat der Künstler mit seiner "Melencolia I" also das Abbild solcher Pseudophilosophen schaffen wollen? Ist Dürers Kupferstich eine Kritik an jenen, die mit untauglichen Mitteln nach den höchsten Dingen Ausschau halten? Dem widerspricht der Kulturwissenschaftler Hartmut Böhme, wenn er schreibt, dass die Fledermaus zwar den Titel "Melencolia" trage, aber
    "... als traditionelles Emblem der düsteren und negativen Aspekte der Melancholie beherrscht sie in keiner Weise den ganzen Stich."
    Denn dazu ist der Blick viel zu klar, den die Frau in jene unbestimmte Ferne richtet. Und viel zu hell leuchtet das Weiß ihrer Augäpfel in ihrem dunklen verschatteten Gesicht.
    Der Begriff der Melancholie entstammt der antiken "Säftelehre" des Hippokrates: Sie besagt, dass sich ein Überschuss an verbrannter schwarzer Galle ins Blut ergieße. Diese schwarze Galle - "melas cholé" – färbe das Blut dunkel. Das wiederum führe zur dunklen schwärzlichen Gesichtsfarbe des Melancholikers. In der Spätantike verband sich diese hippokratische "Säftelehre" mit der "Temperamentenlehre" des Arztes Galenus, wonach die schwarze Galle auch die Wesensart des Melancholikers bestimme. Dieser neige deshalb zu Düsterkeit und Trübsinn, dazu, apathisch zu werden und in dumpfes Grübeln zu versinken.
    Dem christlichen Mittelalter galt die Melancholie als Laster. Düsterkeit und Trübsinn verrieten eine "maßlose Bitternis der Seele", die jede geistige Freude auslösche, so der Theologe Hugo von Sankt Viktor.
    Auch Thomas von Aquin bezeichnet die Melancholie als Laster, als Wesensart, die keine Freude am göttlich Guten habe, sondern nur Betrübnis empfinde und sich so der Gnade Gottes verschließe. Und noch bei Martin Luther, der Dürer stark beeinflussen sollte, heißt es:
    "Wo ein schwermütiger und melancholischer Kopf sei, da hat der Teufel ein zugericht Bad."
    Das ideale Schöne nach Maß
    Freudig beschwingt wirkt sie gewiss nicht – trotz ihrer mächtigen Flügel. Ohnehin scheint ihre kräftige Gestalt in ihrem faltenschweren Rock wie am Boden festgehalten. Wie festgehalten und in ein statisches Gleichgewicht gebracht wirken auch Balkenwaage, Sanduhr und Glocke an der Hauswand hinter ihr. Ebenso ergibt das Zahlenquadrat unterhalb der Glocke immer dieselbe Summe. Egal ob man die Zahlen waagerecht, senkrecht oder diagonal addiert, immer kommt man auf 34.
    Eine Frau betrachtet am Donnerstag (16.02.2006) in der Neuen Nationalgalerie in Berlin das Bild "Melancholia" von Albrecht Dürer. Das Kunstwerk ist Teil der Ausstellung "Melancholie. Genie und Wahnsinn in der Kunst" die von Freitag (17.02.2006) bis zum 07.05.2006 in der Neuen Nationalgalerie in Berlin fast 400 Gemälde und Skulpturen aus zwei Jahrtausenden zeigt.
    Freudig beschwingt wirkt sie gewiss nicht (dpa / Steffen Kugler)
    Als Dürer seinen Meisterstich schuf, war er längst ein über Deutschland hinaus hochgeschätzter Maler. Schon in jungen Jahren war er mit dem Gedankengut der italienischen Renaissance-Humanisten in Berührung gekommen - durch seinen Nürnberger Freund, den Humanisten Willibald Pirckheimer. Dürer hatte möglicherweise auch von den Platonübersetzungen und ‑kommentaren des Neuplatonikers Marsilio Ficino gehört. Dieser hatte wesentlich zu einer Renaissance Platons und seiner Lehre des idealen Schönen beigetragen. Dazu schreibt Hans Rupprich, der Herausgeber des schriftlichen Dürernachlasses:
    "Dürers Beschäftigung mit dem Schönen war anfangs wohl eher spätgotisch praktischer und gefühlsmäßiger Art. Bei Beginn seiner theoretischen Studien und den näheren Kontakten mit humanistischen Freunden setzt das Nachdenken ein über das Wesen des Schönen."
