Dienstag, 16. April 2024

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Aliens im Ozean
Der Geist der Kraken und Tintenfische

Im Ozean leben die Genies unter den Weichtieren: die Tintenfische. Sie haben ein gutes Gedächtnis, zeigen sehr flexibles Verhalten, sind neugierig und verspielt. Affen und auch Krähen denken als Wirbeltiere ähnlich wie Menschen. Die Oktopusse hingegen pflegen eine ganz eigene Spielart der Intelligenz.

Von Volkart Wildermuth | 25.08.2019
Zwei männliche Riesensepia, die um ein Revier konkurrieren, zeigen schnell wechselnde, pulsierende Farbmuster.
600 Millionen Jahre Evolutionsgeschichte trennen uns Menschen von Kraken (dpa / picture-alliance / G.Bell )
Marco Hasselmann: "Ja schönen guten Tag, der Herr Wildermuth"
Volkart Wildermuth: "So sieht es aus, auf der Suche nach dem Kraken."
Marco Hasselmann: "Dann würde ich vorschlagen, wir gehen mal zum Kraken."
Das Berliner-Zoo-Aquarium, 4.854 Fische und ein kleiner Krake. Durch Kinderscharen geht es zu einem eher schmalen Becken. An der Scheibe ein Gewimmel aus Saugnäpfen und acht Armen.
Christian Heller: "Er fühlt halt die Umgebung quasi ab. In dem Becken befindet sich ein sogenannter gemeiner Oktopus. Das heißt also nicht, dass es ein fieser Geselle ist. Sondern der heißt lateinisch Octopus vulgaris, das ist also ein gewöhnlicher Oktopus."
Der Krake oder Oktopus gehört zu den Kopffüßern. Ab und zu blitzt ein goldenes Auge aus dem Arme-Knäuel. Mustert er seine Betrachter vor der Scheibe:
Peter Godfrey-Smith: "Ich strecke die Hand aus, ein bisschen, wie in der Sixtinischen Kapelle. Und manchmal streckt auch das Tier seinen Arm aus und berührt mich ganz kurz."
600 Millionen Jahre Evolutionsgeschichte trennen uns von den Kraken. Das interessiert auch Hirnforscher:
Gilles Lauernt: "Mich treibt pure, kindliche Neugier auf diese Tiere, die uns wirklich fremd sind. Die einen ganz anderen Evolutionsweg gegangen sind als wir und extrem komplexe Gehirne entwickelt haben."
Volkart Wildermuth: "Der ist dann auch mal durchs Becken geschwebt, hat seinen Torpedoantrieb genutzt, ist gegen die Scheibe geknallt mit dem Körper. Jetzt sind da ein paar weiße Flecken, die sehen fast aus wie Augen. Versuchte der uns zu erschrecken?"
Christian Heller:"Genau das ist in der Tat auch wieder eine Ablenkungsmaßnahme. Augenmuster, damit können sie natürlich drohen. Das ist halt ein munteres Kerlchen, ich glaube nicht, dass der uns ernsthaft als Bedrohung empfindet oder wahrnimmt aber er probiert sich halt aus."
Riesensepien mit zehn Armen
So nah wie hier mit Tierpfleger Christian Heller bin ich einem Kraken noch nie gekommen. Kann man sich in ein so fremdes Wesen hineindenken, hineinfühlen? Einen Versuch ist es Wert, meint Peter Godfrey-Smith, Taucher und Philosoph in seinem Buch "Der Krake, das Meer und die tiefen Ursprünge des Bewusstseins". Ich erreiche ihn an der Universität Sydney. Vor der australischen Küste ist gerade Paarungszeit für Riesensepien, langgestreckte Tintenfische mit sogar zehn Armen:
Peter Godfrey-Smith: "Vor ein paar Tagen habe ich einen Riesensepia getroffen, einen halben Meter groß. Er hat mich auf eine lange Tour mitgenommen. Ich in meiner Tauchausrüstung und dieses außergewöhnliche Weichtier. Und wir kommen um eine Ecke in die Nähe eines Badestrands. Ich hatte das seltsame Gefühl, er würde jetzt einfach auf dem Bauch aus dem Wasser heraus schießen und sich am Strandgetümmel beteiligen. Aber dann ist er abgebogen und in seiner Heimat geblieben."
