Freitag, 19. April 2024

Archiv


"Alle Informationen auf den Tisch"

Der SPD-Politiker Niels Annen übt Kritik an der Informationspolitik von Verteidigungsminister Jung. Er habe zunächst den Eindruck erweckt, dass es keine zivile Opfer bei dem Raketenbeschuss der NATO in Afghanistan gegeben habe.

Niels Annen im Gespräch mit Gerd Breker | 08.09.2009
    Gerd Breker: Die Überlegung scheint folgerichtig. Wenn schon ein ungeliebtes Thema sich in den Wahlkampf drängt, dann lieber offensiv damit umgehen. Der Bundeswehreinsatz in Afghanistan ist nach der Bombardierung der beiden Tanklastwagen mit Dutzenden von Toten in die Diskussion geraten, eine Diskussion, die den Bundesverteidigungsminister Jung ob seiner Informationspolitik schlecht aussehen lässt. Die Bundeskanzlerin will ihm zur Seite springen und kürt den Afghanistaneinsatz der Bundeswehr zur Chefsache in Form einer Regierungserklärung. "Frieden ist nicht alles, aber alles ist nichts ohne Frieden. Dieses Zitat von Willy Brandt verdeutlicht für mich den Kern von Außenpolitik. Sie ist für mich untrennbar mit Friedenspolitik verbunden. Friedenssicherung und Konfliktvorbeugung müssen daher die Leitlinien deutscher und europäischer Außenpolitik sein." Dies sagt SPD-Bundestagsabgeordneter Niels Annen, Mitglied im Auswärtigen Ausschuss, den ich jetzt am Telefon begrüße. Guten Tag, Herr Annen.

    Niels Annen: Schönen guten Tag!

    Breker: Nach diesem Luftangriff, was macht die Bundeswehr da in Afghanistan, Friedenssicherung, Konfliktvorbeugung?

    Annen: Konfliktvorbeugung macht sie leider nicht, weil wir dafür als internationale Gemeinschaft die Entwicklung in Afghanistan über Jahrzehnte vernachlässigt haben, aber sie sorgt dafür, dass das Land wieder aufgebaut werden kann. Sechs Millionen Menschen gehen zur Schule, die Taliban-Herrschaft ist beendet, wir haben das zweite Mal überhaupt in der Geschichte Afghanistans einigermaßen demokratische Wahlen ablaufen sehen und die Bundeswehr schützt auch diejenigen, die als zivile Helfer, die als Mitarbeiter von Bundesministerien, von Nicht-Regierungsorganisationen Wiederaufbauprojekte organisieren, und deswegen steht das im Einklang mit der Politik von Willy Brandt.

    Breker: Wenn das stimmt, Herr Annen, dass ein unschuldiger Toter in Afghanistan mehrere neue Taliban-Terroristen rekrutiert, dann war der Luftangriff doch das Gegenteil von Friedenssicherung, denn inzwischen weiß man, die NATO hat es zugegeben, auch zivile Opfer sind unter den Toten.

    Annen: Herr Breker, ich will da nichts beschönigen. Das, was dort passiert ist, ist für die Akzeptanz der Bundeswehr sicherlich eine ganz, ganz große Katastrophe. Ich möchte niemanden vorverurteilen, wir müssen die Untersuchung abwarten, aber Sie haben es angesprochen: Die NATO hat auch zivile Todesopfer bestätigt und deswegen geht es jetzt darum, dass wir mit der afghanischen Regierung gemeinsam mit den betroffenen Familien in ein Gespräch eintreten, in einen Prozess eintreten. Die Bundeswehr hat das auch in den vergangenen Jahren bei bedauerlichen Vorfällen so gemacht, man hat sich mit den Familienangehörigen in Verbindung gesetzt, man hat, auch wenn man ein Leben natürlich nicht ersetzen kann, über finanzielle Kompensation gesprochen. Das ist gerade in der afghanischen Geschichte und Gesellschaft sehr, sehr wichtig und wir müssen in Zukunft alles politisch Mögliche tun, um diese Form von zivilen Opfern in Zukunft zu vermeiden, weil sie eben die Legitimation unserer Aufgabe in Frage stellen. Deswegen ist es ja auch eine so ernste Angelegenheit.

