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Alexander Kluge - Teil 1
Die neun Ordnungen von Schnee

Der 1932 in Halberstadt geborene Filmemacher, Schriftsteller und Jurist Alexander Kluge gehört zu den wichtigsten Intellektuellen der bundesrepublikanischen Nachkriegszeit. Im Büchermarkt spricht er über den Bombenangriff auf seine Vaterstadt, Worte als Rebellen und den „Tristan“ Gottfried von Straßburgs.

Alexander Kluge im Gespräch mit Jan Drees | 25.12.2018
    Alexander Kluge am 03.04.2014
    Der Filmemacher, Fernsehproduzent, Schriftsteller und Drehbuchautor Alexander Kluge. (picture alliance / dpa - Roland Popp)
    Jan Drees: Sie haben jetzt Ben Lerner herausgebracht, der sich auf Texte bezieht, die Sie geschrieben haben, auf die Sie wiederum antworten. Was genau findet statt in diesem Band, der Bilder beinhaltet, Gespräche und Gedichte?
    Alexander Kluge: Wir haben uns kennengelernt dadurch, dass ich verblüfft war, bei einem amerikanischen Lyriker aus New York plötzlich Sonette über Lichtenberg, unseren Helden der Aufklärung, unseren Norddeutschen da, zu entdecken. Übrigens ein ganz witziger Mann, der Lichtenberg. Und der hat sich mit den Funken und der Elektrizität, die ja im 18. Jahrhundert noch unsichtbar ist - das ist ja noch nicht die Glühbirne von uns, sondern das ist sozusagen das Geheimnis, das die Aufklärung noch nicht zu deuten weiß, und das geheimnisvolle Figuren hat.
    Ein Blitz zum Beispiel kann in der Haut, aber auch in der Erde und so weiter so Figuren machen, fast Kristallgitter machen. Und das hat den Lichtenberg so gefesselt, und das fesselt jetzt hier den Ben Lerner, und da kommen so Verse vor wie "In der mittelalterlichen Engelskunde gibt es neun Ordnungen von Schnee." Wieso Schnee? Ich dachte immer, die Engel brennen und umtanzen Gott als brennende Flammen. Nein, Schnee.
    Mit den Engeln zur Prada
    Und das erinnert mich dann, in der Kinderzeit haben wir uns rückwärts in den Schnee geworfen - dann macht man einen Engel. Das kennen Sie. Und wenn abends so in der Dämmerung man mit dem Schlitten nach Hause geht, und dann kommen diese leisen Flocken. Das hat etwas Geheimnisvolles, das hat was Geisterhaftes. Und deswegen war mir das sehr überzeugend. Deswegen habe ich dazu Geschichten geschrieben. Die habe ich ihm zugeschickt, unbekannterweise, und bei ihm kamen sie in den Spam. Acht Wochen später hat er sie dort zufällig gefunden, und so sind wir zusammengekommen und haben dann in Venedig, auf der Prada-Ausstellung zusammengearbeitet.
    Drees: Und Ben Lerner hatte die Gedichte schon geschrieben, die sich auf Texte von Ihnen beziehen, sich nur nicht getraut, Ihnen diese zu schicken.
    Kluge: Das ist richtig. Und dann habe ich diese Geschichten über Engel eben geschrieben, und er hat sie in New York auch publiziert. Und dann hat er wiederum Sonette über "Halberstadt brennt", also den Bombenangriff auf meine Vaterstadt – das hat mich natürlich bewegt. Und wenn er mich bewegt, dann antworte ich nicht durch Briefe und nicht durch Mails, sondern durch Geschichten. Und ich hab dann wiederum darüber mit Geschichten geantwortet, und so ist das Buch zusammengewachsen. Und dann hat Gerhard Richter 21 Bilder über Venedig hinzugefügt.
