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Alles ist käuflich

Liebe, Arbeit, Hingabe, Leidenschaft - alles hat Marktwert, alles ist käuflich. In einer solchen Welt ließ Frédéric Beigbeders vor zehn Jahren seinen Roman "39,90" spielen. Jetzt hat Jan Kounen das konsumkritische Werk verfilmt - als Bildekstase pur. Mit seinen ästhetischen Mitteln kommt im Film die dramatische Verführungskraft der Werbeindustrie ungleich suggestiver zum Ausdruck als in der Romanvorlage.

Von Christoph Schmitz | 02.08.2008
    Am Anfang waberndes Dunkel, nichts Organisches, sondern immaterielles Schwarz, virtuell generiert, eine Materie, die sich allmählich in kristalline Spektralfarben löst, Farbpunkte hervorbringt, die sich verfestigen, erstarren, und es ist, als tauche die Kamera aus dieser Dunkel- und Pixelwelt hervor, als löse sie sich aus einer subatomaren Struktur, die sich jetzt mit zunehmender Distanz als gedruckte Punkte zu erkennen gibt, die sich zu neuen Farben mischen, die Haut zeigen und Stoff und am Ende ein umschlungenes, halbnacktes Paar am Südseestrand auf einer Plakatwerbung der Ölindustrie. "Willkommen in der besten aller Welten" steht darauf.

    Ein nächtlicher Platzregen geht vor dieser Plakatwand in einer Großstadt nieder. So beginnt Jan Kounens Verfilmung von Frédéric Beigbeders Roman "39,90". Nach diesem Anfang misstraut man allen folgenden Bildern des Films, auch den Bildern der vermeintlichen Realität, auch dem Regen, selbst wenn er sehr echt aussieht, denn die Bilder sind alle gemacht, auch die bewegten, aus digitalem Material erschaffen, wandelbar in jede andere beliebige Form. Der Herr dieses magischen, unheimlichen Reichs ist Octave Parango. Seine Stimme klingt aus dem Off:

    "Ich denke mir die unerfüllbaren Träume für Sie aus,"

    sagt Octave.

    "Sie meinen, ich verschönere die Welt für Sie, aber ich versaue sie. Alles ist käuflich: die Liebe, die Kunst, der Planet Erde, Sie, ich."

    Der Zynismus und die Lebensverachtung haben den jungen Superstar unter den Werbetextern aus Paris eingeholt. Im strömendem Regen steht er auf dem Dach seiner Agentur und stürzt sich in die Tiefe, und in den letzten Sekunden seines Lebens, gebiert sein Gehirn mehr oder weniger chronologisch die markanten Stationen seiner Karriere als Traumverkäufer und Wunschverführer.

    Regisseur Jan Kounen erzählt das in der Ästhetik des Werbespots und spielt virtuos die ganze Klaviatur der internationalen Werbeclipsprache, offenbart ihre nüchtern kalkulierten flapsigen, romantischen, witzigen, schrillen und ins Absurde tendierenden Strategien. Kounens Hauptfigur Octave Parango führt uns durch seinen von Luxus, Hektik, massivem Arbeitsdruck, Arroganz, Kokain und Pornografie aufgeheizten Werbealltag und zeigt, wie eine weltumspannende Milliardenindustrie versucht, das Bewusstsein der Weltbevölkerung zu manipulieren.

    "Ich krieche in ihre rechte Hirnhälfte. Ihr Begehren ist nicht mehr ihres. Ich zwinge Ihnen meines auf."

    Grinsend fährt Octave im Cabriolet durch die reklameerleuchtete Stadt. Kokainexzesse, gescheiterte Liebe - Octave wird aus der Bahn geschleudert, reanimiert, kommt zur Klarheit, beschließt das System von innen aufzubrechen, um es zu zerstören, wird aber scheitern und sucht gegen Ende des Films den Tod. Aber selbst in den Tod scheint er nicht mehr flüchten zu können.

    Aus der Werbewelt gibt es kein Entrinnen. Ihre totalitäre Magie ist mächtiger. Sie überführt Octaves existenziellen Zusammenbruch in eine kitschige Erlösungsgeschichte: Als Aussteiger strandet er auf einer Insel, findet seine Freundin wieder, und ihre Umarmung ist die jenes Paares auf der Plakatwand zu Beginn.
    Jan Kounens Film ist Bildekstase pur, in Schnitt, Musik und Bildschichtungen ungeheuer rhythmisch. Die dramatische Verführungskraft der Werbeindustrie vermittelt er mit seinen ästhetischen Mitteln ungleich suggestiver als die Romanvorlage, die letztlich ein Kokettieren mit netten Schlagworten an der Oberfläche bleibt. Kounen liefert den Schrecken, wie bei Octaves tödlicher Amokautofahrt, die Frauen und Kinder zerfetzt, zu Comicbildern und Walzerklang.