Peter Godfrey Smith ist ihm fast eine Stunde gefolgt, ganz offensichtlich war er an ihm interessiert. Doch beruhte das auch auf Gegenseitigkeit?
Peter Godfrey-Smith: "Dieses Exemplar war nicht an mir interessiert. Das mag ich an ihnen, kein Tier ist wie das andere. Einige nehmen Kontakt mit Tauchern auf, starren dich an, gucken, was du machst, das finde ich außerordentlich. Diese Tiere sind evolutionär gesehen rund 600 Millionen Jahre von uns entfernt. Und trotzdem gibt es da etwas in ihnen, das sie neugierig macht."
Untersuchungen an Tintenfischen
Im Keller des Max-Planck-Instituts für Hirnforschung in Frankfurt führt die Doktorandin Theodosia Woo ins Labor. Viele Bildschirme, helle Lampen, Highspeed-Kameras und ein großes, flaches Becken mit einem handtellergroßen Tintenfisch. Sein Körper gleicht einem kompakten Oval, vorne liegen dicht nebeneinander die kurzen Arme. Dieser Sepia officinalis ist einen Raum weiter geschlüpft, aus Eiern vom englischen Kanal:
Theodosia Woo: "In diesem Experiment untersuchen wir das Tarnverhalten der Tintenfische. Unter dem Becken ist ein Stoffband mit verschiedenen Mustern, oben 25 Kameras, die gemeinsam ein zusammengesetztes, hochaufgelöstes Video des Tieres aufzeichnen."
Theodosia Woo blickt in ein beleuchtetes Wasserbecken, in dem sich ein Tintenfisch befindet
Theodosia Woo untersucht Tintenfische im Max-Planck Institut für Hirnforschung in Frankfurt (Volkart Wildermuth / Deutschlandradio)
Volkart Wildermuth: "Hier ist im Grunde ein riesiges Band mit lauter Fotos aneinandergeheftet, das kann man hin und her drehen und damit einfach den Untergrund für die Tiere verändern. Gerade ist hier so eine Art felsiger Untergrund rein gemacht worden und der Cuttlefish, der da drauf liegt, ist erst ganz schwarz geworden und jetzt hat er sich im Grunde, er sieht mehr sandig aus. It is not very camouflaged right now?"
Theodosia Woo: "Im Moment macht er Mittagspause, daher verädert er sich nicht so sehr."
Volkart Wildermuth: "Also der Cuttlefish hat jetzt gerade auch Mittagspause, damit er nicht so gestresst ist, deshalb ist auch das Licht nicht an und deshalb fühlt er auch kein Bedürfnis sich so doll zu tarnen. Do you know them individually, is this Peter or Mary?"
Theodosia Woo: "Sie haben Nummern. Dieses Tier lebt in diesem Becken, daran erkenne ich es."
Die Daten aus Theodosia Woos Experimenten werden weiter oben analysiert, von Abteilungsleiter Gilles Laurent:
Gilles Lauernt: "Die Haut eines Tintenfischs enthält Millionen spezialisierter Farbzellen oder Millionen Pixel. Das ist ein System, vergleichbar einem hoch auflösenden Bildschirm."
Jede Farbzelle ist im Grunde ein kleiner Sack voller Pigmente, der von Muskelzellen je nach Bedarf, Pixel an – Pixel aus, zusammengezogen oder auseinander gestreckt werden kann. Obwohl sich das Tier frei bewegt, atmet, im Lauf des Experiments sogar wächst, können Gilles Laurent und sein Team dank eines immensen Rechenaufwands inzwischen die Aktivität jeder einzelnen Farbzelle auf dem Rücken eines Tintenfischs verfolgen, beobachten wie sich Muster aufbauen und wieder vergehen. Das ist erst einmal Biologie. Gilles Laurent ist aber Hirnforscher. Er möchte hinter die Farbzellen, die Pixel blicken:
Gilles Lauernt: "Eine Farbzelle wird von einigen Nervenzellen kontrolliert, mal von drei, mal nur von einer einzigen. Wenn man sich also die Farbzellen ansieht, dann sieht man indirekt die Aktivität dieser Neurone. Wir beobachten das Gehirn indirekt, ohne es selbst ansehen zu müssen."
Es ist, als ob der Tintenfisch seine Gedanken auf der Haut trägt:
Gilles Lauernt: "Mit ganz einfacher Ausrüstung - letztlich einer Kamera - sehen wir, was das Gehirn macht."