    Das Buch heißt nämlich "Schnee über Venedig". Das ist ja ein seltenes Ereignis, das ist ja nicht eine arktische Stadt. Diese Lagunen sind sehr grün und sehr wässerig, und doch gibt es Schnee. Das muss man dann bedichten. Und ich muss ich Ihnen sagen, diese Bilder von Gerhard Richter, die ja hier zum ersten Mal veröffentlicht werden, 21 Stück, die haben ein Grün, das den Lagunen so sehr entspricht – da merkt man den Meister. Und solche Zusammenarbeit, das ist das, was ich im Grunde – was mir Mut macht, was also mir Lust macht.
    Heiner Müller ist nicht tot
    Drees: Und wir schwimmen sogar durch die Lagunen, mit Lord Byron beispielsweise. Er hat eine Fackel in der Hand …
    Kluge: Nachts ist der so ein vornehmer Herr. Eine Fackel – ich weiß, gar nicht, wie man schwimmt mit einer Fackel in der Hand. Aber so ist er halt durch die Gewässer nachts als romantischer Dichter geschwommen. All das, dieses Venedig, fasziniert mich. Für mich ist das ein Stück römisches Reich, also Antike, das 1.500 Jahre länger auf dieser Inselgruppe überlebt hat. Und erst unter Napoleon dann irgendwie applaniert wird.
    Drees: Napoleon selbst war nie dort.
    Kluge: Nein, aber in seinem Zelt vor Toulon hat er die Geschichte Venedigs in fünf Bänden mit sich geführt. Das heißt, ihn hat das schon fasziniert. Und ihm tat es hinterher leid, dass er es an Österreich verkauft, verschleudert hat. Um den Frieden im Campo Formio zu machen, musste er seine Beute Venedig an Wien herausgeben. Das war sozusagen das Zubrot für den Friedensschluss. Hat ihm sehr leid getan.
    Drees: Sie sagten vorhin, dass sie selbstverständlich nicht mit E-Mails geantwortet haben auf Ben Lerners Gedichte.
    Kluge: Ich mache viel E-Mails. Aber nicht in der Dichtkunst.
    Drees: Wie ist das? Es hat eine lange Tradition, dass Dichter miteinander im Austausch stehen? Briefbände sind das eine, die kennt man natürlich. In der zeitgenössischen Dichtung sehe ich immer wieder Gedichte, die anderen Kollegen gewidmet sind. Wie ist das, das Arbeiten für Sie, wenn Sie poetisch auf etwas antworten, was selbst Poesie ist?
    Lust bedeutet Mut
    Kluge: Das ist so, wie wir miteinander auch sprechen hier, im Dialog. Und wenn ich allein da sitze in meinem Zimmer, dann bin ich auch nicht allein, sondern ich spreche mit meiner Schwester, mit meinen Eltern, mit meinen Freunden, mit Heiner Müller, der längst tot ist. Aber für mich ist er nicht tot. Und so ist es so, dass, wenn ich in Gesellschaft schreibe, dann habe ich mehr Lust, verstehen Sie?
    Und Lust bedeutet Mut, Wagemut. Das heißt, man traut sich etwas. Zum Beispiel gibt es ja immer die Entscheidung, selbstverständlich habe ich Hunger nach Sinn und setze die Worte so, dass sie einen Sinn ergeben. Aber diese Worte sind Rebellen. Sie sind eigentlich ohne Sattel, und eigentlich wollen sie auch frei sein mal, und dann braucht man Dada. Und dazu müssen Sie diesen Wagemut haben, dass Sie sich trauen, etwas zum Beispiel ohne Sinnzwang zu machen. Und das können Sie mit einem Gefährten. Der eine passt auf den Sinn auf, und der andere macht auch mal nur Unsinn.
    Drees: Und der Gefährte kann dann sogar Tristan sein von Gottfried von Straßburg.
    Kluge: Aber natürlich, ja, absolut. Und bei dem "Parsifal" mit Baselitz, da ist er ein Kindskopf, und ich bin einer, und beide konzentrieren wir uns von Wagner weg auf Wolfgang von Eschenbach. Und das ist ein – ich habe da zum ersten Mal in meinem Leben gemerkt, dieser Parsifal, der Original-Parsifal – das war eine Mutter, die ihren Sohn planwirtschaftlich erzieht, so wie vor 50 Jahren die jungen Frauen gesagt hätten, mein Sohn wird mal kein Bourgeois und kein Kapitalist. Kommt irgendwas anderes raus als geplant. Und so sagt die, mein Sohn wird kein Ritter, ich kleide ihn als Narren.
