Dienstag, 16. April 2024

Archiv


Alles Zucker

Zuckerwatte, Schaumküsse oder Marzipantorte - es gibt viele Möglichkeiten, der süßen Versuchung nachzugeben. Doch warum mögen die meisten Süßes so gerne - und wie nehmen wir diesen Geschmack wahr?

Von Sabine Wuttke | 27.11.2008
    "Wenn's das nicht gäbe, oh Gott, es müsste erfunden werden.

    Süßem gegenüber kann ich nicht widerstehen, bin ich willenlos, süchtig und ergeben. Ich kann auf vieles verzichten, aber bei Süßem werde ich absolut schwach.

    Ich kann's eine ganze Weile aushalten, so ein, zwei Stunden, aber dann muss ich mir irgendwas antun, irgendwas Kleines, von mir aus im Zweifel ein Stück Zucker."

    Eindeutiger als in dieser Umfrage kann ein Ergebnis nicht sein, auf Süßes will der Mensch also nicht verzichten. Eine individuelle Vorliebe - oder steckt mehr dahinter? Ich fragte im Deutschen Institut für Ernährungsforschung in Potsdam-Rehbrücke bei Wolfgang Meyerhof nach. Er ist einer der führenden Geschmacksforscher in Europa:

    "Der Süßgeschmack hat sich während der Evolution heraus gebildet. Er ist Bestandteil eines physiologischen Systems, das es uns erlaubt, Kalorien wahr zu nehmen. Der Verzehr dieser Kalorien hält uns am Leben. Und um eine Belohnung dafür zu haben, dass wir Arbeit aufbringen müssen, um Nahrungsquellen zu erschließen, ist der Süßgeschmack die treibende Kraft, die uns diese Arbeit aufnehmen lässt. Damit ist die Wahrnehmung für Süßes eben gleich zu setzen mit Bekömmlichkeit, Wohlbefinden. Und das finden wir schließlich auch in unserer Sprache manifestiert, weil der Begriff süß sich ja nicht nur auf das bezieht, was wir essen, sondern auf viele andere Dinge auch, die wir mit Attributen der Sympathie ausstatten."

    Ein nahe liegendes Beispiel sind zum Beispiel Babys, die wir "süß" finden. "Ist der süß" war das wohl am häufigsten gebrauchte Wort, mit dem der Berliner Eisbär Knut beschrieben wurde, als er noch klein war. Dieser Wortwahl liegen also Erfahrungen zugrunde, die der Mensch im Laufe seiner Entwicklung machte, die ihm das Überleben in einer feindlichen Umwelt sicherten. Das Schmecken spielte darin eine wichtige Rolle:

    "Der Geschmackssinn prüft ja die Bekömmlichkeit der Speisen. Er ist die letzte Instanz, ob wir etwas runter schlucken oder ausspucken und damit der Wächter, der uns vor Vergiftungen schützt. In diesem Sinne hat jede unserer Grundgeschmacksarten ihre eigene Bewandtnis. Der Süßgeschmack diente als Detektionssystem, um Kalorien aufzuspüren. Der Salzgeschmack ist erforderlich, um unsere Körperflüssigkeiten zu regulieren, den Salzhaushalt zu regulieren.

    Auch das ist lebenswichtig. Auch daher gilt Salz als bekömmlich. Ungesalzene Speisen schmecken uns fad und weniger bekömmlich. Und die beiden anderen Geschmacksarten sauer und bitter gelten eben eher als Geschmack, die eine Warnfunktion inne haben. Viele bittere Substanzen sind eben giftig."

    Was aber passiert genau, was läuft ab, wenn wir uns ein süßes Stück Schokolade "auf der Zunge zergehen" lassen:

    "Zunächst mal ist wichtig festzuhalten, dass nicht nur unsere Zunge süß empfindet, sondern auch der sogenannte weiche Gaumen ist sehr süßempfindlich. Geschmackswahrnehmungen entstehen dadurch, dass Geschmacksstoffe mit bestimmten Zellen in Wechselwirkung treten. Diese Zellen heißen Rezeptorzellen. Umgangssprachlich sagt man, es sind Andockstationen. Und auf der Zunge gut sichtbar, das kann jeder bei sich selber feststellen, organisieren sich solche Rezeptorzellen in unseren Geschmackspapillen."

    Als Folge von biochemischen Reaktionskaskaden im Innern der Zelle und weiteren komplizierten Prozessen werden Botenstoffe freigesetzt. An dieser Stelle kommt das Gehirn ins Spiel. Denn die erwähnten Botenstoffe erregen.

    "Nervenfasern, die vom Gehirn in den Mund führen, und die dann dieses elektrische Signal von der Zunge in das Gehirn weiterleiten."

    Es ist am Ende die Großhirnrinde, die uns signalisiert: süß oder sauer oder bitter. Ein Prozess, der erfahrungsgemäß in Bruchteilen von Sekunden abläuft. Mindestens die Gesichtsmuskeln reagieren so schnell. Im Verlauf der Evolution haben es die Menschen aber gelernt, Süßes und Saures oder Süßes und Bittres geschickt miteinander zu kombinieren - und damit bekömmlich zu machen. Aktuelles Beispiel: die Weihnachtsgans. Martin Schmidt, im Berliner Marriot-Hotel Küchenchef schwört auf sein Rezept:

    "Bei unserer Gewürzmischung ist ein Drittel Zucker, zwei Drittel Salz. Durch die Bitterstoffe, die entstehen durch die Bräune, ist Zucker immer ein Teil, der Bitterstoffe entzieht und ein Gleichgewicht bringt."