    Ebenso beginnt Dürer darüber nachzudenken, wie sich das Wesen des Schönen – das ideale Schöne – überhaupt sichtbar machen und darstellen lässt. Nach Platon gelingt dies mit Hilfe der geometrischen Grundformen, die zugleich die Archetypen des idealen Schönen bilden – gelingt es mit Hilfe von Kubus, Zylinder, Pyramide und Kugel. So heißt es in seinem Dialog "Philebos":
    "Unter der Schönheit der Gestalten verstehe ich etwas Gerades und etwas Kreisförmiges und die Flächen und Körper, die gedreht werden oder durch Richtschnur und Winkelmaß bestimmt. Denn diese sind nicht in Beziehung auf etwas anderes schön, sondern sind immerdar an und für sich schön."
    All dies liegt ihr geradewegs zu Füßen. Die perfekt gedrehte Kugel, das präzis geschnittene Rhomboeder, das mit seinen Eckpunkten genau in eine Kugelform passen würde? Ebenso Richtscheit und Streichmaß für die exakte Gerade. Und hält sie nicht den aufgeschlagenen Zirkel noch in der Hand, um damit ideale geometrische Körper zu zeichnen? Warum dann Melancholie?
    Noch ist ihre Zeit nicht gekommen. Im April 1500 hatte der dreißigjährige Dürer in Nürnberg die Bekanntschaft des venezianischen Malers Jacopo de' Barbari gemacht. Von ihm hörte er zum ersten Mal von der Möglichkeit, den Menschen tatsächlich "aus der mas", nach dem Maß, zu gestalten. Dürer ist fasziniert von der Aussicht, durch genaues Messen das ideale Schöne konstruieren zu können. In seinem Entwurf zu einem "Lehrbuch der Malerei" hält er fest:
    "Ohne einen verstand einer guten mas kann kein gut bild gemacht werden. Ich will aus mas, tzall und gewicht mein vorhaben anfangen."
    Das absolut Schöne – das göttliche 'Eine'
    Aber nicht allein Platon bildet den Hintergrund von Dürers Überlegungen. Als gläubiger Christ, der sich auf die Seite der Reformation stellen wird, stützt er sich ebenso auf die biblische Überlieferung. Bereits im alttestamentlichen "Buch der Weisheit" wird Gott mit den Worten gepriesen:
    "Du aber hast alles nach Maß, Zahl und Gewicht wohlgeordnet."
    "Ein Satz, der in der Renaissance und auch von Dürer zur Rechtfertigung der Würde wissenschaftlicher Anstrengung oft wiederholt wird."
    Erklärt der Kulturwissenschaftler Hartmut Böhme.
    Aber dennoch: Auch für Dürer bilden Geometrie und Mathematik noch nicht die Endstufe, auf die Seele und Geist ausgerichtet sind. Bei Platon waren Seele und Geist ausgerichtet auf das absolute Schöne und Gute, im Neuplatonismus auf das göttliche 'Eine', im Christentum auf Gott als Herrn und Schöpfer der Welt.