Abbildung von Mustern der Umgebung
Entscheidend ist der Sehsinn, mit dem die Sepien den Untergrund erfassen. Deckt man eines der beiden Augen ab, wird nur noch auf der anderen Körperseite ein Tarnmuster gebildet:
Gilles Lauernt: "Wir wissen, dass sie nicht einfach eine Kopie der Umgebung abbilden. Wenn sie auf einer Zeitung sitzen, kann man die Artikel nicht lesen. Sie bilden die statistischen Muster der Umgebung ab - das reicht meistens aus, um mit der Umgebung zu verschmelzen."
Die Umgebung nicht einfach abzubilden, sondern ihre verborgenen Regelmäßigkeiten zu analysieren, das ist für Computer eine Herausforderung. Kein Wunder, dass sich inzwischen auch Informatiker für die Tintenfische interessieren.
Im Tintenfischlabor hat Theodosia Woo inzwischen die Computersysteme hochgefahren, die 24 Kameras synchronisiert. Alles ist bereit. Nur der Tintenfisch schwebt über einem Stein im Becken statt im Blickfeld der Kamera. Die Hirnforscherin hebt den Glasdeckel. Der Tintenfisch lässt sich nicht stören:
Volkart Wildermuth: "So jetzt hat der Hintergrund gewechselt. Das sind jetzt Kiesel. Und der Cuttlefish ist noch dabei, das richtige Tarnungsmuster zu finden. Am Anfang war er ganz sandig hell, im Grunde, dann hat er hellere Striche im Sand drin gehabt und jetzt fängt er an, so mit dunkleren Farben zu experimentieren - also so richtig ist er noch nicht zufrieden mit seinem Aussehen hab ich den Eindruck."
Theodosia Woo: "In diesem Experiment zeigen wir dem Tintenfisch natürliche Bilder, Sand, Kiesel, Bäume."
Volkart Wildermuth: "Bäume sind ja nicht gerade eine natürliche Umgebung für Tintenfische."
Theodosia Woo: "Uns kommt es nur darauf an, auf welche statistischen Regelmäßigkeiten der Umgebung ein Tintenfisch reagiert. Er muss nicht wissen, was ein Baum ist, um sich anzupassen."
Tintenfische müssen sich tarnen, schließlich sind sie die proteinreichen Leckerbissen des Meeres. Die Muster auf ihrer Haut können aber mehr. Kontrastreiche Augenflecke sollen Feinde erschrecken. Auffallend bunte Muster die Weibchen in der Balz beeindrucken. Es gibt sogar ein Jagdkleid, das sich verändert, je nachdem ob die Beute am Ende erwischt wurde. Und sogar im Schlaf spielen noch Muster über ihre Haut:
Gilles Lauernt: "Man könnte sagen, da zeigen sich ihre Träume. Niemand weiß, ob das stimmt. Aber es ist faszinierend, dass sich diese autonome Gehirnaktivität mit der Gehirnaktivität von schlafenden Säugetieren vergleichen lässt."
Marco Hasselmann: "Also die Sepien sind auch meine persönlichen Favoriten."
Kraken und Gefühle
Im Berliner Aquarium ist der achtarmige Krake derzeit der einzige Kopffüßer. Reviertierpfleger Marco Hasselman hat hier aber auch schon mal zehnarmigen Sepien gezüchtet:
Marco Hasselmann: "Von ihrer Intelligenz her oder von ihrer Sinnesleistung her stehen die den Kraken in nix nach."
Volkart Wildermuth: "Es geht ja auch oft um die Frage, haben Kraken eigentlich Gefühle, und Sepien. Welchen Eindruck haben Sie da gewonnen?"
Marco Hasselmann: "Zumindest wird es Ihnen heiß und kalt, wenn sie in der Paarungsstimmung sind und ihnen ein vermeintlicher Geschlechtspartner begegnet. Und das war auch sehr interessant zu beobachten, dass die Tiere auf der partnerzugewandten Seite extrem farbig waren und auf der partnerabgewandten Seite so ein gelangweiltes Muster gezeigt haben, um andere Sepien in der Nähe möglichst gar nicht darauf aufmerksam zu machen, dass hier irgendwie möglicherweise die Paarung ansteht. Und natürlich auch wieder vermenschlicht sagt man dann natürlich auch, dass da auch Gefühle dahinterstecken."
