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Alltag im Kirchenstaat
Die kleine Welt des Vatikan

Der katholische Kirchenstaat funktioniert nach ganz eigenen Regeln. Wer nicht gerade Vatikan-Korrespondent ist, dem bleibt dieser Kosmos verborgen. Einer dieser Berichterstatter, Aldo Maria Valli, hat seine Einblicke in die Beziehungsgeflechte und den Alltag der Kirchenoberhäupter aufgeschrieben. Jetzt ist sein Buch ins Deutsche übersetzt worden.

Von Aureliana Sorrento | 09.01.2015
    Kardinäle und Bischöfe bei der Messe zur Amtseinführung von Papst Franziskus in Rom am 19.3.2013
    Kardinäle und Bischöfe bei der Messe zur Amtseinführung von Papst Franziskus in Rom am 19.3.2013 (dpa / picture alliance / Riccardo Antimiani / Eidon)
    "In dieses Buch sind meine Erfahrungen aus vielen Jahren eingeflossen. Ich mache diesen Job schon lange, seit 1995. Über all die Jahre habe ich Leute kennengelernt und viele Orte gesehen, die dem Publikum unzugänglich sind. Das geschah immer zu beruflichen Anlässen. Der Vatikan ist eine extrem geschlossene Welt, die Schwierigkeiten hat mit der Außenwelt zu kommunizieren. Vor allem über ihre umstrittenen Seiten."
    Aldo Maria Valli, Vatikan-Korrespondent des italienischen Staatsfernsehens, hatte sich allerdings kein Buch über die "umstrittenen Seiten" des Vatikan vorgenommen. Kein Enthüllungsbuch über die kirchlichen Finanzen à la "Vatikan AG" von Gianluigi Nuzzi. Kein Skandalbuch über die ungeklärten Todes- und Entführungsfälle, die sich in der Vatikanstadt ereignet haben. Den "Schattenseiten des Vatikan" hat er ein Kapitel gewidmet, aber sie stehen nicht im Zentrum seines Buches "Die kleine Welt des Vatikan". Der Band ist vielmehr ein Vademecum des Alltags im Staat der Päpste, seiner Räume, Institutionen, Gesetze, Symbole, Rituale und Gepflogenheiten. Und die sind auch ohne Intrigen und ungeklärte Todesfälle reichlich seltsam.
    "Eine Welt für sich", warnt der Autor zum Auftakt. Und geht erst einmal dazu über, diese Welt begrifflich einzugrenzen.
    "Das Territorium heißt 'Staat der Vatikanstadt'. Die Rechtskörperschaft, die ihre Aktivität in diesem Staat entfaltet, und nicht nur dort, heißt "Heiliger Stuhl". Aber diese Unterscheidung wird sehr häufig nicht so genau genommen, und man spricht einfach vom "Vatikan": Der Vatikan hat gesagt; der Vatikan hat entschieden; der Vatikan hat verkündet."
    Mit dem "Heiligen Stuhl" beginnen die Merkwürdigkeiten. Die Bezeichnung "Stuhl" bezieht sich auf den Thron und Bischofssitz des Papstes. Dieser befindet sich aber nicht in der Vatikanstadt, sondern in der Kirche San Giovanni in Laterano in Rom.
    "In Wahrheit ist alles sonderbar in der vatikanischen Welt. Die Vatikanstadt ist ein unabhängiger Staat aber so groß wie ein Viertel Roms. Er hat zwei offizielle Sprachen, Italienisch und Latein. Dabei ist Latein, eine tote Sprache, die wichtigere von beiden. Er prägt seine eigene Währung, aber nur für Münzensammler. Für den Alltagsgebrauch wird der Euro verwendet, obwohl die Vatikanstadt kein Mitgliedsstaat der Europäischen Union ist. In der Vatikanstadt gibt es kein Privateigentum: Alles gehört dem Staat. Die Immobilien werden zwar von jenen benutzt, die darin arbeiten oder leben, aber niemand besitzt sie. Dann noch die vatikanische Staatsbürgerschaft: Sie steht nur jenen zu, die in der Vatikanstadt residieren, weil sie dort ein Amt innehaben. Aber wenn sie dieses Amt nicht mehr ausüben, verlieren sie die vatikanische Staatsbürgerschaft wieder."
