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Alexander Ilitschewski: "Jerusalem"
Vielschichtige Hommage an die Ewige Stadt

Der preisgekrönte russische Schriftsteller Alexander Ilitschewski legt mit "Jerusalem - Stadt der untergehenden Sonne" einen besonderen Städteführer vor. Sein Jerusalem-Bild speist sich aus zarten Impressionen und gelehrten Ausflügen in die Historie, sowie in biblische und literarische Texte.

Von Brigitte van Kann | 15.02.2018
    Alexander Ilitschewski: Jerusalem
    Alexander Ilitschewski: Jerusalem (AFP / Matthes & Seitz)
    "Vergäße ich dein, Jerusalem, so verdorre meine Rechte." So steht es in der Bibel. "Nächstes Jahr in Jerusalem!" Das wünschen sich jüdische Menschen am Ende des traditionellen Ostermahls.
    Jerusalem, die Ewige Stadt, die Heilige Stadt, Jeruschalijim, shel sahav, Jerusalem, Stadt aus Gold, heißt es in einem populären Lied, das jedes israelische Kind kennt. Der goldfarbene Einband von Alexander Ilitschewskis Jerusalem-Buch spielt darauf an. Und weil der Autor von Hause aus Physiker ist und zwar einer der philosophischen Art, schweben geometrische Ur-Körper im goldenen Raum des Buchumschlags.
    Autor lässt Leser an Reisestationen teilhaben
    Ilitschewski, 1970 im damals noch sowjetischen Aserbaidshan geboren, hat nach seinem Studium an der Moskauer Universität sowie an israelischen und kalifornischen Forschungszentren gearbeitet. Für seine Romane erhielt er die angesehensten russischen Buchpreise. 2012 kam sein Jerusalem-Buch "Stadt der untergehenden Sonne" in Moskau heraus, mit dem Genre-Zusatz "Travelogue" – Reisebericht also, denn der Autor lässt den Leser auch an seiner Anreise mit dem Flugzeug, seinen Ausflügen ans Tote Meer, nach Haifa und Tel Aviv teilhaben. Im Mittelpunkt aber steht Jerusalem, die Stadt, die den drei monotheistischen Weltreligionen, den Religionen des Buches, heilig ist.
    Alexander Ilitschewski zeigt sich nicht in erster Linie an der politischen Aktualität, am schwelenden Konflikt um die Hoheit über Jerusalem interessiert. Er hat eine Hommage an die Ewige Stadt geschrieben, an das, was Jerusalem – unter welcher Herrschaft auch immer – in seinen Augen stets ausmachen wird: "die Hoffnung auf Erlösung, auf das ewige Leben". Darin sieht der Autor Jerusalems Konstante, sein Unterpfand für die Zukunft.
    Sein Buch ist eine Collage aus zarten Impressionen, handfesten Beobachtungen, abgelauschten Gesprächsfetzen – begleitet von einem dichten Assoziationsgewitter, das den Autor bald hierhin, bald dorthin führt, bisweilen sogar zurück in seine Kindheit und Jugend in Aserbaidshan. So schreibt er auch ein Stück von sich selbst ins Weichbild der Stadt hinein.
    Jerusalem am Abend, Jerusalem am Tag
    Jerusalem unter der sengenden Sonne des Tages, die alle Farben bis auf Schwarz und Weiß zu tilgen scheint, Jerusalem am Abend, wenn die titelgebende untergehende Sonne den weißen Stein, aus dem die Stadt erbaut ist und der ihren Namen trägt, in ein rosig getöntes Gold färbt, Jerusalem bei Nacht, wenn dieser Stein im Mondlicht gespenstisch leuchtet und alles unwirklich erscheinen lässt – für Ilitschewski hat die Stadt in den judäischen Bergen viele Gesichter.
    Er besucht das feine, englischsprachige Rehavia mit den vielen chemischen Reinigungen, die dem cleanen, amerikanisch geprägten Lebensstil der Bewohner entsprechen. Im Gewirr der Gässchen um den Machane-Jehuda-Markt registriert er die großen Kinderscharen und den Duft frisch gewaschener Wäsche. Der Markt selbst erfreut ihn mit einem Lebensmittelangebot, das den Geschmäckern der aus aller Herren Länder eingewanderten Israelis gerecht wird und ihm herrliche Metaphern wie die von den "Antarktiken aus weißem Weichkäse" eingibt.
