Dienstag, 19. März 2024

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Alexej Nawalny
"Der einzige Oppositionelle, der dem Putin-Regime die Stirn bietet"

Mit seinen Enthüllungsberichten über Korruption und Machtmissbrauch habe sich Kreml-Kritiker Alexej Nawalny in Russland ungemeine Anerkennung in der Gesellschaft eingebracht, sagte Manfred Sapper, Chefredakteur der Zeitschrift "Osteuropa", im Dlf. Nawalny nehme den Menschen die Angst vor dem Regime.

Manfred Sapper im Gespräch mit Katrin Michaelsen | 21.08.2020
Der russische Oppositionspolitiker Alexej Nawaln
Der russische Oppositionspolitiker Alexej Nawalny liegt mit Vergiftungserscheinungen in einem Krankenhaus im Koma (imago images / tass / Sergei Fadeichev)
Alexej Nawalny ist der prominenteste russische Kreml-Kritiker. Am 20. August wurde er mit Symptomen einer Vergiftung in ein Krankenhaus in der sibirischen Stadt Omsk gebracht und liegt seither im künstlichen Koma. Wie schwer er erkrankt ist, bleibt weiter unklar. Aus dem Krankenhaus kommen nur bruchstückhaft Informationen. Laut der behandelnden Ärzte sind "keine Spuren von Gift" in Blut oder Urin gefunden worden. Nawalnys Mitarbeiter gehen jedoch weiterhin von einer absichtlichen Vergiftung als Krankheitsursache aus.
24.11.2018, Baden-Württemberg, Sindelfingen: Gernot Erler (SPD), spricht beim Landesparteitag der SPD Baden-Württemberg. Foto: Marijan Murat/dpa | Verwendung weltweit
Erler (SPD): Vergiftungen sind "ungute Tradition in Russland"
Der ehemalige Russland-Beauftragte der Bundesregierung, Gernot Erler (SPD), geht davon aus, dass Kreml-Kritiker Alexej Nawalny absichtlich vergiftet worden ist. Alle Umstände wiesen auf diese ungute Tradition im Umgang des Kremls mit seinen Kritikern hin. "Je unbequemer man ist, umso gefährlicher lebt man." Klar sei aber auch, dass es wie in jedem zurückliegenden Vergiftungsfall nie ein Eingeständnis geben werde, erklärte Erler. "Das ist ein typischer Fall, wo es schwierig ist, eine Beweisführung zu erhalten. Wir werden wieder in der Situaiotn sein, dass es Hinweise und eine große Unwahrscheinlichkeit gibt, dass so ein Anschlag ohne zumindest eine Duldung der politischen Führung passiert", so Erler. Das Wichtigste sei jetzt die Rettung des Lebens. Nawalny sei sehr wichtig für die russische Opposition.
Deutschland hat medizinische Hilfe angeboten. Ein Spezialflugzeug landete am Freitag im Omsk, um Alexej Nawalny nach Berlin in die Charité zu holen. Der Filmproduzent Jaka Bizilj hatte mit seiner Stiftung den Flug organisiert . Der Gründer der "Cinema for Peace"-Gala, die während der Berlinale stattfindet, hatte schon einmal eine Rettungsaktion für einen Aktivisten der russischen Künstlergruppe Pussy Riot organisiert.
Die Ärzte in der Klinik in Omsk erlaubten den Transport jedoch nicht, schrieb Nawalnys Sprecherin am Morgen auf dem Kurznachrichtendienst Twitter. Die Ärzte hielten Nawalny für nicht transportfähig. [Anmerkung der Redaktion: Am Freitagnachmittag hat ein Arzt am behandelnden Krankenhaus mitgeteilt, dass Nawalny doch nach Deutschland ausgeflogen werden darf.] Manfred Sapper ist Chefredakteur der Zeitschrift Osteuropa.