    Eine in der Vergangenheit verharrende Welt
    Und was soll man denn zu den Bankautomaten sagen, die einen auf Italienisch und Latein ansprechen? Oder zur päpstlichen Schweizergarde, einer Mini-Armee, die Renaissance-Kostüme trägt? Oder zu den vatikanischen Kongregationen? Sie sind mit Ministerien vergleichbar, walten aber nicht nur über irdische Dinge oder Angelegenheiten der Vatikanstadt, sondern über das Seelenheil der gesamten katholischen Christenheit. An ihrer Spitze steht die Kongregation für die Glaubenslehre, die Nachfolgerin der Heiligen Inquisition. Bis heute wacht sie darüber, dass jede neue theologische Entwicklung mit der kirchlichen Tradition übereinstimmt. Wer bei ihr in Ungnade fällt, landet zwar nicht mehr auf dem Scheiterhaufen, kann aber durchaus mit dem Kirchenbann belegt werden. Aus der Sicht eines Ungläubigen ist die Kongregation für die Selig- und Heiligsprechungsprozesse allerdings die bizarrste.
    "Die Mitglieder dieser Kongregation müssen entscheiden, wer heilig ist und wer nicht. Zum Schluss besiegelt der Papst ihre Entscheidung, aber die Heiligsprechungsprozesse werden von der Kongregation geführt. Dabei geht es darum, nach einer Untersuchung mit weltlichen Mitteln etwas zu verkünden, das von allem Irdischen weit entfernt ist: den Begriff der Heiligkeit."
    Zu diesem Zweck muss die Kongregation feststellen, ob ein Kandidat Wunder vollzogen hat und wie viele!
    Keine Frage: In mancher Hinsicht ist der Vatikan eine in der Vergangenheit verharrende Welt. Doch Aldo Maria Valli ist weit davon entfernt, diesen Umstand mit Spott zu belegen. Seine klare, ebenmäßige Prosa lässt höchstens ein mildes Lächeln durch die Zeilen durchscheinen; den zynischen Seitenhieb kennt sie nicht. Denn der Autor ist ein gläubiger Katholik. Außerdem wäre es borniert, den Vatikan der Rückschrittlichkeit zu zeihen: In puncto Umweltschutz steht der Staat der Päpste an der Spitze des Fortschritts.
    "Auf der riesigen Dachfläche der großen Audienzhalle mit 5.000 Quadratmetern wurden 2.400 Solarmodule angebracht, die, ohne die geplante Architektur des Konstrukteurs Pier Luigi Nervi zu beeinträchtigen, 300.000 Kilowattstunden pro Jahr liefern. Die saubere Energie wird in das vatikanische Netz eingespeist und spart damit das Äquivalent von 80 Tonnen Erdöl und vermeidet eine Emission in die Atmosphäre von 225.000 Kg CO2."
    Immerzu stößt man in "Der kleinen Welt des Vatikan" auf den Widerspruch zwischen Tradition und Moderne. Aber am heitersten ist Vallis Prosa dort, wo er jenen zwischen Menschlichem und Heiligem in den Fokus nimmt, und beispielsweise von den Fluchtversuchen der Päpste erzählt.
    "Für einige unter ihnen glich die Residenz im Vatikan einem Gefängnis, und wie so viele Gefangene haben sie auf vielerlei Art versucht, zu fliehen."
    Von Johannes XXIII. ist überliefert, dass er in den Sommermonaten, die er in Castel Gandolfo verbrachte, ab und zu verschwand. Er ging inkognito unter die Leute und kehrte pünktlich zum Angelus-Gebet zurück. Johannes Paul II. brachte seinerseits die Kardinäle der Kurie immer wieder durch sein Bedürfnis aus dem Konzept, in den Bergen zu wandern, Ski zu fahren und - wie auch immer - den Leoninischen Mauern zu entfliehen.
    Der Vatikan sei ein Kompromiss, schreibt Aldo Maria Valli zum Schluss - eine Sphäre, in der das Menschliche und das Göttliche, das Wundersame und das Alltägliche nebeneinander liegen; genau darin läge sein Reiz. Dem Autor von "Die kleine Welt des Vatikan" ist es gelungen, die vielen Facetten dieses Kompromisses sachlich, fachkundig und zugleich kurzweilig darzulegen: ein Bravourstück.
    "Die kleine Welt des Vatikan. Alltagsleben im Kirchenstaat" von Aldo Maria Valli, aus dem Italienischen von Renate Warttmann übersetzt, ist im Klett-Cotta Verlag 2014 erschienen. Es hat 256 Seiten und kostet 17,95 €.