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Alkoholsensitive Krankheit
Ein Bier und das Zappeln verschwindet

Bis zum 7. Lebensjahr entwickelte sich Niklas normal. Er spielte mit Freunden, ging gern zur Schule. Danach schlich sich eine Störung ein, die ihn mehr als zehn Jahre belasten sollte: Kopf, Arme, Beine zuckten unkontrolliert. Sein Kinderarzt diagnostizierte ADHS und lag damit falsch.

Von Mirko Smiljanic | 26.06.2018
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    Oft wird ADHS bei unruhigen Kindern diagnostiziert. Doch die Myoklonus Dystonie zählt zu den seltenen Krankheiten, die nur Spezialisten kennen. (picture alliance/dpa/Julian Stratenschulte)
    Bad Hersfeld 2003. Deutschunterricht in der 2. Klasse der Astrid-Lindgren-Grundschule. Mal mehr, mal weniger konzertiert lesen 26 Schülerinnen und Schüler Texte, die ihre Lehrerin verteilt hat. Mitten drin Niklas Rübenstahl und sein Zwillingsbruder Lukas. Probleme mit dem Lesen hat keiner von beiden - an diesem Vormittag stimmt mit Niklas aber etwas nicht.
    "Der Niklas hat plötzlich Bewegungen gemacht."
    Erinnert sich Niklas Mutter, Michaela Rübenstahl.
    "Unkontrollierte Bewegungen, will ich es mal nennen, oder Zuckungen haben wir es irgendwann genannt."
    "Also, es hat bei mir beim Kopf angefangen."
    Sagt der heute 22-jährige.
    "Ich hab halt mit dem Kopf immer so nach links und rechts leicht gezuckt, dann ging das immer weiter mit Armen, Beinen, und irgendwann habe ich gemerkt, ich stell mich ziemlich verkrampft hin, ich stand dann ziemlich schräg, auch weil ich die halt unterdrücken wollte diese Ticks."
    Ein paar Wochen beobachten Mutter und Lehrerin Niklas unkontrollierte Bewegungen. Eine Besserung stellt keine der beiden fest. Ob in der Schule oder zu Hause - ständig zucken Kopf, Arme und Beine.
    "Das hat sich sehr auf die Schulleistungen ausgewirkt. Wir haben dann sogar noch eine Lehrerin zur Seite gekriegt, und das war schon eine harte Zeit in der Grundschule."
    "Ich hab mich eher so aufs Umfeld konzentriert, dass die mich halt nicht die ganze Zeit angucken, dann saß ich halt da und dachte, wenn die jetzt wieder gucken und ich zuck´ da wieder, dann wird wieder getuschelt und geredet."
    Kinderärzte diagnostizieren ADHS
    Natürlich geht Michaela Rübenstahl mit ihrem Sohn zum Kinderarzt. Der untersucht den Jungen und stellt schließlich fest: Der Junge leidet an einer "Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörung", kurz ADHS. Wochen später bestätigen weitere Ärzte die Diagnose.
    "Wenn man zu den Ärzten geht, dann glaubt man denen ja, wenn die sagen, na ja, das ist irgendeine Form von ADHS und die brauchen viel Bewegung, da haben wir gesagt, okay, dann gehen sie alle in einen Sportverein, wo sie sich austoben können, aber das alles nichts gebracht."
    Was Familie Rübenstahl aber auch macht, das Zucken verschwindet nicht. Zweifel kommen auf. Passen die Symptome überhaupt zur ADHS?
    "Wenn man ehrlich ist, nicht in dieser Ausprägung. Ich habe Niklas erst gesehen als er 19 war und habe ihn vorher als kleineren Jugendlichen oder jüngeren Jugendlichen, als kleines Kind nicht kennengelernt. Als ich ihn gesehen habe, waren das keine Symptome, die für eine ADHS sprechen."
    Prof. Stephan Klebe, leitender Oberarzt der Klinik für Neurologie am Uniklinikum Essen. Die Zuckungen traktieren den Jungen mittlerweile so stark, dass Ärzte zu einer medikamentösen Therapie raten. Mit fatalen Folgen.
