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Alltäglichen Katastrophen und Missgeschicke

Auch in seinem neuesten Roman erweist sich Jan Koneffke wieder als ein Meister im Erinnern, Erfinden und Darstellen der kleinen alltäglichen Katastrophen und Mißgeschicke - leiser Anmutungen des Unbewußten im trivialen Alltagseinerlei. Flirrend zwischen Tragik und Komik wie in dem vor drei Jahren erschienenen Roman "Paul Schatz im Uhrenkasten", verbindet Koneffke die Nachtseiten des Lebens mit den kleinen Glücksmomenten in einem heiteren, schwerelosen Timbre. "Eine Liebe am Tiber" erinnert nicht nur an frühe Filme von Fellini – an "Die Müßiggänger" oder "La Strada" - sondern auch an die bei allem Realismus märchenhaft-versonnenen ungarischen oder tschechischen Filme der nachstalinistischen Ära. Koneffke wird immer mehr zu einem Propagandisten der Leichtigkeit des Seins."Sie sind nicht mit dem Boden verbunden, Signora. Sie schweben! Und das mit einem Willen, einer Entschiedenheit, die Sie gegen Vernunft und Warnungen taub machen. Sie werden es nicht bemerken, .... wenn Sie vor dem Abgrund stehen." Dieser Satz, den Fabrizio, der Arien schmetternde Schuster zur Mutter des Protagonisten sagt, könnte auch für Koneffkes poetologisches Verfahren gelten. Denn die Beharrlichkeit, mit der er auf dem Heiteren, Freundlichen, Idyllischen insistiert, birgt durchaus das Risiko in sich, ins Banale, Gefällige, in Talmi abzugleiten. Zumal dann, wenn er seinen Ich-Erzähler in weiten Strecken aus der Perspektive des Kindes erzählen lässt.

Von Cornelia Staudacher | 30.11.2004
    Was interessant ist an diesem kindlichen Bewußtsein und den Übergängen in das erwachsene Bewußtsein ist die Verfremdungsmöglichkeit, also dass die Realität anders wahrgenommen wird als durch ein schon reflektierendes Bewußtsein, dass sich überraschende Verbindungen ergeben können, nehmen wir z.B. den Fall in "Eine Liebe am Tiber", dass der Junge diese Diskurse verfolgt über die freie Liebe, er hört zu und bekommt das mit, es heißt, der Student Luca lehnt die Ehe ab und propagiert die freie Liebe, und er plappert es dann nach, und eröffnet sich damit, d.h. er rechnet damit, aber ohne dass er begriffen hat, worum es geht, eröffnet damit eine Liebesgeschichte mit der Nachbarstochter.

    Als sich die Familie Wieland im Herbst 1968 nach Rom begibt, ist Sebastian noch keine elf Jahre alt, seine kleine Schwester Lisa sogar noch jünger. Der Vater, Ludwig, hat endlich eine Anstellung als Lehrer in der deutschen Schule gefunden. In seiner Freizeit dichtet er Sonette, spielt Gambe oder widmet sich seinen archäologischen Fundstücken, die er mit zärtlicher Akribie sortiert und archiviert. Seine Sammelleidenschaft ergreift während der römischen Jahre derart von ihm Besitz, dass er, obwohl von grundanständigem Charakter, sogar in die Fänge eines Hehlers gerät, der ihm seltene Stücke besorgt. Die Mutter, Elinor, von ihm "Feelein" genannt, beginnt hier im lebenssatten Rom der späten sechziger Jahre das Leben aus vollen Zügen zu genießen. Inspiriert vom südländischen Klima, verliebt sie sich zunächst in Luca, jenen anarchistischen Studenten, der ihr nicht nur Italienisch beibringt, sondern auch das Credo der freien Liebe predigt. Sie flirtet mit Frangipane, einem alten, etwas heruntergekommenen Adligen und verfällt schließlich einem geheimen Liebhaber, der ihr zum Verhängnis wird. Die genauen Umstände ihres Todes im Tiber bleiben im Dunkeln. Sebastian, der Sohn, aber genießt das bunte Treiben in den Straßen Roms; und erlebt hier sein erstes erotisches Abenteuer im Kellerversteck mit Lili, der frühreifen Tochter des Portiers, der er mit den aufgeschnappten Reden Lucas zu imponieren versucht.
    Für Jan Koneffke ist der Roman eine Geschichte von Umbrüchen und Übergängen, historischen ebenso wie individuellen.

    Es geht mir sehr stark darum, dass eine individuelle Geschichte, z.B. die des Sebastian Wieland, des Ich-Erzählers, nie losgelöst werden kann von der historischen Geschichte und auch nicht von der Vorgängergeschichte, und dass das eine mit dem anderen verwoben ist, dass die Eltern nicht einfach nur als Eltern wahrgenommen werden wie in der Gegenwart des Kindes, sondern ja ebenfalls ihre Geschichte mitbringen, und so ein Horizont erkennbar wird, der eben nicht nur ein individualgeschichtlicher, sondern eben ein historischer Horizont ist, und ich glaube, dafür ist die Literatur eigentlich da, dass sie Tiefen auslotet.