Schmerzgedächtnis von Kopffüßern
Von Liebe oder Hass würden Biologen eher nicht sprechen, wohl aber von emotionalen Zuständen. An der San Francisco State University untersucht Robyn Crook das Schmerzgedächtnis verschiedener Kopffüßer. Vom mauskleinen farbenfrohen Hawaiianischen Bobtail Squid über den großen Nordamerikanischen Kalmar bis hin zum Indonesischen Oktopus, der bei Gefahr einzelne Arme abwirft, die dann innerhalb von Monaten nachwachsen. Überall im Labor brummen Wasserpumpen oder Klimaanlagen, damit es den Tieren an nichts fehlt. Nur die Experimente sind für sie unangenehm. Mal werden sie sanft in den Mantel gezwickt, mal amputiert die Robyn Crook eine Armspitze. Das klingt brutal, ist aber eine in freier Natur sehr häufige Verletzung.
Robyn Crook: "Auf Verletzungen reagieren sie im Grunde wie wir. Stellen Sie sich vor, sie berühren eine heiße Herdplatte. Dann zuckt die Hand sofort zurück, erst später wird ihnen bewusst, dass sie weh tut. Ob sie aber auch die emotionale Komponente ähnlich wie wir erleben, wissen wir nicht. Aber die direkte Reaktion ist ähnlich."
Nordamerikanische Kalmare verhalten sich nach einer Verletzung wachsamer, verteidigen sich schneller. Fische halten deshalb eher einen respektvollen Abstand. Wird die Armspitze allerdings unter Betäubung entfernt, ändert sich das Verhalten nicht. Das Schmerzgedächtnis hat also eine wichtige Funktion für die Tiere. Das ist aber nur die eine Seite von Robyn Crooks Forschung. Sie untersucht auch, welche Betäubungs- und Schmerzmittel bei Kraken, Kalmaren und Tintenfischen wirken:
Robyn Crook: "In der EU sind sie sogar gesetzlich vorgeschrieben, anders als bei allen anderen Wirbellosen. Hier in den USA ist das noch gar nicht geregelt, da sind ein Wurm und ein Oktopus gleichgestellt. Das ändert sich gerade. Aber ich habe den Eindruck: Die meisten Forscher, die mit Kopffüßern arbeiten, haben schon lange über das Wohlergehen ihrer Versuchstiere nachgedacht, schon vor allen Gesetzen."
Vielleicht, weil viele Arten sich in den Experimenten als hoch intelligent erweisen. Für eine Muschel oder eine Garnele strengen sich Kraken mächtig an. Sie können sich Verstecke merken, Gläser aufschrauben, ja sogar von Artgenossen lernen. Feinde verwirren sie, indem sie mit einem Arm eine Seeschlange imitieren. Und ein Exemplar in einem Aquarium in Coburg schoss einen Wasserstrahl an die Deckenlampe, wohl weil dann das Personal so schön herumrannte:
Peter Godfrey-Smith: "Wenn sie einer Krähe oder einem Papagei etwas Neues geben, dann guckt er sich die Sache erst mal an: Kann ich das brauchen? Ohne es direkt zu berühren. Ein Oktopus dagegen greift gleich zu, dreht es um, versucht es auseinanderzunehmen, schmeckt es, tastet aus. Sie haben diese Kombination aus extremer Neugier und extremer Sensibilität."
Ein Oktopus im Meer
Neugier ist ein wichtiges Merkmal der Oktopusse (Imago/Blickwinkel)
Autonomie der Arme
Bei Kraken befindet sich die Mehrzahl der Nervenzellen in den Armen. Diese Arme haben auch ein beachtliches Maß an Autonomie. Denkt ein Oktopus also in acht Armen, ohne dass ein zentrales Selbst die Richtung vorgibt? Philosoph Peter Godfrey-Smith:
Peter Godfrey-Smith: "Das ist die große Frage. Man hat lange gedacht, dass ein Krake gar nicht genau weiß, wo seine Arme gerade sind. In Experimenten konnten Kraken aber einen Arm gezielt durch ein Labyrinth lotsen, das sie mit den Augen sehen können. Der Arm erkundet wohl die direkte Umgebung, aber die Richtung, die bekommt er vorgegeben. Aber es bleibt ein Geheimnis, wie die Balance von zentraler Kontrolle und lokaler Autonomie bei den Kraken aussieht."