    "Bei den Medikamenten war es immer so, man hat die genommen und wirklich eine halbe Stunde später hatte man auf nichts mehr Lust, man wurde einfach müde, man hat so an was gedacht, ich könnte jetzt noch Fußball spielen, aber man hatte einfach keine Lust, es war wie eine Blockade und man hat auf nichts Lust."
    Nur Spezialisten kennen die Krankheit
    Niklas wird apathisch, sein Zimmer verlässt der mittlerweile 16-Jährige nur noch selten. Scham und Angst beherrschen ihn. Nur manchmal geht er mit guten Freunden aus, dann lacht er, tanzt, trinkt ein paar Bier - und stellt verblüfft fest: Die Zuckungen verschwinden!
    "Als Eltern hat man dann irgendwann Angst, ja, die trinken Alkohol, dann ist es weg, und auf einmal wollen die dann jeden Tag Alkohol trinken, weil sie sich dann einfach besser fühlen damit."
    Große Kliniken werden eingeschaltet, unter anderem die Medizinische Hochschule Hannover, deren Ärzte aber auch keinen Rat wissen. In ihrer Verzweiflung wenden sie sich schließlich ans Universitätsklinikum Würzburg. In der Spezialsprechstunde für Bewegungsstörungen schaut sich Dr. Stephan Klebe - heute ist er leitender Oberarzt am Uniklinikum Essen - das wilde Zucken des mittlerweile 19-Jährigen an, stellt ein paar Fragen, bis Niklas eher am Rande erzählt, dass Alkohol die Symptome verschwinden lässt. Klebe stutzt.
    "Dann meinte der, ja, dann geh doch mal hoch zum Kiosk und trink ein Bier für mich. Dann bin ich hochgegangen mit meinen Eltern zum Kiosk und dann habe ich ein Bier getrunken. Dann kam ich wieder runter, und auf einmal waren die Ticks weg."
    Der Durchbruch: Stephan Klebe stellt binnen weniger Minuten die korrekte Diagnose.
    Hilfe bringt die Tiefe Hirnstimulation
    "Das ist eine sogenannte Myoklonus Dystonie. Das beinhaltet auch schon die hauptsächlichen Symptome, nämlich kurze Muskelzuckungen, das sind diese Myoklonien, die oftmals mit Tickstörungen verwechselt werden, und dann eine Dystonie, also eine vom Zentralen Nervensystem gesteuerte Fehlhaltung einzelner Muskelgruppen, bis hin zur Fehlsteuerung der Gesamtmuskulatur."
    Myoklonus Dystonie zählt zu den seltenen Krankheiten, die nur Spezialisten kennen. Eine Besonderheit gibt es aber: Sie ist alkoholsensitiv - ein Bier und das Zucken verschwindet! Ursache der Dystonie ist ein Gendefekt, den Eltern ihren Kindern vererben. Übrigens auch auf Niklas Zwillingsbruder Lukas, bei dem die Symptome aber wesentlich milder verlaufen ist. Als Therapie kam für die Würzburger Neurologen nur die Tiefe Hirnstimulation infrage.
    "…bei der kleine Elektroden in bestimmte Hirnareale hineinoperiert werden, die dann mit einer Batterie, mit einem Generator verbunden werden, und wo ein bestimmtes Hirnareal durch elektrische Impulse mit relativ schwachem Strom ausgeschaltet werden, wovon man weiß, dass diese Therapie gerade bei dieser Form der genetischen Dystonie sehr gut wirkt."
    Tatsächlich verschwinden die unkontrollierten Bewegungen nach der Operation schlagartig. Endlich ist Niklas ein normaler in sich ruhender junger Mann. Er geht abends aus, ohne dass ihn jemand schief anschaut, er treibt Sport, außerdem hat er vor einem Jahr eine Ausbildung zum Einzelhandelskaufmann begonnen. Die Zukunft lässt der heute 22-Jährige auf sich zukommen.
    "Bis jetzt bin ich noch ganz zufrieden wo ich da bin, ich werde erst mal die Ausbildung zu Ende machen und dann mal gucken, vielleicht verschlägt es einen woanders hin, aber erst mal in Hersfeld bleiben."