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Alltag in Gaza
Freiheiten nur für Reiche

Besonders Frauen und Kinder leiden unter den Bedingungen in Gaza mit Strommangel, schlechter Wasserversorgung, Arbeits- und Trostlosigkeit. In der islamischen Gesellschaft unter einer Hamas-Regierung sehnen sich viele Frauen nach mehr Freiräumen.

Von Eva Lell | 02.08.2016
    Sie sehen muslimische Schülerinnen mit Kopftuch, die im Koran lesen.
    Frauen und Kinder leiden besonders unter den schwierigen Alltagsbedingungen im Gazastreifen. (picture-alliance / dpa / Mohammed Saber)
    Eine Straße in Gaza-Stadt, auf der einen Seite Meer und Strand, auf der anderen eine hohe gelb getünchte Mauer. Zwei Männer bewachen ein blaues Tor. Hinein dürfen nur Frauen, denn hinter den hohen Mauern verbirgt sich ein kleines Idyll für Frauen in Gaza.
    Im Schatten sitzen ältere und junge Frauen auf Plastikstühlen im Kreis, rauchen Wasserpfeife, unterhalten sich, lachen. Sie wirken locker, entspannt und gut gelaunt. Im Straßenbild von Gaza ist das so gut wie nie zu sehen. Da sitzen die Männer vor den Läden und Häusern. Hier, verborgen hinter hohen Mauern spielen kleine Kinder im Babybecken oder im Gras, in einem überdachten Pool schwimmen Frauen, ohne Schleier, ohne lange Gewänder. Noal, eine junge Frau im Bikini, steigt bibbernd aus dem Wasser:
    "Ich mag kaltes Wasser, auch wenn ich dusche, dusche ich immer kalt."
    Nicht viele Frauen können sich dieses Idyll leisten, besonders die Frauen und Kinder leiden unter den Bedingungen in Gaza mit Strommangel, schlechter Wasserversorgung, Arbeits- und Trostlosigkeit. Und das alles in einer islamischen Gesellschaft unter einer Hamas-Regierung.
    Am Pool für einen Tag
    Noals Familie ist reich. Sie hat den Pool für einen Tag gemietet. Es sind nur Frauen und Kinder da, insgesamt etwa 30 Leute. Wenn Frauen im Meer schwimmen gehen, tragen sie lange Kleider und ein Kopftuch. Dass eine Frau im Bikini an den Strand in Gaza geht, das ist für die Frauen und Mädchen unvorstellbar.
    "Wahrscheinlich würden alle Menschen in Gaza an den Strand kommen und schauen."
    Wahrscheinlich würde sogar das Fernsehen kommen, kichert die 23-jährige Alah. Sie trägt ein luftiges kurzes Sommerkleid. Auch das ist nur in diesem geschützten Raum möglich.
    "Um uns frei zu fühlen, mieten wir diesen Pool. Wir sind eine Familie, keiner starrt uns an, keiner spricht uns an. Wir fühlen uns hier frei, wir können uns hier auch freier unterhalten."
    Ortswechsel – eine Hochhaussiedlung im Stadtteil El Nuseirat. Afeef Abu Djabr lebt mit ihre Mann und ihren drei Söhnen in einer kleinen Wohnung im dritten Stock. Im Wohnzimmer stehen wuchtige Möbel, in der Mitte ein Couchtisch. Die 50-Jährige ist Krankenschwester. Sie arbeitet gern, oft ist ihr aber alles zu viel:
    "Ich arbeite den ganzen Tag beim roten Halbmond, komme nach Hause, kümmere mich um den Haushalt und um Söhne und Ehemann. Dann gehe ich zu meiner Mutter, die ist pflegebedürftig. Wenn ich dann nach Hause komme, bin ich müde, muss aber noch im Haushalt arbeiten."
    Familie und Beruf
    Afeef Abu Djadr hat dieselben Probleme wie viele Frauen: Sie muss Familie und Beruf unter einen Hut bringen. Ein Sohn ist durchs Abitur gefallen und hängt nur rum. Ein anderer fängt im Herbst mit dem Studium an:
    "Die Lage ist sehr schwer. Vor allem die Jugendlichen leben in Ungewissheit. Die Mädchen können heiraten, aber die Jungs, wie können die sich eine Existenz aufbauen? Darüber mache ich mir viele Sorgen."
