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Alleinsein im Alter

In dem Buch der Feministin Helke Sander finden sich Erzählungen, die ein Tabu brechen: Alter und Sex. Sie bietet in ihren Geschichten keine Lösungen, bricht aber den Bann, in dem sie verschiedene Formen des Alleinseins im Alter darstellt.

Von Sabine Peters | 22.09.2011
    Es gehört zu den heiklen Aufgaben von Autoren und Verlagen, Buchtitel zu finden. Wie schafft man es mit drei, vier Worten, Interesse und Begehrlichkeit zu wecken? Und welche spontanen Reaktionen löst ein Buch mit der provozierenden Überschrift "Der letzte Geschlechtsverkehr und andere Geschichten über das Altern" vermutlich aus? Die feministische Filmemacherin Helke Sander, Jahrgang 1937, hat jetzt Erzählungen veröffentlicht, in denen es um ein Tabu geht: In Zeiten von Viagra und immer neuen Sex-Skandalen um das Treiben alternder Politiker gilt es als Stigma, im Alter keinen Partner fürs Bett zu haben. Ab wann ist man eigentlich "betagt", in "vorgerückten" oder vorerst nur in "gesetztem" Alter?

    Die Bibliothekarin Beate in einer der Erzählungen von Helke Sander ist Mitte 40, eine ganz normale Person wie Millionen andere – und wenn solche Menschen ihren Partner oder die Partnerin verlieren, taucht eben nicht automatisch der oder die Neue am Horizont auf. Genauer: Es sind deutlich mehr Männer, die sich wieder verbinden, und zwar meist mit erheblich jüngeren Frauen. Beate liest Bekanntschafts-Annoncen inzwischen mit sehr gemischten Gefühlen: Sie spöttelt zwar immer noch über die armselig-übertriebenen Selbstdarstellungen, aber gleichzeitig fragt sie sich, ob es nicht pragmatisch und realistisch wäre, auf diese Weise selbst nach einem Partner zu suchen. "Programmierer sucht Frau zum Lachen und Weinen" liest sie und fragt sich: Hat die Frauenbewegung nur erreicht, dass Männer mittlerweile Tränen vergießen dürfen? Wird auch in schwulen Kontaktanzeigen mit der Fähigkeit zu weinen geworben? Würde sie selbst einen heulenden Mann bei sich haben wollen? Dann wieder wundert sie sich bei der Lektüre der Kontaktanzeigen: Wenn ein Mann eine Frau sucht, wünscht er sich nie "Intellekt" bei einem Weibsbild – umgekehrt kommt das häufig vor und lässt auf betrübliche Erfahrungen mit geistlosen Männern schließen.

    Helke Sander erzählt von einer anderen, 60-jährigen Frau mit dem Namenskürzel A. Die versucht sich über ihr unfreiwilliges Zölibat mit dem Gedanken zu trösten, dass sie doch keinen Partner als eine Art Statussymbol braucht, dass sie das Mitleid "der" Gesellschaft nicht will. Auch allein fühlt sie sich vollständig – warum sollte sie sich freiwillig in ein Rollenmodell zurückbegeben, bei dem es selten um eine gleichberechtigte Beziehung auf Augenhöhe geht?

    In der Erzählung "goldene Hochzeit" wird ein Paar beschrieben, das längst getrennte Wege geht. Jeder hat sein eigenes Zimmer, sexuell spielt sich nichts ab; die Sprechzeiten sind mehr oder weniger auf das Frühstück beschränkt. Selbst Zärtlichkeiten sind den beiden peinlich. Die Frau vermisst Spielereien und Witze, der Mann ist pünktlich und pflichtbewusst, sonst nicht viel mehr. Es hat den Charakter einer Liebeserklärung, als sie sich aufrafft und ihm sinngemäß sagt: Immerhin haben wir nie versucht, uns gegenseitig zu ermorden, und ich würde dich auch pflegen, wenn du krank bist. Ein kleines Glück – oder ein großes?