    Deshalb spricht Platon auch von einer Stufenleiter der Erkenntnis. Sie führt von den einzelnen schönen Körpern hin zum Schönen und Guten an sich. Der Neuplatonismus spricht von einem Aufstieg hin zur Einheit mit Gott, die christliche Tradition von einer Tugendleiter, die von der Demut zur Weisheit Gottes aufsteigt. Dass der "Seele des Weisheit Suchenden" für diesen Aufstieg oder Aufflug Flügel wachsen, davon ist bei Platon und ebenso im Neuplatonismus die Rede. Marsilio Ficino, der bekannte Denker des Renaissance-Humanismus in Florenz, schreibt:
    "Zwei Flügel erkennt Platon der Seele zu, mit welchen sie dem Überirdischen zufliegen soll. Von diesem ist der eine die Forschung, der andere das Verlangen nach dem Guten, in welchem unaufhörlich unser Wille entbrennt."
    Die Grenzen der Vollkommenheit
    Zwei Flügel sind auch ihrer Schulter entwachsen – große, mächtige Schwingen. Doch ihren Geist und ihre Seele scheinen sie nicht beflügeln zu können. Sie scheinen viel zu erdenschwer für einen Flug in überirdische Höhen. Ebenso wirkt die lange, hölzerne Leiter, schräg hinter ihr an die Wand des Gebäudes gelehnt, wie nutzlos abgestellt. Vom oberen Bildrand abgeschnitten lässt sich nicht erkennen, wohin ihre Stufen führen und ob sie überhaupt irgendwohin führen.
    Eine Frau betrachtet am Donnerstag (16.02.2006) in der Neuen Nationalgalerie in Berlin das Bild "Melancholia" von Albrecht Dürer. Das Kunstwerk ist Teil der Ausstellung "Melancholie. Genie und Wahnsinn in der Kunst" die von Freitag (17.02.2006) bis zum 07.05.2006 in der Neuen Nationalgalerie in Berlin fast 400 Gemälde und Skulpturen aus zwei Jahrtausenden zeigt.
    Die lange, hölzerne Leiter wirkt wie nutzlos abgestellt (dpa / Steffen Kugler)
    Woran aber mangelt es der Melancholie? Kann sie den Aufstieg oder Aufflug in die Sphäre höchster, göttlicher Weisheit nicht zustande bringen, weil ihre irdischen, menschlichen Mittel zu begrenzt sind? Kommt, mit anderen Worten, der Künstler bei seinem Unterfangen, das ideale Schöne mit Hilfe von "mas, tzall und gewicht" gestalten und sichtbar machen zu wollen, an seine Grenzen? Der Kunsthistoriker Erwin Panofsky:
    "Gerade an der Mathematik hat Dürer die Erfahrung machen müssen, dass sie dem Menschen nicht die Befriedigung gewähren kann, die er in der metaphysisch-religiösen Erleuchtung zu finden vermag, und dass sie nicht den Menschen zur Entdeckung des Absoluten führt, jenes Absoluten, unter dem er in erster Linie absolute Schönheit verstand."
    Tatsächlich hatte sich Dürer jahrelang in die antiken wie zeitgenössischen Kunst- und Proportionslehren vertieft. Hatte den menschlichen Körper wieder und wieder vermessen und mit den Aufzeichnungen zu seinen "Vier Büchern von menschlicher Proportion" begonnen. Nach mehr als zehn Jahren unbeirrter Arbeit aber muss er einräumen –
    "Was aber die schönheit sei, das weis ich nicht. Solches steigt nicht in des menschen gemüt. Gott weis solches allein."
    Einundvierzig Jahre alt ist Dürer, als er dieses Eingeständnis zu Papier bringt. Und er fährt fort:
    "Unser blöd gemüt kan zu solcher volkommenheit nicht kommen. Denn unser erkenntnis ist trügerisch, und steckt die finsternis so hart in uns, das auch unser tappendes suchen fehl geht."
    Die Melancholie
    Wenig später nur entsteht sein Kupferstich "Melencolia I", wie es die Titelträgerin – die Fledermaus – am dunklen Bildhorizont anzeigt. Entsteht die sinnende Gestalt der Melancholie, die von grauer Dämmerung umgeben regungslos inmitten ihrer verstreut auf dem Boden liegenden Arbeitsgeräte hockt.