So wie die Krähen und Papageien unter den Vögeln herausstechen oder die Affen unter den Säugetieren, so sind die Kopffüßer die Genies unter den Weichtieren. Und sie haben diese Position evolutionär auf einer ganz eigenständigen Route erreicht. Auch wenn ein Oktopus kein Großhirn besitzt, der Vertikallappen in seinem Kopf übernimmt vergleichbare Aufgaben in Lernen und Gedächtnis. Seine Oberfläche ist eingefaltet, wie der Cortex einer Maus, seine Nerven verwenden dieselben Botenstoffe:
Robyn Crook: "Auf der Ebene der zellulären Prozesse und Verschaltungen sind sich alle Gehirne wirklich ähnlich. Es kommt nicht darauf an, wo die Evolution startet oder welche Route sie nimmt. Auch wenn wir diese unglaubliche Vielfalt in der Tierwelt sehen, wenn es darum geht, ein Gehirn zu bauen, das X oder Y kann, dann gibt es dafür nicht so viele Möglichkeiten. Das finde ich fantastisch spannend."
Zum Ende unseres Gesprächs frage ich Robyn Crook noch nach all den Anekdoten von Kraken, die aus ihren Aquarien ausbüxen und durch die Kanalisation Richtung Ozean entschwinden:
Robyn Crook: "Es gibt so viele dieser Geschichten, und was auffällt: Sie sind oft jemand anderem an einem anderen Ort passiert. Ich weiß nicht, wie viel davon stimmt. Ich muss sagen, aus meinem Labor gibt es keine lustigen Geschichten über Oktopusse, die bei Nacht durch die Labore wandern oder meinen Kopf mit Wasser anspritzen. Sorry, ich habe keine guten Anekdoten zu bieten."
Soziale Interaktionen bei Kraken
Kraken und Sepien können ihre Pfleger erkennen, wissen, von wem sie eine Garnele erwarten können. Das ist eigentlich erstaunlich, denn im Meer sind die Tiere Einzelgänger und treffen sich praktisch nur zur Paarung. Unter den Kopffüßern treten vor allem Kalmare in Gruppen auf, aber auch hier geht es weniger um soziale Interaktion als um den Schutz in der Menge. Deshalb war ein Freund von Peter Godfrey-Smith bass erstaunt, als er in 15 Metern Tiefe auf einer sandigen Stelle vor Australiens Ostküste eine Ansammlung von fast einem Dutzend Sydney Oktopussen entdeckte:
Peter Godfrey-Smith: "Dieses Gebiet ist ein Oktopushimmel, es gibt unendlich viele Jakobsmuscheln. Und es ist die Hölle für Oktopusse, denn es gibt jede Menge Haie, Delfine und Robben, die es alle lieben, Oktopusse zu fressen."
Deshalb bauen Kraken Höhlen, aber in der Gegend ist der Sand so fein, dass sie gleich wieder einstürzen. An einer Stelle aber war ein Metallstück von einem Boot gefallen, so groß wie ein Eimer. Da konnten sich ein oder zwei Oktopusse verstecken, sie haben Muscheln gefressen, die Schalen türmten sich in der Nähe und so konnten mehr Kraken Schutz finden und so weiter und so weiter. Inzwischen beobachten Unterwasserkameras das Geschehen in Octopolis und dem nahe gelegenen Octlantis. Der Biologe David Scheel von der Alaska Pacific University hat sich über 50 Stunden der australischen Krakenvideos angesehen. Eine Doku-Soap der besonderen Art. Häufig war nicht viel los, die Tiere lagen einfach nur gut getarnt herum. Aber zwischendurch gab es richtig Action:
David Scheel: "Tatsächlich hat es viel mehr Spaß gemacht, als erwartet. Die Oktopusse sind unterhaltsam, sehr einnehmende Schauspieler: Es ist faszinierend zu sehen, was passiert."
Oktopus Franz beobachtet am 06.12.2012 in einem der Aquarien des SeaLife in Timmendorfer Strand (Schleswig-Holstein) die Besucher. 