    Das reicht von Trump bis zu einem ganz hinreißenden Mutterwitz von dieser Herzeloyde. Das heißt, es ist ein Don-Quijote-Roman in mittelhochdeutsch, und den kann man ausgraben. Der Baselitz-Mut – in diesem Fall ist er derjenige, der Mutgeber, und in diesen anderen Fällen eben Ben Lerner oder Thomas Demant. Und so glaube ich, dass wir gerade unter den Druckverhältnissen des 21. Jahrhunderts stärker kooperieren können. Gärten der Kooperation, das ist ein Idol.
    Weshalb wir Notausgänge brauchen
    Drees: Das Mittelalter scheint lange vergangen. Aber etwas vom Mittelalter scheint wiederum in Ihnen und Ihrem Denken zu wirken. Gibt es einen Dialog tatsächlich dann nicht nur mit dem Parsifal oder dem Tristan oder vielleicht den Predigten der alten Mystiker?
    Kluge: Sagen wir mal so, alle Zeiten sind eigentlich gegenwärtig. Es ist ein Irrtum, dass die untergegangen seien. Und vor allen Dingen, dieser Witz geht nicht unter. Und wenn Sie meine Mutter nehmen - ich habe eine fröhliche Mutter, die ist völlig amusisch. Die gibt mir aber sozusagen eine Robustheit, wenn ich schreibe, die mein Vater mir nicht mitgibt, der der sehr viel Poetischere ist. Was ich denke, kommt ja nicht bloß von mir, sondern kommt von meinen Eltern, kommt von meiner Schwester, kommt von anderen Schriftstellern, von dem, was ich gelesen habe. Und dabei stellt sich das, was mich interessiert und mich bewegt im Herzen, das stellt sich her im Dialog. Aber ich werde mit dem Dialog auf mich zurückgeworfen. Ich bin umso individueller, je mehr ich in Zusammenhang stehe. Das ist ungefähr dasselbe Verhältnis wie zwischen den Zeiten.
    Sehen Sie mal, ich habe nie für möglich gehalten, 1989 oder zu früheren Zeiten, dass wir so eine Wirklichkeit erleben, wie wir sie jetzt erleben, mit einem Mann im Weißen Haus, der doch nicht vorhergesagt wurde. Mit Konflikten in der Welt, die so gefährlich sind wie vor 1914, eigentlich manchmal mir auch so vorkommen, in Syrien, wie vor dem 30-jährigen Krieg und im 30-jährigen Krieg. Das ist alles sehr bitter und unheimlich. Und gleichzeitig fordert es Antworten. Und wir können darauf antworten - allerdings gemeinsam.
    Drees: Und der Trost besteht dann darin, dass all diese fürchterlichen Dinge irgendwann auch wieder vergangen waren.
    Kluge: Ja. Und man muss auch nicht an ihre Autorität glauben. Es gibt eine Situation, die mich sehr fesselt. Da sitzt Marcel Proust in einem langweiligen Theaterstück in Paris. Er langweilt sich entsetzlich, und sein Blick fällt auf diese blauen Lichter, die den Notausgang zeigen. Da stellt er sich vor, dass Theater brennt ab, und er weiß, wo der Notausgang ist. Das macht den Abend für ihn sofort spannend. Sie merken, die Kenntnis der Notausgänge, das ist etwas, was unserer Zeit gut ansteht. Das müssen wir wissen.
    Wenn zum Beispiel Istanbul einen Tsunami erleben würde, oder der Wind hätte von Fukushima aus nach Süden gedreht auf Tokio, hätten wir die Lage gehabt, dass man eine Großstadt mit 37 Millionen Einwohnern - das wäre Tokio - nicht räumen kann. Und für London haben wir festgestellt, gibt es einen Evakuierungsplan nur für das Regierungsviertel und das Finanzviertel. Sie verstehen, wir wissen von Notfällen und dass sie oft kommen, und keiner bereitet sich darauf vor. Das ist etwas, wo die poetische Kraft, die Vorstellungskraft hingehört. Da aber immer nicht mit dem Ziel, etwas anzuprangern oder das Unheimliche zu verstärken, sondern mit Witz auch die Ausgänge zu finden. Und die gibt es immer.