    Breker: Herr Annen, nun haben gerade die US-Amerikaner ihre Strategie in Richtung dessen, was die Bundeswehr in Afghanistan immer tun wollte, geändert. Der Schutz der Zivilbevölkerung soll im Mittelpunkt stehen, und dann dieses Ereignis. Ist das nur ein unglücklicher Zufall oder was hat sich da abgespielt?

    Annen: Wir wissen nicht genau, was sich dort abgespielt hat. Herr Breker, ich bin selber in Kundus gewesen an einem Tag, an dem auch das Lager beschossen worden ist. Ich habe mit den Soldaten gesprochen, auch etwas mitgenommen von der Atmosphäre, die dort herrscht. Deswegen glaube ich ist es gut, wenn der Deutsche Bundestag sich nicht an Vorverurteilungen beteiligt. Wir haben diese jungen Männer dort hingeschickt und deswegen können sie von uns auch eine Form der Unterstützung und Solidarität erwarten. Aber was mit Sicherheit nicht geholfen hat, ist die Informationspolitik des Verteidigungsministers, der zunächst den Eindruck erweckt hat, dass es dort keinerlei zivile Opfer gegeben hat. Ich glaube, wir brauchen Transparenz in Afghanistan. Wenn ein Fehler passiert sein sollte, müssen alle Informationen auf den Tisch. Wir brauchen aber auch Transparenz hier zu Hause. Die Debatte, die Regierungserklärung der Bundeskanzlerin, die Rede des Außenministers, aber auch von vielen anderen Kollegen im Deutschen Bundestag hat das ja heute gezeigt, ist eine Diskussion, die mit großer Ernsthaftigkeit geführt wird, vor dem Hintergrund einer mehrheitlichen Ablehnung in der Bevölkerung. Damit müssen wir uns auseinandersetzen. Es gibt keine einfachen Lösungen in Afghanistan und deswegen glaube ich, dass es wichtig ist, dass hier alle Informationen auf den Tisch kommen.

    Breker: Herr Annen, Sie haben die Skepsis der Deutschen gegenüber diesem Einsatz der Bundeswehr in Afghanistan angesprochen. Brauchen wir für die Wähler im Lande so etwas wie ein Ausstiegsszenario, einen Zeitpunkt, an dem gesagt wird, dieser ungeliebte Einsatz ist dann beendet?

    Annen: Ich glaube, wir müssen den Menschen deutlich machen, dass es keine unendliche Geschichte Afghanistan geben wird. Wir haben ein Ausstiegsszenario, glaube ich, alle im Kopf, was damit endet, dass die afghanische Regierung in die Lage versetzt werden muss, selber für Sicherheit zu sorgen. Die Polizei muss aufgebaut werden; da haben wir auch als Bundesrepublik zu wenig getan. Aber wir haben im Aufbau der Armee auch große Fortschritte gemacht und deswegen, glaube ich, ist der Weg von Frank-Walter Steinmeier auch der richtige, der ja sagt, im Jahre 2010 wird der "Afghan Compact" – das ist so etwas wie die Übereinkunft der internationalen Gemeinschaft mit Afghanistan, wo Ziele beschrieben werden – neu verhandelt. Der läuft in der Regel fünf Jahre, wir müssen die Ziele anpassen, wir müssen uns sehr konkret auch einen Zeitplan vornehmen, in dem wir diese Projekte beenden wollen. Deswegen, glaube ich, brauchen wir diese Verhandlungen, brauchen wir diese Ausstiegsperspektive. Wie viele Jahre das jetzt sein werden, das, glaube ich, kann man vor einer solchen Verhandlung nicht seriös voraussagen, aber das Ziel ist eindeutig, die afghanische Regierung in die Lage zu versetzen, Stück für Stück die Verantwortung zu übernehmen, um es uns zu ermöglichen, die Truppen zurückzuziehen.