    Um das zu erreichen, lässt der Autor mehrere Zeit- und Bewusstseinsebenen sich gegenseitig durchdringen und miteinander verflechten. Abwechselnd mit den römischen Erinnerungen, die aus der Perspektive des Knaben erzählt werden, berichtet der erwachsene Sebastian über das weitere Leben des Vaters, der sich nach dem Tod seiner Frau und der Rückkehr aus Rom in einem Wohnwagen in den Odenwald zurückgezogen hat. Nachdem auch er gestorben ist, gehen die eingeschobenen Kapitel immer weiter zurück in die Vergangenheit: Wir erfahren von den frühen Jahren des Vaters als Lehrer, der von der Mutter angehimmelt wurde, bevor sich ihre Liebesgeschichte entwickelte, aber auch davon, dass der Vater in den letzten Kriegstagen als Wehrmachtslastensegler über Italien gelandet war. Obwohl hier wie an anderen Stellen des Romans durchaus eine politische Dimension eröffnet wird, will der Roman alles andere sein als eine Abrechnung mit den Eltern oder den turbulenten 68er Jahren, wie in einigen Rezensionen zu lesen war.

    Davon kann überhaupt keine Rede sein, ich will nicht mit 68 abrechnen, es interessiert mich als Umbruchphase, und es interessiert mich in doppelter Weise. Es gibt den Umbruch in Deutschland mit der 68er Zeit, aber es gibt ganz spezifisch einen Umbruch in Italien, viel radikaler natürlich, der damit zusammenhängt, dass das Agrarland ganz plötzlich zum Industrie- und Konsumland geworden ist. Und die Folgen dieser rabiaten, brutalen Entwicklung merkt man eigentlich bis heute noch in Italien, und da konnte ich doch aus dem heutigen Italien noch sehr viele Rückschlüsse ziehen auf das frühere Italien. Das ist ja auch in der Anmerkung erwähnt, ich habe sehr viel zugehört, einigen italienischen Freunden und Freundinnen, die mir aus dieser Zeit erzählt haben, und viele dieser Geschichten, auch kleine Details, sind tatsächlich authentisch, z.B. die Schlangenhaut, die aufgerollt wird wie so eine Luftschlange, z.B. die Goldfische im Bidet, das sind keine Erfindungen.

    In einer Vielzahl kleiner, ebenso pointenreich wie stilsicher dargebrachten Episoden, die ein lebendiges Stimmungsbild der italienischen Hauptstadt in den politisch turbulenten Jahren um 1970 entstehen lassen, offenbart sich die unerschöpfliche Fabulierlust des Autors, und natürlich sein besonderes Faible für die Stadt am Tiber, in der Jan Koneffke zwischen 1995 und 2003, zunächst als Stipendiat der Villa Massimo, gelebt hat. Rom mit seinen vielen historischen Schichtungen, die sich wie in einem Palimpsest übereinanderlegen, ist für ihn aber auch eine Metapher für die Kraft der Erinnerung und der Erinnerungsort schlechthin. Ein Zitat von Freud hat ihn Zeit seines Aufenthalts in Rom begleitet.

    Er beschreibt in den Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse Rom als Modell des Gedächtnisses. Er sagt, Sie müssen sich das Gedächtnis, wie es meinem Begriff entspricht, vorstellen wie die Stadt Rom, wenn in Rom heute alle Schichten ihrer Bebauung gleichzeitig sichtbar werden, das ist das Gedächtnis, nach Freud. Es ist also nichts wirklich vergessen, es kann nur ins Unbewußte absinken, aber es ist nie vergessen. Für mich war Rom auch immer das Erlebnis, in einem Gedächtnisort zu sein, in einem Erinnerungsort zu sein, und auch das war ein Grund, warum die Geschichte dort spielen musste, wo Geschichte wirklich noch als Schichtung zu erkennen ist.

    Man muss aus seinem Leben eine Geschichte machen, um bei Verstand zu bleiben", rät Paul Schatz einmal seinem Neffen. Das gilt auch für diesen Roman. Denn erst Jahre später, als sich Sebastian Wieland, der inzwischen als Archäologe an einem Berliner Institut arbeitet, wieder einmal nach Rom begibt, um an der Hochzeit eines ehemaligen Schulkollegen mitzufeiern, erfährt er, wer der heimliche Geliebte der Mutter gewesen war, und er hört die ganze Geschichte des Vaters, der in eine furchtbare Kriegsschuld verwickelt war. Das alles und auch das unerwartete Wiedersehen mit Lili wirkt auf ihn wie eine Befreiung. Eine Befreiung in dreifacher Hinsicht, zur Liebe, zur lebendigen Erinnerung und zum Schreiben. Der letzte Satz des Romans - "trotzdem war Lilis Erinnerung ein Trost" - lässt die Hoffnung einer Wiederbelebung der Jugendliebe zumindest anklingen.

    Er lässt es offen, es könnte aber sein, dass es dazu kommt. Auf jeden Fall wird der Erzähler am Schluss eigentlich erst geboren in dem Moment, in dem er sich lebendig erinnern kann. Erinnerung auch einer schlimmen Geschichte kann zum Trost werden. Darin liegt schon etwas wie Liebe, auch zwischen den beiden. Etwas davor heißt es, "was ist eine Erinnerung wert, wenn wir sie nicht miteinander teilen". Also dieses mit einem Erinnerung teilen, da wird die Erinnerung dann wirklich zu einer lebendigen Erinnerung, und dann ist sie auch mittelbar, erzählbar. Also da wird eigentlich der Erzähler geboren.

    Einem solchen Erzähler, dessen Impuls zu erzählen sich der Befreiung durch die Erinnerung verdankt, können wir uns getrost überlassen in dem sicheren Gefühl, seiner Intuition trauen zu können und ein Abrutschen weder in die Idylle noch in ein Horrorszenario fürchten zu müssen. Davor bewahrt Koneffke neben einer latent mitschwingenden, unterschwelligen Ironie eine tief verankerte Menschenliebe - sein Witz ist kauzig und komisch, aber nie diskreditierend, hämisch oder gar sarkastisch - und sein feines Gespür für den Möglichkeitssinn in der Literatur.