    Reminiszenzen aus der hebräischen und russischen Literatur tauchen auf. So zeichnet der Autor die Wege nach, die Samuel Joseph Agnon in seinem Roman "Gestern, vorgestern" beschrieb, und legt das Netz dieser imaginären Karte auf die heutige Stadt. Am Davidsturm kommt ihm Iwan Bunins Erzählung "Frühling in Judäa" in den Sinn, deren Held just an dieser Stelle eine Ziegenkäsehändlerin bezirzte und dafür "eine Beduinenkugel kassierte, die ihn sein Leben lang hinken ließ." So elegant wie Alexander Ilitschewski solche Bezüge ins Spiel bringt, haben die beiden Übersetzerinnen sie im Deutschen inszeniert. Die Arbeit an diesem komplexen, weit ausgreifenden Text war gewiss kein Pappenstiel!
    Stets präsent ist die älteste literarische Echokammer der Ewigen Stadt, die Bibel, und das nicht nur, wenn es um den Glauben geht: Ein Streit zweier Nashörner im Jerusalemer Zoo evoziert das Buch Hiob, in dem die Kraft und das aufbrausende Temperament dieser Kolosse erwähnt werden – und zwar lange bevor "Brehms Tierleben" geschrieben wurde, wie Ilitschewski süffisant bemerkt.
    Zusätzlich drei Gedicht-Zyklen
    Der "Durchsichtigkeit" der Stadt, die überall Blicke in andere historische Tiefenschichten freigibt und damit eine atemberaubende Gleichzeitigkeit von Heute und Gestern erzeugt, wird das Prinzip des nicht chronologisch geordneten, den spontanen Eindrücken folgenden Schreibens auf ideale Weise gerecht. Drei Gedicht-Zyklen ergänzen das Stadt-Mosaik mit komprimierten lyrischen Eindrücken. Man glaubt es dem Autor sofort, dass er die Pläne zu einem Buch immer erst in Gedichtform festhält.
    Wie Ilitschewskis preisgekrönte Romane, vor allem sein großes Werk "Der Perser", das vor zwei Jahren in deutscher Übersetzung bei Suhrkamp erschien, ist auch sein Jerusalem-Buch keine leichte, aber eine lohnende Lektüre. Jerusalem offenbare sich nicht jedem, so der Autor: nichts sei einfacher, als "in dieser Stadt einen Haufen steiler Hänge und verstreuter Steine zu sehen." Aber es erfordere eben auch "harte Arbeit" an den "göttlichen Ursprung" des Menschen zu glauben, der auf den ersten Blick ja auch nur aus Fleisch und Knochen besteht.
    Wer die Mühe nicht scheut und keine Angst hat, verloren zu gehen, kann sich mit diesem Buch in der Hand auf diese Suche nach dem "göttlichen Ursprung" der Stadt machen: Jerusalem für Fortgeschrittene, für die wahren Reisenden unter den Lesern.
    Hoffnung auf friedliche Zukunft
    2013 ist Alexander Ilitschewski übrigens selbst Jerusalemer geworden. Weil es sich offenbar auch von preisgekrönten Büchern schlecht leben lässt, arbeitet er im Physikalischen Labor der Hadassah-Klinik. Zur deutschen Ausgabe hat er ein Nachwort beigesteuert, in dem er das Prinzip Hoffnung an seinem Krankenhaus-Alltag festmacht: Nicht nur die Gemeinschaft der Kollegen aus der ganzen Welt, auch die Tatsache, dass die Klinik Palästinenser und Israelis ohne Unterschied behandelt, lässt ihn auf eine friedliche Zukunft hoffen. Außerdem, so schreibt der unter sowjetischen Bedingungen aufgewachsene Autor mit grimmigem Humor, gefalle es ihm, in einem Land zu leben, wo zwei der ranghöchsten Politiker im Gefängnis sitzen.
    Alexander Ilitschewski: Jerusalem - Stadt der untergehenden Sonne
    Aus dem Russischen und mit Anmerkungen von Jennie Seitz und Friederike Meltendorf
    Matthes & Seitz, Berlin 2017
    220 Seiten, 22 Euro