    Was Afeef Abu Djabr von anderen berufstätigen Frauen unterscheidet: Sie lebt im Gazastreifen. Strom gibt es nur wenige Stunden am Tag, nur die Reichen können sich Generatoren leisten. Eine Tochter und deren Familie ist im Krieg vor zwei Jahren gestorben, die andere Tochter studiert seit drei Jahren in Kairo. Seither haben sie sich nicht mehr gesehen. Wenn die Tochter nach Gaza käme, wäre nicht sicher, ob und wann sie wieder nach Kairo zurückkommt.
    "Ich sehe alles schwarz, ich habe keine Hoffnung mehr. Ich glaube, bald gibt es wieder Krieg. Im letzten Krieg hat unsere Familie 22 Menschen verloren."
    Sie hat ihre Zuversicht verloren und das Vertrauen in die Politik. Ihr Mann wirft ein: Die Hamas habe allem die Hände gebunden. Über Politik denken diejenigen, die zur Beratungsstelle für missbrauchte Frauen kommen, nicht nach. Sie leiden unter ihren erdrückenden alltäglichen Lebensumständen und wissen sich nicht mehr zu helfen.
    Zentrum für Frauen
    Amna Abuhadschar kommt einmal die Woche in das Zentrum für Frauen, hier bekommt sie essen, psychologische Betreuung und juristische Beratung. Das Zentrum setzt sich ab vom Staub und Dreck der Straßen in Gaza-Stadt. Alles wirkt ordentlich und sauber, die Büroräume nicht modern, aber gepflegt. Ein Ort zum Durchatmen für Amna Abuhadschar: Ihr Mann sitzt wegen Schulden im Gefängnis. Sie und ihre fünf Kinder haben keine eigene Wohnung, sondern leben im Haus ihrer Schwiegereltern.
    "Ich lebe mit fünf Schwagern in einer großen Familie zusammen, alles durcheinander. Ich muss mich immer so anziehen, mit Kopftuch und einem langen Kleid, auch zuhause aus Rücksicht auf meine Schwager. Wir haben nur ein Badezimmer, es ist alles sehr eng."
    Tränen laufen ihr übers Gesicht als sie ihren Alltag schildert. Sie spricht sehr verklausuliert über ihre Erlebnisse. Auch Ashar Djadala wird nicht konkret:
    "Ich bin viel Gewalt ausgesetzt gewesen von meinen Schwiegereltern, und dann bin ich vor drei Jahren von meinen Schwiegereltern rausgeschmissen worden."
    70 Prozent der Frauen im Gazastreifen machen Gewalterfahrungen
    Ashar Djadala wohnt jetzt wieder bei ihren Eltern. Ihre vier Kinder darf sie nur alle zwei Wochen für 24 Stunden sehen. Frauen können sich hier beraten lassen, hier unterkommen wie in einem Frauenhaus können sie hier aber nicht schlafen. Die Hamas-Regierung hat das bisher nicht genehmigt. Laut einer Studie haben 70 Prozent der Frauen im Gazastreifen Gewalterfahrungen, es geht um verbale, psychische, körperliche und sexuelle Gewalt. Die Beratungsstelle ist der letzte Ausweg für Frauen. Eine Anzeige bei der Polizei ist für viele undenkbar.
    "Sie haben das Recht, den Täter anzuzeigen, aber nach den Normen hier ist es eine große Schande für die Familie, wenn die Frau zur Polizei geht. Wenn sie das macht, würde das heißen, dass sie mit ihrer Familie bricht, ihre Familie nicht respektiert. Üblicherweise wird das in der Familie geregelt. Und natürlich ist die Lösung nicht fair für die Frau."
    Andalib Adwan ist die Leiterin des Community Media Center in Gaza. Sie versucht, dass Radio, Fernsehen und Zeitungen in Gaza auch über Frauen berichten. Sie will den Frauen klar machen, dass es nicht Gott gegeben ist, dass ihr Mann sie schlägt und sie leiden. Frauen und Kinder stehen wegen des Strommangels, des schlechten Wassers, der Arbeitslosigkeit besonders unter Druck, sagt Adwan. Es gibt zwar drei Ministerinnen in der Hamasregierung, aber in Wirklichkeit kümmert sich niemand ernsthaft um die Anliegen.