    Aber nicht bloß die Fledermaus gehört zur Dunkelheit, auch das Wappentier der Philosophen, die Eule der Minerva, beginnt erst ihren Flug - in der Dämmerung: im Übergang zwischen Tag und Nacht, wenn das fehlbare und begrenzte Wissen des Tages verblasst und - frei davon - der menschliche Geist sich wieder zu öffnen vermag. Daher galten schon Aristoteles die Melancholiker als "ernste, zum geistigen Schaffen veranlagte Naturen".
    Mit ihrer Arbeit hat die Melancholie innegehalten. Ihr Blick hat Abstand genommen von ihrem Werkzeug, hat Abstand genommen vom allzu Nahen und geht nun hellwach und konzentriert ins Weite.
    Doch es ist anders als im Neuplatonismus: Wenn Dürers ”Melancholie” innehält, bezeichnet das nicht den Augenblick, bevor die Seele alles Irdische hinter sich lässt und den Aufflug zu überirdischer Glückseligkeit beginnt; ebenso wenig den Moment, bevor sich der Geist zur höchsten Stufe der Erkenntnis – zur Vereinigung mit Gott – emporschwingt.
    Unbegreiflich erscheint solches für die Melancholie. Unerreichbar, wie sie da auf ihrer niedrigen Steinstufe hockt. Trotzdem bleiben ihre Flügel geöffnet wie auch ihre Augen – die lichten Fenster der Seele.
    "Es findet sich auf Dürers Blatt kein Indiz, dass dies als Scheitern oder als Verzweiflung denunziert wird."
    Schreibt Kulturwissenschaftler Hartmut Böhme.
    Zum Besseren durch Bildung
    "In der wachen Kraft wird eine neue Würde sichtbar. Sie besteht darin, dass der Mensch im Durchdenken der Welt sich mit endlichem Bewusstsein innewird und im Wissen der Grenzen das ihm Mögliche schafft."
    Diesen Augenblick hält Dürers "Melencolia I" fest. Diese Grenzerfahrung zwischen Erkenntnishelle und Erkenntnisdunkel, zwischen Tatkraft und Untätigkeit, wo auch Balkenwaage, Sanduhr, Glocke und Zahlenquadrat – das menschliche Gewichten, Messen und Zählen – für einen Moment ausgesetzt und stillgestellt sind. Stillgestellt, aber keineswegs verworfen.
    Die Kopie "Selbstbildnis im Pelzrock", die den Maler Albrecht Dürer darstellt, ist am 11.03.2014 im Albrecht-Dürer-Haus in Nürnberg (Bayern) zu sehen. Die Stadt Nürnberg hat am Vormittag nach vierjährigem Umbau das modernisierte Albrecht-Dürer-Haus vorgestellt. Die Arbeiten des Renaissance-Künstlers Dürer sollen künftig mit interaktiven Elementen vorgestellt und erläutert werden. Foto: Daniel Karmann/dpa
    Albrecht Dürer - "Darumb ist es nicht bös, das der mensch vil lernt" (picture alliance / dpa / Daniel Karmann)
    Denn an einem lässt Dürer keinen Zweifel:
    "Da wir nun zu dem aller besten nicht kommen können, sollen wir nun gar von unsrer lernung lassen? Diesen viehischen gedanken nehmen wir nicht an. Denn den menschen steht schlechtes und gutes zur wahl. Darumb ziemt es einem vernünftigen menschen, das bessere sich vorzunehmen."
    Und zu diesem Besseren gelangt man für Dürer dadurch, dass man lernt und sich bildet. Von seinen Studien zum Schönen – für ihn sind es gleichermaßen Studien zum Guten – hat Dürer daher niemals abgelassen. 1525 veröffentlicht er seine "Unterweisung der Messung mit Zirkel und Richtscheit" und arbeitet bis zu seinem Tod, 1528, an seinen "Vier Büchern von menschlicher Proportion". Ihr Untertitel lautet:
    "Erfunden und beschrieben zu nutz allen denen, so zu dieser kunst lieb tragen."