    Liebe ist hart wie Beton
    Drees: In dem Moment wäre die Fiktion auch Trost. Dürrenmatt hat das immer abgelehnt.
    Kluge: Ich würde es auch ablehnen. Tröster sind wir nicht, das macht ein Pfarrer. Aber wir können Auswege finden. Und die Wirklichkeit ist wie ein Schwamm. Sie behauptet, sie wäre stark und eine Autorität, und in Wirklichkeit ist sie löcherig. Und das ist auch ein Glück. Deswegen gibt es ja diese Auswege.
    Drees: Spüren wir die Wirklichkeit besser durch die Fiktion?
    Kluge: Ich will nicht sagen, dass das Fiktion ist. Was wir machen, wenn wir die subjektive Seite einbeziehen, wenn wir der Realität ihren Anspruch - ich bin - bestreiten und sagen, na, unterirdisch gibt es noch Mordors Tunnel, und die funktionieren nicht nach den Regeln der Wirklichkeit, sondern nach den Regeln, der Lebenszeit, nach menschlichen Gesetzen, dann sagen wir zwar, es gibt zwei Wirklichkeiten, die subjektive und die objektive. Aber wer ist stärker? Liebe ist hart wie Beton, sagt man. Sie können sagen, Wünsche sind wie Beton. Und etwas Objektives wie der Beton des Atlantikwalls, das war nicht mal das Papier wert, auf dem darüber geschrieben wurde.
    Sie merken, das Objektive ist nicht objektiv, weil es nicht subjektiv gesättigt ist, durch menschliche Erfahrung gesättigt ist. Und das ist bei uns sozusagen das poetische Programm. In diesem Buch hier gibt es zwei Idole, die hier abgebildet sind. Das sind zwei Bilder von Paul Klee. Das eine ist der "Angelus Novus", das ist der Engel der Geschichte, wie Walter Benjamin dieses Bild von ihm beschrieben hat, der rückwärts von einem Sturm, der vom Paradies her weht, in die Zukunft geweht wird und alles sehr unheimlich findet. Das ist ein Mann mit Ahnungsvermögen, ein prophetischer Engel.
    Und mich hat immer gestört, dass der nichts arbeitet und eigentlich als Such-Engel so schwer beweglich ist. Er ist so verzweifelt. Und deswegen sitzt bei mir neben ihm "Stachel der Clown", ebenfalls ein Engel von Paul Klee. Und der ist sehr viel praktischer. Der ist sozusagen so wie bei Bert Brecht. Und daneben, der andere, ist wie Benjamin. Und beide zusammen sind stark. Das sind zwei Archäologen. Das sind zwei Ausgräber, wie die Brüder Grimm können sie zusammenwirken, gerade weil sie gegensätzlich sind. Das sind Gärten der Kooperation. Und an die glaube ich.
    Wir leben in unheimlichen Zeiten
    Drees: "Seen sind für Fische Inseln" - da haben wir schon diese Kippfigur. Ein Satz, den man sich schnell merken kann. Der vorangestellt ist oder überschrieben ist Ihrer Sammlung an Fernsehfilmen, die dieses Prinzip ja auch beschreiben. Zwei Wirklichkeiten, und beide stimmen ja auch.
    Kluge: Und es ist ein bisschen verblüffend - mich hat der Satz ja - ich hab ihn hingeschrieben als Überschrift, weil er mich selber gewundert hat. Ich habe gehört, dass eben bestimmte Fische im Victoria-See, sie kamen vom Atlantik in irgendeiner Weise, über Flüsse, bis in den Victoria-See. Und dort haben sie neue Arten gegründet. Also ein Fisch, der in einen See kommt, ist wie ein Robinson, der sich auf eine Insel rettet. Dass also gewissermaßen andere Lebewesen das Flüssige als Biotop haben. Und wir haben den festen Boden als Biotop oder Rettungsstation. Das ist zwar selbstverständlich, aber es fällt mir nicht zu jedem Tag- und Nachtzeitpunkt ein. Deswegen dieser Titel.