Oktopusse streiten sich gelegentlich (picture alliance / dpa / Jens Büttner)
Immer wieder streckt ein Oktopus den Arm zu seinem Nachbarn und der andere antwortet mit seinem Arm. Gelegentlich führt das zu Paarungen – öfter aber zu Streit. Dann wird ein Krake ganz dunkel, fast schon schwarz. Er spreizt seine acht Arme weit und stemmt sich damit hoch. Am Ende reckt er noch den Eingeweidesack über den Kopf. So sieht er im Grunde aus wie Darth Vader, komplett mit Helm und wehendem Mantel:
David Scheel: "Wir glauben, in dieser Haltung will das Tier möglichst massig wirken. Es sagt: Ich bin so groß, ich bin so mies und ich werde nicht nachgeben."
Die Forscher haben schon erbitterte Kämpfe beobachtet. Beim Anblick der Darth-Vader-Pose geben die meisten Kraken aber klein bei und hissen ganz wörtlich die weiße Flagge:
David Scheel: "Auf der einen Seite zeigen die unterlegenen Kraken dann schwarze Flecken auf weißem Grund. So scheinen sie zu vermitteln: Ich gebe nach, kein Grund aggressiv zu werden. Auf der anderen Seite ist oft noch die Tarnung zu sehen, damit sie nicht ungewollt Aufmerksamkeit erregen."
Für David Scheel ist die Darth-Vader-Pose das, was Biologen ein ehrliches Signal nennen. Solche Signale helfen, gefährliche Kämpfe zu vermeiden, weil der Gegner die Stärke des Angreifers abschätzen kann. Der zeigt nicht nur seine Größe, sondern auch seine Kampfbereitschaft. Denn mit der schwarzen Farbe geht er auf dem sandigen Grund durchaus ein Risiko ein:
David Scheel: "Wir haben gesehen, wie ein Oktopus gerade seinen Mantel hochgehoben hat, und dann kam ein Fisch vorbeigeschwommen und biss einfach ein Stück raus, mitten in der Drohgebärde."
Der äußere Druck der Fraßfeinde hat die Sydney Oktopusse von Octlantis und Octopolis gezwungen, zusammenzuleben. Zu tolerieren, dass es hier keine abgegrenzten Reviere gibt, die Artgenossen buchstäblich in Greifweite leben. Eine echte Gemeinschaft ist nicht entstanden, aber ein System aus Signalen, das zumindest einen Burgfrieden aufrechterhält. Eigentlich ist es eine schöne Vorstellung, dass hier der Keim gelegt wird zu einer neuen, sozialen Art des Krakenlebens:
Peter Godfrey-Smith: "Das würde mir gefallen, aber so wird es wohl nicht kommen. Das liegt am Lebenszyklus der Kraken. Aus ihren Eiern schlüpfen kleine Larven, die wegtreiben und Teil des Planktons werden. Die Strömung trägt sie irgendwohin. Das macht es für die Evolution schwer, einen Anpassungsprozess zu starten. Irgendwie erschaffen sie diesen quasi sozialen Lebensstil immer wieder aufs Neue."
Volkart Wildermuth: "Das ist ja niedrig hier."
Christian Heller: "Aufgepasst mit dem Kopf in der Tat."
Kräftige Kraken
Krakenpfleger Christian Heller führt mich hinter die Kulissen des Berliner Aquariums, die Decke hängt niedrig, über uns ist das Becken der Krokodile. Überall gluggert und pumpt es. Die Becken, die wir gerade noch von vorne gesehen haben, liegt jetzt offen vor uns. Alle, bis auf eines. Ein schwerer Stahldeckel soll verhindern, dass der muntere Krake die Nachbarbecken besucht:
Christian Heller: "Edelstahl nur vom Feinsten, damit es nicht so schnell wegrostet und man kann auch sehr schön sehen, dass wir die Außenkante des Beckens mit so einer Art Balkonteppich beklebt haben. Das ist offensichtlich eine Struktur, auf der sie sich nur ungern oder schlecht festhalten können. Und in der Mitte haben wir eine unheimlich schwere Kunststoffplatte. Man kann jetzt übrigens auch, wenn man den Deckel aufmacht, die sind ja sehr neugierig, dass der hier schon ankommt."
Volkart Wildermuth: "Stimmt, der schwimmt da. Darf ich einen Finger ins Wasser halten?"
Christian Heller: "Es kann sein, dass er dann die ganze Hand mit reinzieht, weil die sind wirklich kräftig."
