Mittwoch, 24. April 2024

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Album "Pitfalls" von Leprous
Atmosphärische Abrissbirne

Der Stil der Band Leprous ist ständig in Bewegung. Anfangs klangen die Norweger noch wie eine Art Death Metal-Porcupine Tree, aber der Death Metal ist inzwischen aus ihrem Sound verschwunden. Steven Wilson hört man dagegen bei Leprous noch immer heraus. Auf ihrem neuen Album "Pitfalls" ist Sprung besonders groß geraten. Zu groß?

Von Kai Löffler | 03.11.2019
Fünf Männer stehen vor einer dunklen Wand und schauen in die Kamera.
Bei Leprous klingt jede Platte anders (Will Ireland )
Musik: "Below"
Während die Band ihre Rock-Wurzeln zwar nicht vernachlässigt, ist "Pitfalls" ein überraschend elektronisches und atmosphärisches Album, voll ungewöhnlicher Rhythmen und Arrangements. Das erinnert zu gleichen Teilen an Depeche Modes "Violator" und Radioheads "Kid A" und klingt dabei trotzdem unverwechselbar nach Leprous - vor allem dank der prägnanten Stimme von Einar Solberg. Diese Stimme trägt auch den Song "Alleviate", eine Artpop-Powerballade, die in weniger virtuosen Händen leicht kitschig geraten wäre. Bei Leprous dagegen klingt die Musik frisch, emotional und kein bisschen aufgesetzt.
Musik: "Alleviate"
Einar Solberg beschreibt die Arbeit am Album als emotionale Erfahrung, als Therapie. Für ihn, sagt er, war "Pitfalls" ein Weg aus der Depression. Gleichzeitig musste er lernen, kreativ loszulassen: Das Epos "Distant Bells" stammt anders als alle bisherigen Songs der Band nicht aus seiner Feder, sondern von Bassist Simen Børven
Fünf Männer stehen vor einer hellen Wand und schauen in die Kamera.
Die Musik setzt auf Stimmungen und Gitarren-Riffs (Will Ireland )
Musik: "Distant Bells"
Der Song klingt anfangs entspannt und jazzig und mündet schließlich in einem bombastischen Crescendo. "Distant Bells" zeichnet sich durch seine angestaute Energie aus - wie eine wilde Bulldogge, die erst am Ende des Songs von der Kette gelassen wird. Genau so funktioniert das Album auch auf der Makro-Ebene - erst mit dem letzten Track lässt Leprous die sprichwörtliche Sau raus. "The Sky is Red" ist ein ausuferndes Industrial-Prog-Epos, mit langen Instrumentalpassagen und epischen Chören, die die Carmina Burana klingen lassen wie ein Blockflöten-Ständchen.
Musik: "The Sky is Red"
Überhaupt ist "Pitfalls" ein durchstrukturiertes und diszipliniertes Album. Die Songs sind größtenteils kurz - zumindest für Prog-Verhältnisse - fünf Minuten im Schnitt, und wenig verspielt. Gleichzeitig legt die Band stilistisch eine "anything goes"-Attitüde an den Tag - ob Ambient, Disco oder Stadion-Rock: Wenn der Song es zulässt, wird es gespielt.
Musik: "Foreigner"
Ein effektiver Kontrapunkt zu den prominenten elektronischen Elementen von "Pitfalls" sind die häufig eingesetzten Streicher; mal als bombastischer Klangteppich, wie im Finale von "Distant Bells" mal als ein Cello oder eine Geige, die ein ausdrucksvolles Solo spielt.
Musik: "At the Bottom"
Zwischen all den Keyboards, Streichern und programmiertem Schlagzeug schafft es die Band - gegen jede Wahrscheinlichkeit - auch instrumental zu glänzen. Die fünf Musiker, allen voran Ausnahme-Schlagzeuger Baard Kolstad, müssen nichts beweisen, und drängen sich deshalb nicht ständig in den Vordergrund - dafür spielen sie umso geschmackvoller. Das Album ist mehr als nur eine logische nächste Stufe in der Entwicklung von Leprous. "Zwei Schritte nach vorne und einen zurück" heißt es immer, aber im Fall von "Pitfalls" sind es eher fünf Schritte nach vorne. Ob die in die richtige Richtung gehen, mag im Auge des Betrachters liegen, aber auf jeden Fall sind Leprous eine der seltenen Bands - wie Rush oder Radiohead - die sich nicht auf ihrem Sound ausruhen, sondern stilistisch immer in Bewegung bleiben. Auf dem neuen Album geht es der Band weniger um Virtuosität als um emotionale Durchschlagskraft in geschmackvoller musikalischer Verpackung. Und in dieser Hinsicht ist "Pitfalls" eine ziemliche Abrissbirne.