    Drees: Sie sagten, wir leben in gefährlichen und beunruhigenden Zeiten.
    Kluge: Unheimlichen.
    Drees: Warum sind die unheimlich, diese Zeiten, für Sie? Sie haben viele unheimliche Zeiten erlebt.
    Kluge: Und trotzdem gewöhnen wir uns als Menschen nicht daran. Für mich ist etwas wie ein Bombenangriff auf meine Vaterstadt am 8. April 1945 sehr prägend, denn ich lebe in einem geliehenen Leben. Ich hätte genauso gut - ein Luftzug anders, die Windgeschwindigkeit etwas anders, und wir wären umgekommen. Das gibt mir zu denken. Damals nicht, als Kind habe ich das nur gefürchtet, und fand es aufregend, wollte es meinen Mitschülern erzählen. Das heißt, ich habe ganz alberne Reaktionen gehabt. Aber 40 Jahre später kann ich es verstehen, wie es mit Menschen gemeint ist, wenn von oben die Flugzeuge kommen und unten die im Keller machtlos erscheinen. Und das erinnert mich natürlich, wenn ich Aleppo verfolge oder Idlib oder andere Stellen, oder gar, wenn die Drohnen heute losgeschickt werden, dann sage ich, das sind nicht nur Minengelände, sondern das ist ein Verhältnis, das ich grundlegend als Mensch ablehne. Ich kann ja vor einem Bombergeschwader nicht mal kapitulieren.
    Das konnte ich im klassischen Krieg noch irgendwann. Das ist eine Klassengesellschaft, wenn Sie so wollen. Die da oben und die da unten. Und da ist jetzt die Frage, wie die Auswege funktionieren. Das ist eine literarische Aufgabe. Da müssen wir manövrieren mit unserer Fantasie. Und sehen Sie, da gibt es meinetwegen die Hannelore Hoger, die spielt die Patriotin, und die spielt eine Lehrerin, die mit zwei Kindern in so einem Keller sitzt, '45. '45 ist sie offensichtlich machtlos, und ihre ganze Schulfähigkeit, Kinder zu unterrichten, nutzt ihr gar nichts. Und wenn sie betet, weiß sie nicht, ob nicht gerade dadurch die Bomben auf ihr Haupt fallen.
    Sie sagt sich aber im Jahr 1929, da hatte Hitler vier Prozent Wählerschaft in Sachsen und Vorpommern. Den hätten wir doch abwählen können. 40.000 Lehrer wie ich, Erwachsenenbildner geworden, hätten diesen Mann abgewehrt, und dann säße ich jetzt nicht ohnmächtig im Keller. Wenn Sie das jetzt anwenden auf unsere Gegenwart – was wissen wir, ob unsere Kinder nicht 2032 in Gefahr geraten und in eine Lage, in der sie eigentlich ohnmächtig sind. Also müssen wir jetzt was tun. Jetzt haben wir es noch in der Hand.
    Die Rettung durch Bomben
    Drees: Und bei diesen Lancaster-Bombern, die beispielsweise über meine Heimatstadt Wuppertal geflogen sind, was eindrücklich in Jörg Friedrichs "Der Brand" beschrieben wurde, was die Menschen durchmachen mussten, denke ich zugleich auch an meine Großmutter, die Jüdin war und nur deshalb fliehen konnte, weil die Lancaster-Bomber da waren.
    Kluge: Und da ist die Natur, also die geschichtliche Natur, so reich. Ich meine, es ist ja nun wirklich so, dass das nicht sehr oft war, dass man fliehen konnte. Und diese Ausweglosigkeiten, die sind das Unheimliche. Und ich sage Ihnen, wenn der größte französische Geist da in einem Bahntransport rettungslos in die Todesmaschinerie gefahren wird, mit der Reichsbahn – da hat es ja keinen Sinn, zu sagen, wir wollen die Eisenbahn zerstören, sondern wir müssen sagen, diese Art von Gesellschaften, die sind das Unheimliche, und die muss man überall in der Welt aufspüren können. Wir sind schutzgeimpft, wenn Sie so wollen, durch ganz bittere Erfahrungen des 20. Jahrhunderts.