    Zwei Professoren kurz vor der Pensionierung reden sicherheitshalber weniger über ihre persönliche Situation, sondern generalisieren lieber: Alt ist, wer die sexuellen Codes der Zeit nicht mehr versteht, stellt der eine fest. Aufgespritzte Lippen und Silikonbusen sagen ihm einfach nichts. Der andere gibt zu, dass er bei halbnackten Mädchen kaum an Sex, sondern an Erkältungen denkt. Auch diese beiden Männer sind geprägt von der Emanzipationsbewegung der 68er. Unter "sexuellem Aufbrauch" haben sie sich etwas anderes vorgestellt als das, was sie bei den Teenies sehen: Auf deren Handys finden sich die fiesesten Pornos, sagt der eine, sogar bei den Mädchen, und die lachen darüber – es ist zum Heulen, schließt er ab.

    In einer anderen Geschichte tastet sich eine Frau teils ansprechend widerborstig, teils gelassen und dann wieder rätselnd an die Einsicht heran, wie sehr sie selbst sich verändert hat. Der Beischlaf gehört schon längst nicht mehr in ihr Leben; sie interessiert sich für vieles andere, unter anderem dafür, was von ihr bleibt - bevor sie, so heißt es sinngemäß, auf dem Friedhof zum Futter für andere Lebewesen wird.

    Man kann an Helke Sanders Erzählungen die Form kritisieren: Das Verhältnis zwischen Handlung und Reflexion ist gelinde gesagt unausgewogen. Streng genommen sind die Figuren bloße Gedankenträger, reflektierende Fallbeispiele auf zwei Beinen. Aber das spricht überhaupt nicht gegen das Buch. Denn die Texte haben einen unprätentiösen, selbstironischen Tonfall, sie sind undogmatisch, ehrlich, warmherzig und witzig.

    Das Thema "Alleinsein im Alter" gewinnt durch die höhere Lebenserwartung und durch die gesamte demographische Entwicklung eine zunehmende Brisanz, aber die Protagonistinnen der Erzählungen werden trotz teilweise herber Alltagserfahrungen nicht bitter, selbstmitleidig oder zynisch. Sie geben sich allerdings auch keinen Illusionen hin. Die Befreiung aus den Fesseln einer konventionellen bürgerlichen Ehe, die vor allem durch die Frauenbewegung der 68er vorangetrieben wurde, hat noch keine neuen verbindlichen Formen für die Phase des Alterns geschaffen; es gibt auch noch nicht unbedingt Vorbilder für die "jungen Alten", von denen hier gesprochen wird. Der Vergleich mit früheren Generationen oder mit anderen Kulturen zeigt allenfalls, wohin gerade die Frauen nicht zurück wollen – und dann heißt es einmal leicht melancholisch: Als alleinstehender Mensch lerne man etwas über die existentielle Einsamkeit des Menschen – und zwar ohne Gott, klösterliche Gemeinschaft und andere Hilfskonstruktionen zur Erleichterung eben dieser Einsamkeit.

    Der Wert von Helke Sanders Buch liegt in der Fähigkeit der Autorin, dialektisch zu denken, jedes Fallbeispiel und jedes Argument infrage zu stellen und ihr Thema damit immer weiter aufzufächern. Und bei aller Desillusionierung wirken die Texte weder resigniert noch larmoyant. Die Frauensleute, die sich in Helke Sanders Geschichten oft unter dröhnendem Gelächter austauschen, sehen sich nicht nur als einsame, isolierte, individuelle Opfer eines undurchschaubaren Schicksals. Sie analysieren nach besten Kräften die veränderten Strukturen zwischen den Geschlechtern und in der Gesellschaft überhaupt. Sie sind in der Lage, Ambivalenzen auszuhalten. Und sie sind im Brechtschen Sinne unwürdige Greisinnen oder im Begriff, es zu werden.

    Helke Sander bietet keine tröstenden "Lösungen" an. Aber allein die Phänomenologie verschiedener Formen des Alleinseins im Alter, selbst das Alleinsein in einer Ehe - allein die Tatsache, dass hier ausgesprochen wird, was viele betrifft, nimmt etwas von dem Bann, mit dem das Thema behaftet ist.

    Helke Sander: "Der letzte Geschlechtsverkehr und andere Geschichten über das Altern". Kunstmann-Verlag, 160 Seiten, 16,90 Euro