    Frauen in der Opferrolle - Nidaa Mahna kann und will das nicht mehr hören:
    "Frauen in Gaza haben viel Energie und viele Ziele. Wenn ein Frau ihr eigenes Geschäft aufmachen kann, kann sie alles machen. Aber wir haben Einschränkungen, politisch und gesellschaftlich. Vor zwei Jahren war Krieg. Du kannst hier keinen Plan machen für einen Monat, nicht einmal für eine Woche. Vielleicht ist morgen Krieg oder es passiert politisch etwas, das unsere Sicherheit gefährdet. Das ist das Problem. Wir haben immer Angst."
    Ein Café nur für Frauen
    Nidaa Mahna hat ihr eigenes Geschäft aufgemacht. Das Café Noon in der Innenstadt. Es ist ein Laden nur für Frauen:
    "Ich bin auf die Idee gekommen, weil es so einen Ort in Gaza noch nicht gab. Ein Café, wo Frauen in Ruhe Kaffee trinken können, ohne Männer. In Ägypten und Saudi-Arabien gab es so etwas schon."
    Nidaa Mahna ist eine ruhige, kleine und zierliche Frau. Sie trägt ein buntes Kopftuch, Jeans, ein enges langärmeliges Shirt. Aber wenn sie erzählt ist ihr Selbstbewusstsein und ihr starker Wille spürbar. In ihrem Laden gibt es nicht nur Kaffee, sondern auch Unterwäsche. In mehreren Regalen Nidaa Mahna zeigt ihr Sortiment.
    "Hier haben wir Dessous und Pyjamas, und hier sind Accessoires, Ketten und Ringe, und hier ist das Regal für die Schönheitspflege: Make-up, Pflege, Maniküre, Körpercremes."
    Die Unterwäsche ist schlicht oder aufreizend, in dezenten und in grellen Farben, mit und ohne Spitze. Im Schaufenster steht eine Puppe mit einem durchsichtigen dunkelroten Negligé. In der Mitte des Raumes stehen ein kleiner Tisch und zwei Sofas. Hier können die Frauen sitzen, lesen, sich unterhalten oder in Ruhe beraten lassen:
    "Frauen schämen sich, wenn sie Unterwäsche kaufen und der Verkäufer ist ein Mann. Deshalb haben wir hier alles, was Frauen brauchen. Sie kann sich Zeit nehmen, alles anzuschauen, anzuprobieren. Die Frauen sollen sich wohlfühlen hier und alles in einem Geschäft kaufen können."
    Anfangs waren viele skeptisch, erzählt die 36-Jährige. Das hat sich mittlerweile gelegt. Schwierigkeiten gibt es trotzdem noch immer. Das liegt an der Abriegelung des Gazastreifens durch Israel und Ägypten. Die Ladenbesitzerin kann nicht auf Messen fahren und sich Ware bestellen. Sie muss die Produkte nehmen, die sie im Gazastreifen bekommen kann. Nidaa Mahna will Sicherheit und Planbarkeit.
    Sehnsucht danach den Gazastreifen zu verlassen
    Die Mädchen und Frauen bei der Poolparty hinter hohen Mauern wollen sich frei bewegen können, sie wollen raus aus dem Gazastreifen. Naol, Alah und Safer reden durcheinander, wenn es um ihre Träume geht.
    "Ja, wir wollen unser Land bereisen. Das Westjordanland. Ist es nicht erbärmlich, dass sie nicht in ihr Land reisen dürfen." - "Ich war noch nie in Jerusalem, Ramallah und Jericho. Ich kenne es nur von Bildern. In nur einer Stunde ist man dort, das ist nicht weit."
    Dass ihre Politiker für Sie etwas zum Positiven wenden können oder wollen, daran glauben sie nicht:
    "Hamas und Fatah kümmern sich nur um sie selbst. Sie kümmern sich nicht um die Leute, denen es schlecht geht. Die von der Fatah sagen, die Hamas sind Terroristen, die Hamas sagt über Fatah, sie verkaufen unsere Heimat. Was ist mit uns? Was ist mit den 1.000 Zivilisten, die im Krieg gestorben sind?"
    An eine politische Lösung glaubt im Gazastreifen zurzeit niemand. Sie fühlen sich von den Israelis eingesperrt, von der eigenen Regierung im Stich gelassen, vom Westen ignoriert. Und das gilt für arme und reiche Frauen in Gaza.