Katrin Michaelsen: Herr Sapper, Alexej Nawalny ist der prominenteste Oppositionelle in Russland. Ist er damit auch der gefährlichste aus Sicht des Kremls?
Manfred Sapper: Absolut. Er ist der einzige Oppositionelle, der dem Putin-Regime wirklich die Stirn bietet. Und er macht das deshalb, weil er ein ganz ähnliches politisches Profil zunächst hat, dass es einer der aus der liberalen und auf der nationalliberalen Ecke kommt, und die Bevölkerung von jung bis alt, von gebildet bis einfache Leute auf dem Lande anspricht. Er ist der Einzige, der eine atemberaubende Mobilisationsfähigkeit in der Gesellschaft entfaltet hat. Und er ist der Einzige, der Strukturen aufgebaut hat, die ein Gegengewicht zu dem autoritären Putin Regime darstellen können.
"Virtuos die kriminellen Machenschaften der Elite offengelegt"
Michaelsen: Nawalny wurde bereits mehrfach festgenommen, er wurde mehrfach angegriffen. Was ist danach in der russischen Bevölkerung passiert? Hat das seine Position ehe geschmälert oder eher gestärkt? Was beobachtet Sie?
Sapper: Eher gestärkt! Weil selbst diejenigen liberalen Kräfte, die zunächst wegen seiner nationalistischen Äußerungen distanziert auf ihn geschaut haben, gesagt haben, es ist wirklich beeindruckend, was er leistet. Und er wird über alle gesellschaftlichen Gruppen anerkannt. Und zwar deshalb, weil es niemanden anderen in Russland gibt, der so virtuos die kriminellen, kleptokratischen Machenschaften der Elite offenlegt. Wir müssen uns vorstellen, Nawalny dreht Filme - herausragend professionell gemacht - hat ein Team, die Stiftung zur Bekämpfung der Korruption, wo er aufzeigt, wie schamlos die Elite sich um Putin bereichert.
35 Millionen Menschen bei einer Bevölkerung in Russland von 140 Millionen, 35 Millionen Menschen haben sich zum Beispiel ein Video von ihm über die schamlose Bereicherung von Medwedjew, dem Adlatus von Putin, dem langjährigen Ministerpräsidenten und zwischenzeitlichen Platzhalter als Präsident angeschaut. Er regt die Leute auf dadurch, dass er selbst zeigt, wie diejenigen, die eigentlich für Ordnung stehen sollen, kriminell sind. Er hat keine Angst, er legt sich an mit dem Präsidenten des Ermittlungskomitees, Alexander Bastrykin.
Er deckt auf, was für eine Doppelmoral jemand wie der FSB-Chef Alexander Bortnikow hat und das anders. Das hat ihm ungemeine Anerkennung über die gesamte Gesellschaft gebracht. Und er ist in der Lage, dadurch, dass er aus der Stiftung heraus und aus seinen Tätigkeiten heraus dann eine politische, dezentrale Organisation geschaffen hat, junge Leute zu aktivieren, die ja auch die Träger des Protests in Regionen und setzt momentan in Belarus sind.
"Er nimmt keine Rücksicht und ist nicht kompromittiert"
Michaelsen: Wenn wir uns die Arbeit von Alexej Nawalny angucken, gibt es - Sie haben beschrieben, wie virtuos er vorgeht - aber gibt es auch Zweifel und Kritik an seinen Methoden?
Sapper: Natürlich gibt es die. In einem Regime wie Russland ist davon auszugehen, dass er zum Teil auch Material gesteckt bekommt, von Leuten, die in unterschiedlichen Seilschaften miteinander kämpfen. Viele von denen, das wissen wir als Journalisten sehr gut, was als investigatives Material von Medien aufgedeckt wird, wird nur deshalb aufgedeckt, weil irgendjemand der Mitwisser Materialien durchsticht. Und in dieser Hinsicht ist bei manchen der Verdacht, dass Nawalny sich auch instrumentalisieren lässt. Aber er ist meines Erachtens in der Hinsicht über jeden Zweifel erhaben, weil er überhaupt keine Rücksicht nimmt und auch nicht kompromittiert ist.
"Nawalny ermächtigt Menschen, keine Angst zu haben"
Michaelsen: Herr Sapper, ich möchte noch auf einen anderen Aspekt zu sprechen kommen. Welche Rolle spielen eigentlich die Proteste in Belarus? Die Proteste gegen Alexander Lukaschenko. Lukaschenko hat Nawalny ja vorgeworfen, hinter den Protesten der Opposition zu stehen.
Sapper: Wir wissen es nicht. Aber es hat eine ganz besondere Bedeutung. Das, was in Belarus passiert, ist, dass die Menschen ihre Angst verlieren. Und Angst ist neben Zynismus die entscheidende System-Ressource für die Stabilität von Diktaturen und autoritärer Herrschaft. Nawalny ist derjenige, der angstfrei Putin und dem Putin-Regime die Stirn geboten hat. Er empowert, er ermächtigt Menschen dadurch, keine Angst zu haben. Und auch Russland ist ein politisches Regime, das sehr stark auf Angst und Zynismus basiert.
Der Chefarzt des Krankenhauses in Omsk steht vor Journalisten.
Politikwissenschaftler: "Es deutet alles darauf hin, dass es ein Mordversuch war"
Alexej Nawalny müsse dringend aus Omsk weg transportiert werden - entweder in eine unabhängige Klinik nach Moskau oder nach Deutschland, sonst sei keine unabhängige Diagnose möglich, sagte Politikwissenschaftler Sergey Medvedev im Dlf. Es seien Geheimdienstler im Krankenhaus, die klare Aussagen der Ärzte verhindern und vermutlich abwarten, bis Toxine aus dem Körper ausgeschwemmt und damit nicht mehr nachweisbar seien. Auch beim KGB habe es eine lange Liste von Auftragsmorden gegeben, die nur im Ausland aufgedeckt worden seien.
Diese Angst erodiert, weil zum Beispiel seit mittlerweile fünf Wochen Leute im Gebiet Chabarowsk auf die Straße gehen. Und eine Ermordung oder ein Giftanschlag eines der führenden Oppositionellen ist nicht nur gegen ihn gerichtet, sondern ist ein Signal an die gesamte Opposition, an die gesamte Gesellschaft, dass sie wieder Angst haben soll. Das ist eine Botschaft dieses Attentats.
Ob das aus dem Kreml, aus dem FSB oder aus einem der Umfelder von denjenigen in Auftrag gegeben wurde, mit denen sich Nawalny angelegt hat - zum Beispiel der berühmte Jewgeni Prigoschin, Putins Koch, das wissen wir nicht. Das werden wir nie erfahren. Aber es ist genau das Gleiche, was bei der Ermordung von Boris Nemtsov passiert ist, dass es mehrere Optionen gibt und das Ergebnis ist: Nemtsov ist tot und die Gesellschaft ist wieder im Angst versetzt worden. Und das ist das, was wir momentan als Lehre der politischen Machtausübung dort sehen können.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.