Volkart Wildermuth: "Oh, er kommt. Das ist wirklich kräftig und zwar strudelt da gleich ein ganzes Rudel Arme an. Okay, jetzt hängt der in der Luft, das fühlt sich ja wirklich lustig an. Aber da ist Kraft dran."
Erst schmatzt er sich nur mit einem Arm an meinen Finger, dann gleiten mehr Arme an meiner Hand hoch, saugen sich fest. Nicht unangenehm aber ungewohnt. Plötzlich zieht es stark Richtung Wasser - bevor der Gast nass werden kann, hat Christan Heller schon die eigene Hand dazwischen geschoben und die neugieren Tentakel beschäftigen sich gleich mit dem neuen Ziel:
Christian Heller: "Man kann ihn eigentlich nicht lösen. Von der Hand, wenn er sich jetzt wirklich fest gearbeitet hat. Weil mit unserer andern Hand, mit der übrig gebliebenen, kann man keine acht Arme ständig abrufen. Da bleiben also immer sieben in Bewegung und halten sich fest."
Cleverness durch Verlust der Schale
Kraken, Sepien und Kalmare sind neugierig und clever. Nur warum sind es ihre Verwandten, die Schnecken oder Muscheln nicht? Gilles Laurent vom Max Planck-Institut für Hirnforschung vermutet, dass hier der Verlust der schützenden Schale entscheidend war:
Gilles Lauernt: "In der frühen Evolution der Kopffüßer waren sie als Jäger im Ozean die dominante Macht. Sepien, Kalmare und Kraken verloren ihre Schale, weil sie sie nicht brauchten. Doch dann entstanden die Knochenfische. Die Kopffüßer mussten einen Weg finden, den neuen Räubern zu entkommen."
Peter Godfrey-Smith vermutet, dass der Verlust der Schale noch auf einem zweiten Weg den Verstand geschärft hat:
Peter Godfrey-Smith: "In einem Oktopus gibt es keine harten Teile, nur seinen Schnabel, der einem Vogelschnabel ähnelt. Es ist ein Körper voller Möglichkeiten aber auch voller Herausforderungen, weil so viel kontrolliert werden muss."
Wir können unseren Arm am Ellbogen knicken. Der Arm eines Oktopus bewegt sich überall in alle Richtungen. Und es gibt acht Stück davon. Um hier Knoten zu vermeiden braucht es komplexe Nervennetze. Und die konnten dann irgendwann mehr, als nur Arme zu kontrollieren, auf innovative Art Beute zu jagen und sich geschickt vor anderen Räubern zu verstecken:
Peter Godfrey-Smith: "Es gibt eine Art Überschuss an Gehirnkapazität bei den Kraken, selbst wenn man ihren komplexen Lebensstil bedenkt. Kürzlich wurde experimentell bestätigt, was wir schon lange vermutet haben: In Gefangenschaft lernen sie, welche Menschen nett zu ihnen waren und welche nicht. Und das bei einem Tier, das als Einzelgänger lebt. Warum sollten sie das können? Rätselhaft."
Das Rätsel reicht sogar noch tiefer. Die meisten intelligenten Tiere leben lange, schon alleine um die Früchte des Lernens auch ernten zu können. Die meisten Kraken und Sepien sterben nach einem oder zwei Jahren:
Peter Godfrey-Smith: "Das war ein Schock, als mir das klar wurde. Ich habe vor zehn Jahren mit dem Tauchen begonnen und bin diesen Tieren im Meer begegnet. Ich ging davon aus, dass sie schon lange vor mir dort waren und dass ich ihnen noch in vielen Jahren begegnen würde. Aber sie rasen durch ihre Leben, das macht es schwer zu verstehen, warum sie so klug sind. Ihnen bleibt so wenig Zeit, um all ihre Cleverness zu nutzen."
Die Evolution hat Kraken und Tintenfische gezwungen, durch ihre Leben zu brennen, ihren Verstand einzusetzen, um wenigstens bis zur Paarung und Eiablage zu überleben. Die Riesensepien vor Sydney schweben bei ihren Gelegen unter Felsvorsprüngen, während ihre einst so bunte Haut weiß wird und sich nach und nach ablöst. Bis sie nach oben an die Wasseroberfläche treiben und sterben:
Peter Godfrey-Smith: "So wunderbar ähnlich und verschieden. Es ist, als würde man einem intelligenten Alien begegnen."