Lückert: Aber wo liegt denn eigentlich das Interesse? Ihre Arbeit wird Ihnen unmöglich gemacht – das ist auch ein Gegenstand des offenen Briefes, den Sie geschrieben haben – aber worin genau besteht denn jetzt das Kesseltreiben?
Schlingensief: Ich denke mal, es gibt noch einige offene Rechnungen von einem Projekt, das ist vor dreieinhalb Jahren gewesen – "Hamlet". Da hatte ich deutsche Neo-Nazis mit auf die Bühne genommen. Die Neo-Nazis auf der Bühne wurden plötzlich auch mal in ihren Rollen gesehen. In der Rolle der Gesellschaft, die diese Leute vielleicht auch teilweise braucht, damit sie sich in Sicherheit wiegt, was ich super-gefährlich finde, weil man dann immer weiß, wo der Feind sitzt. Die Neo-Nazis auch, weil sie gesehen haben, dass sie ja auch eine Rolle spielen müssen und auch gerne spielen mit ihren Bomberjacken und was nicht alles sonst noch. Dieses Projekt hat eben in Zürich zu großem Aufruhr geführt – nicht nur in Zürich, sondern auch in Deutschland – aber in Zürich deshalb, weil ich dem Blocher und der SVP unterstellt habe, dass er mit dem Eishockeyverein SVP eben auch solche Kreise mit fördert, also im Schweizergelände. Das ist auch nachweisbar gewesen und ging durch alle Medien. Gerade in die SVP und in die FDP, wie sie da unten auch noch heißt. Ich denke, das geht alles von diesen Leuten aus, die jetzt einen Skandal wollen, wo mein Stück letzten Endes keinen gebracht hat. Mein Stück sollte auch keinen Skandal machen.
Lückert: Aber werden Sie eigentlich immer an der Intensität des mit Ihnen verknüpften Skandals gemessen, nach dem Motto "Guter Skandal, guter Schlingensief – schlechter Skandal, schlechter Schlingensief"?
Schlingensief: Ja, da platzt mir auch der Kragen. Das ist so ein Punkt. Ich habe jetzt drei Stücke gemacht: "Atta, atta" läuft jetzt am Donnerstag wieder auf der Volksbühne in Berlin. Oder jetzt gerade spiele ich in Wien bei "Bambiland", das ist der zweite Teil, und eben "Atta-Bambi-Pornoland", das ist der dritte Teil in Zürich gewesen. Drei Stücke, die sich tatsächlich mit der Rolle des Künstlers in der Gesellschaft, mit seiner Unfähigkeit, letzten Endes gesellschaftliche Prozesse zu behaupten, wie auch das Elternhaus, beschäftigen. Alle Themen sind da drin. Das hat überhaupt nicht so ein Thema gehabt: Jetzt kanalisier ich was, jetzt mach ich euch mal richtig fertig. Ich habe Aktionen gemacht – was ich auch zugebe – wie "Tötet Helmut Kohl", oder "Hunderttausend Mark vom Rechstag abwerfen". Das sind schon Dinge, die sicher Provokationspotenzial und Skandalpotenzial haben, aber diese Arbeiten im Theater haben damit überhaupt nichts zu tun. Mir geht das so auf den Wecker, wenn man sich in Deutschland mal ein bisschen mehr in die Öffentlichkeit begibt, oder ein bisschen öfter vielleicht mal den Mund aufmacht, das man gleich nur ein Provokateur ist, weil man ja sowieso nichts zu bieten hat. Man hat ja keine Partei, keine richtige Ausbildung, und ich weiß nicht, was sonst noch als Argument zählt. Dass man aus einer Verletzung heraus, aus dem Herzen, aus einer sehr stark mit der Gesellschaft, mit den Mitgliedern verbundenen Empfindung heraus handelt, ist den Leuten, die da dick und fett in einigen Zeitungen herumsitzen, ist das ganz leicht zu sagen: "Ach, eine Provokation." Ich habe eben keine Provokation, keinen Skandal vorgehabt, geplant. Das ist etwas, was mich im Moment überhaupt nicht interessiert. Seit einem Jahr arbeite ich an anderen Dingen. Wenn ich demnächst den "Parcival" mache, dann weiß ich jetzt schon, dass alles wieder dahin läuft: "Ja, da konnte er nicht provozieren. Die Wagnerianer finden das zwar nicht so gut, aber so richtig provozieren konnte er nicht.