    Von der Bilderfeindlichkeit zum Studium des Nackten
    Diese Liebe zur Kunst und zum Schönen war keineswegs selbstverständlich zu seiner Zeit. Trotz Renaissance und Humanismus kam es immer wieder zu Angriffen auf jene, die sich an der wiederentdeckten Antike und ihren philosophischen Lehren orientierten. Erst 1494 hatte der Dominikaner und Bußprediger Girolamo Savonarola, der in Florenz für kurze Zeit eine theokratische Herrschaft errichtet hatte, 'heidnische' Schriften und Kunstwerke verbrennen lassen. Auch Papst Hadrian VI., der 1522 das Pontifikat übernahm, sah in den Kunstwerken nichts anderes als "idola antiquorum", also, Götzenbilder. Dazu schreibt der Herausgeber des schriftlichen Dürernachlasses Hans Rupprich:
    "Bilderfeindlichkeit unmittelbar vor und zu Dürers Zeit hängt vor allem mit den reformerischen Bewegungen zusammen und zwar mit der rigorosen Interpretation des Bilderverbots. Ähnlich wie im Frühchristentum gab es eine Feindschaft gegen die antike und antikisierende Kunst mit ihrer Darstellung des Nackten, die abermals als Heidenwerk angesehen wurde."
    Für Dürer jedoch bleibt es dabei, dass sich in der Darstellung sowie im Studium des Nackten berechtigte Wissbegierde und das Verlangen nach Vollkommenheit ausdrücken. Und er hält es ganz und gar für gottgefällig, schließlich sei der Mensch in eben diesem Zustand – nackt – geschaffen worden: als Ebenbild Gottes.
    "Darumb ist es nicht bös, das der mensch vil lernt. Wiewol ettliche grobe menschen die kunst hassen und sagen, sie gebe hoffart."
    Einer solchen Überheblichkeit des Geistes steht die melancholische Grenzerfahrung Dürers entgegen - die Einsicht, dass die überlegene Sphäre Gottes für den Menschen mit seinen begrenzten Möglichkeiten ohnehin unerreichbar ist.
    Immanuel Kant wird später den Bewegungsrahmen für die längst 'flügellos' gewordene Metaphysik der Neuzeit neu bestimmen: und zwar als "Wissenschaft von den Grenzen der menschlichen Vernunft". Aber noch besitzt Dürers Gestalt Flügel, auch wenn sie nicht damit fliegen wird. Und während die titeltragende Fledermaus im Hintergrund aus dem Bild heraus zu flattern scheint, hält vorn im Bild die Melancholie ihrer Grenzerfahrung stand.
    Von Grenzerfahrung oder "Grenzsituationen" hat auch der Philosoph Karl Jaspers gesprochen:
    "Es sind Situationen, über die wir nicht hinaus können. Im bloßen Dasein weichen wir oft vor ihnen aus, indem wir die Augen schließen und leben, als ob sie nicht wären. In den Grenzsituationen zeigt sich entweder das Nichts, oder es wird fühlbar, was trotz und über allem verschwindenden Welt-Sein eigentlich ist."
    In fahlem Dämmergrau scheint auch ihre Welt fast verschwunden. In Dämmerschlaf gesunken sind ebenso der Putto und der zusammengerollte Hund. Einzig ihr Blick – der lebendige Brennpunkt des Ganzen – ist hellwach. Kein trübes Nichts und keine schwarze "Bitternis der Seele" sprechen aus ihm. Vielmehr liegt in ihrem Blick die Kraft, auszuharren und dennoch für das Unerreichbare offen zu bleiben. Auch deshalb hält sie ihre Flügel geöffnet.