    Drees: Aber werden nicht genau diese Erfahrungen inzwischen von einer jüngeren Generation ignoriert, verdrängt, vergessen? Wir haben wieder mit Judenhass zu tun beispielsweise – ist das nicht erschreckend?
    Kluge: Deswegen brauchen Sie eben andere Überlieferungen als die bloße Information. Information unterscheidet sich von einem Erzählen, von der Narration, dass der subjektive Teil, die Empörung eines Menschen – das Longue durée-Gedächtnis, das langanhaltende Gedächtnis uns eingegeben ist als Menschen. Wenn Sie von Ihrer Großmutter sprechen, denke ich an meine Großmutter. Und die Summe aller Großmütter ist klüger als jede Generation. Wir brauchen Erfahrungstransfer, und das machen die Medien von sich aus nicht.
    Die Herzlichkeit der Vernunft
    Drees: Das ist das, was die nigerianisch-stämmige Schriftstellerin und Feministin Adichie bei der Eröffnung der Frankfurter Buchmesse, bei der Pressekonferenz schon gesagt hat, dass allein die Kraft der Fiktion uns beispielsweise die Lebenswirklichkeit von Frauen nahebringt. Männer lesen meistens Literatur von Männern und nicht von Frauen. Frauen lesen die Literatur von Frauen und von Männern. Aber genau in diesen poetischen Werken, die von den Männern nicht gelesen werden, könnten wir die Antworten finden und auch die Informationen, die wir durch einen Zeitungsartikel niemals bekommen würden.
    Kluge: Das ist total richtig, was Sie sagen. Das Wort 'Fiktion' mag da auch falsch sein gegenüber einer Realität, die lügt und die behauptet, sie sei konsistent, ist es aber nicht. Denn sie wäre nur konsistent, wenn sie wirklich dauerhaft garantieren kann, dass es keine Gaskammern gibt. Dass es sie weder in Zukunft gibt – und sie müssen Sie eigentlich in der Vergangenheit auch irgendwie absorbieren, um Wirklichkeit sein zu können. Und dann ist die Wirklichkeit nichts Wirkliches, sondern die Fiktion, die wir so nennen, sie Narration, die Erzählung mag dann das Wirklichere sein.
    Drees: Worüber Sie ja auch gesprochen haben mit Ferdinand von Schirach in dem hinterher erschienenen Band kann man es nachlesen, die "Herzlichkeit der Vernunft", wie oft die Erzählung gewonnen hat und überhaupt erst zu Empörung beispielsweise gesorgt hat. Weil es uns, und auch das hat Adichie, um noch mal auf sie zu kommen, gesagt: Wir sind emotionale Wesen, und wir müssen emotional gepackt werden.
    Kluge: Das sind wir wirklich. Das Herz hat einen Verstand, den der Verstand selbst nicht versteht. Und wenn Immanuel Kant sagt, Aufklärung ist der Mut, sich des eigenen Verstandes zu bedienen, dann braucht das eine Ergänzung: Auch die Haut mit ihren Allergien kann protestieren. Auch die Fußsohle hat eine Intelligenz, die nicht lebenslänglich eingekerkert gehört in einen Schuh. Das heißt, wir haben so viele Sinne, so viele Eigenschaften, und alle zusammen würden es nicht aushalten, ein Exekutionskommando zu befehligen. Das heißt, es gibt schon in uns Aushilfen gegen das Unheimliche. Und die muss man aber immer wieder ausgraben.
    Alexander Kluge, Ben Lerner: "Schnee über Venedig"
    mit zahlreichen Schwarzweiß- und Farbabbildungen von Gerhard Richter, Thomas Demand und R.H. Quaytman
    Spector Books, Leipzig, 300 Seiten, 28 Euro
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.