    Breker: Herr Annen, wir haben gerade den 8. September. Unter dem Eindruck des Anschlags vom 11. September 2001 ist der Krieg in Afghanistan ja begonnen worden mit dem Ziel, die Taliban zu vertreiben und Osama Bin Laden zu fassen. Muss man nicht nüchtern feststellen nach fast acht Jahren: Beide Ziele wurden verfehlt?

    Annen: Das Ziel, Osama Bin Laden zu fassen, wurde verfehlt, aber das Ziel, nach dem 11. September dafür zu sorgen, dass es eben keine Ausbildungslager von El Kaida mehr in Afghanistan gibt, dass Menschen, die in Europa, in den Vereinigten Staaten, auch hier bei uns in Deutschland jüngst mit der Sauerlandgruppe versucht haben, terroristische Attentate vorzubereiten, dass diese Menschen eben nicht mehr in Afghanistan in Terror-Camps ausgebildet werden, das ist uns gelungen. Deswegen denke ich, so schwierig dieser Auftrag ist, so skeptisch die Menschen auch sind in Deutschland, man muss immer wieder daran erinnern: Es gibt einen Zusammenhang zwischen dem 11. September, auch Terrorbedrohung in Deutschland und dem, was wir in Afghanistan machen. Dass wir nicht alles richtig gemacht haben, dass es mangelnde Abstimmung gibt, dass wir auch Fehler gemacht haben, dass wir eine Regierung in Afghanistan haben, die zum Teil von Korruption zersetzt ist, dass wir eine Problematik mit dem Drogenanbau haben, das will ich alles nicht leugnen, aber man darf diesen ursprünglichen Impuls nicht vergessen. Und deswegen: Heute wird kein Terrorist in Afghanistan von El Kaida ausgebildet und das ist auch ein Ergebnis der wichtigen Arbeit, die unsere Soldatinnen und Soldaten leisten.

    Breker: Nur, Herr Annen, war es nicht eine Illusion zu glauben, man geht in ein Kriegsgebiet, ohne sich die Hände schmutzig zu machen?

    Annen: Ich weiß nicht, wie es Ihnen geht. Ich habe mir keinerlei Illusionen gemacht und wenn man sich einmal daran erinnert: Der damalige Bundeskanzler Gerhard Schröder hat ja im Parlament die Vertrauensfrage gestellt. Also es ist ja nicht so, dass es keine Skepsis gegeben hat. Es war eine schwierige Entscheidung, von der ich glaube, dass sie richtig gewesen ist, aber wir müssen uns jetzt auch darüber Gedanken machen, wie wir die Afghanen in kürzerer Zeit, als man das vielleicht noch vor einigen Monaten oder Jahren gedacht hatte, in die Lage versetzen können, für ihre eigene Sicherheit zu sorgen, denn eines ist doch klar: Wenn wir die politischen Voraussetzungen nicht schaffen, auch zu einer Übereinkunft zwischen den oppositionellen Kräften in Afghanistan mit der jetzigen Regierung zu gelangen, dann werden wir mit militärischen Mitteln alleine unsere Ziele nicht erreichen. Das bedeutet, auch der Ruf nach mehr Truppen, nach mehr Militär, nach stärkerem Waffeneinsatz wird sich ohne eine politische Lösung als ein Trugschluss erweisen. Deswegen, glaube ich, ist der deutsche Ansatz der vernetzten Sicherheit, mit den Menschen zu reden, den Wiederaufbau in den Mittelpunkt zu stellen, aber eben auch durch militärische Absicherung, der richtige. Man findet viel von der Erfahrung der deutschen Soldatinnen und Soldaten aus diesem vernetzten Ansatz in der neuen amerikanischen Strategie und ich glaube, dass es deswegen auch so wichtig ist, diese Chance mit der Obama-Regierung jetzt auch zu nutzen.

    Breker: Im Deutschlandfunk war das Niels Annen, für die SPD Mitglied im Auswärtigen Ausschuss. Herr Annen, danke für dieses Gespräch.