Lückert: Gut, aber Sie haben ein bisschen ja auch mit den Medien gespielt und sie auch ein bisschen benutzt und werden zum Teil die Geister einfach nicht mehr los.
Schlingensief: Na ja, wenn jetzt zum Beispiel der Herr Stadelmaier in der FAZ sagt, man solle mir das Honorar streichen und man soll mich auf die Straße werfen, dann finde ich das sehr lustig. Da kann man drüber lachen, weil Herr Stadelmaier mit der FAZ auch ein gewisses Element vertritt. Wenn jetzt aber die "Bäckerblume" anfängt, dann lese ich es auch nicht gerne, aber es ist mir doch verhältnismäßig egal. Im großen und ganzen, die Geister, die ich rief. Ich arbeite nun mal in einem Gewerbe, wo man Bilder malt, um sie doch nicht nur im Schrank zu verstecken, sondern wenn man einen Film dreht, zeigt man ihn auf der Leinwand und hofft, dass ihn nachher sehr, sehr viele Leute sehen. Wenn man ein Theaterstück macht, da hofft man, wie jetzt in Wien, dass es ausverkauft ist. Ich habe gar nicht mal mit den Medien so gespielt, die Medien waren meist die Transporteure, die das sehr gerne aufgenommen haben. Also noch einmal: Als ich gesagt habe "Tötet Helmut Kohl" in einer Theaterveranstaltung hinter verschlossenen Türen, mit Publikum, das bezahlt hat, haben das über 128 Zeitungen immer wieder geschrieben. Da war auch die große Lust eines Redakteurs selber zu schreiben und nicht immer nur zu hören.
Lückert: Nun sind Sie also ärztlich beurlaubt, aber das kann für einen Theatermenschen auch nicht das Wahre sein, wenn die Vorstellungen ausfallen, weil die Möglichkeit des Ausdrucks wegfällt.
Schlingensief: Das ist völlig richtig. Ich bin aber in Zürich an den Punkt geraten, dass ich wirklich mit einem Arzt gesprochen habe und mich wirklich zurückziehen muss. Es ärgert mich schwarz. Dieses Haus, was eigentlich sensationell ist – es ist dreimal Theater des Jahres geworden. Der Christoph Marthaler ist ein wirklicher Freund von mir. Ein großartiger Theatermann, der jetzt aber nur noch vier Monate da ist. Es gab große Querelen schon vor einem Jahr, vor anderthalb Jahren " Marthaler muss weg". Die Züricher, die immer so groß in den Zeitungen vorkommen, sind eigentlich nur eine Anhäufung von Dorfeinwohnern, denen aber leider das Konto zu voll gemacht wurde. Da ist nicht wirklich irgendwelche Verantwortung dahinter. Der Schweizer ist – das sage ich wirklich ganz überzeugt – ein Machtmensch. Wenn er merkt, dass die Macht irgendwo weggeht, hängt er sich irgendwo dran. Das ärgert mich so wahnsinnig schwarz an diesem Zürich, was auch mit Asylbewerbern, mit Ausländern wie der letzte Dreck teilweise umgeht. Das Thema ist, dass eine super Arbeit von einem super Team jetzt noch vier Monate praktisch Programm macht, aber es wird schon von den Nachfolgern torpediert. Es ist so, dass schon Abteilungen im Haus, die ja den Marthaler nicht besonders mochten, nicht alle mochten ihn, schon mal auf halblang machten. In Zürich ist wirklich Grabenkrieg und Karrieresucht ausgebrochen, und das ist das Ärgerliche.