Dienstag, 23. April 2024

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Alte Musik
Thomas Tallis und Orlando Gibbons

Im Nachklang der Reformation wurden Kirchengesänge zunehmend in der Landessprache vorgetragen. Zwei neue CDs mit den britischen Ensembles Alamire, Fretwork und Magdalena Consort liefern nun ein aufschlussreiches Bild dieser Entwicklung in England. Zugrunde liegen neueste Forschungsergebnisse.

Am Mikrofon: Rainer Baumgärtner | 31.12.2017
    Cover und CDs der neuesten Produktion der Ensembles Alamire, Fretwork, Magdalena Consort
    Die Cover und CDs der neuesten Produktionen von Alamire, Fretwork und Magdalena Consort (Wyn L. Engeholm)
    Eine Folge der Reformation bestand darin, dass Kirchengesänge immer öfter in der Landessprache vorgetragen wurden. Dies war nicht nur im Luthertum der Fall, sondern auch in der anglikanischen Kirche. Zwei neue CDs mit britischen Ensembles, beide auf dem neuesten Stand der Repertoire- und Interpretationsforschung, liefern nun ein aufschlussreiches Bild dieser Entwicklung in England in der Zeit von etwa 1550 bis 1620.
    Mit der von König Heinrich VIII. auch aus privaten Gründen vollzogenen Ablösung vom Papsttum setzte sich in England die Reformation durch. Und bald führte der Weg hin zum Einsatz englischsprachlicher Werke im Gottesdienst, besonders mit dem Ziel, die Gesänge dem allgemeinen Volk verständlich zu machen. Zwei wichtige Figuren am Beginn dieses Prozesses waren der Erzbischof Thomas Cranmer und der junge Hofkomponist und -Organist Thomas Tallis. Cranmer hat im "Book of Common Prayer" eine Liturgie in englischer Sprache entwickelt, die bis heute in Gebrauch ist. In der Kirchenmusik forderte er einen einfachen Stil und in dieser Weise hat Tallis auch einige Werke gesetzt. Darunter das auf das berühmte Jesus-Wort aus dem Johannesevangelium zurückgehende "If ye love me—Wenn ihr mich liebt, werdet ihr meine Gebote halten".
    Musik: Thomas Tallis, If ye love me
    Auf der neuen CD "Songs of Reformation" seines Ensembles "Alamire" macht David Skinner den Durchbruch der englischsprachigen Kirchenmusik nachvollziehbar. Ein entscheidendes Jahr auf diesem Weg war das Jahr 1544, in dem Heinrich VIII. (wieder einmal) gegen Schottland und Frankreich in den Krieg zog. Aus diesem Anlass hat Erzbischof Cranmer eine lange Litanei in die englische Sprache übersetzt. Der Hofkomponist Thomas Tallis wurde beauftragt, die Litanei fünfstimmig, aber sehr einfach im syllabischen Stil zu vertonen. (Die Harmonien des Werkes klingen dennoch sehr eindrucksvoll!) Soweit bekannt, ist es die erste mehrstimmige Vertonung eines liturgischen Textes auf Englisch. In dem langen Gebet wird Gott um Beistand gegen die Sünde, gegen die Tyrannei des Papstes und alle Feinde und — im nun folgenden Ausschnitt — um Hilfe für König Henry, die Königin Katherine und Prinz Edward angerufen.
    Musik: Thomas Tallis, The Litany à 5 (Ausschnitt)
    Katherine Parr war die sechste und letzte Ehefrau von Heinrich VIII. — der alte König hatte sie erst ein Jahr zuvor geheiratet — und die 32-Jährige war sehr gottesfürchtig. Sie ließ 15 eigene Nachdichtungen von Psalmen drucken, in denen es um den Kampf gegen das Böse und die Feinde Gottes geht.
    Propagandawerk der Königin
    Im Jahr 1978 wurden in einem College in Oxford hinter Putz Notenfragmente gefunden, die vor kurzem als Vertonung einer der Dichtungen von Katherine Parr identifiziert wurden. Es handelt sich dabei um eine Kontrafaktur auf der Basis der Marienmotette "Gaude gloriosa dei mater" von Thomas Tallis. Hier hat man es allerdings nicht mit einem simplen Satz nach den Vorstellungen des Erzbischofs Cranmer zu tun, sondern mit einem imposanten Werk von Tallis im Stile der Vokalpolyphonie der Renaissance. In Zeiten des Krieges wollte die Tudorkönigin anscheinend ein patriotisches musikalisches Manifest kreieren!
    Musik: Thomas Tallis, Se lord and behold (Text: Katherine Parr) (Schlussabschnitt)
    Das Vokalensemble "Alamire" hat Katherine Parrs monumentale Kontrafaktur "Se lord and behold" mit Musik von Thomas Tallis auf der CD "Queen Katherine Parr & Songs of Reformation" nun erstmals aufgenommen. Ensembleleiter David Skinner hat für die Aufnahme auch das Gambenconsort "Fretwork" eingeladen, das ein paar instrumentale Fassungen von Tallis-Motetten beisteuert.
    Und dank dieses Ensembles lässt sich wunderbar ein Bogen schlagen zu einer weiteren neuen Platte mit dem Titel "In Chains of Gold", auf der alle sogenannten "Consort Anthems" des Komponisten Orlando Gibbons versammelt sind. Es ist die erste Folge einer dreiteiligen Reihe des Labels Signum mit Anthems, geistlichen Chorkompositionen für den anglikanischen Gottesdienst, aus der ersten Hälfte des 17.Jahrhunderts. Auf der CD sind neben Fretwork das "Magdalena Consort" und — in geringerem Ausmaß — das Bläserensemble "His Majestys Sagbutts & Cornetts" zu hören. Das "Magdalena Consort" setzt sich ebenso wie "Alamire" aus rund einem Dutzend Sängern zusammen. Beide Ensembles singen sehr intonationssicher und wurden in kleinen Kirchen mit nicht zu viel Hall aufgenommen. "Fretwork" führt auf der Gibbons-CD drei Instrumentalstücke von ihm mit dem Titel "In nomine" auf, mit denen er an eine ältere Tradition aus der Zeit von Tallis anknüpfte. Ansonsten wirkt das Ensemble hier, anders als auf der Tallis-CD, vor allem begleitend bei Vokalwerken mit.
    Musik: Orlando Gibbons, In Nomine a5 No.3 (Ausschnitt)
    Stilwechsel in der englischen Kirchenmusik
    Von den letzten Jahren der Regentschaft Heinrichs VIII. geht es mit dieser Aufnahme in die Zeit ein gutes halbes Jahrhundert später unter dem ersten Stuart-König Jakob I. Es ist interessant zu beobachten, wie sehr die geistliche Musik der führenden Komponisten der Zeit in beiden Fällen vom Herrscher und seinem Umfeld beeinflusst wurde. Denn auch unter den Werken von Gibbons gibt es manche, die direkt auf Ereignisse im Leben Jakobs zurückgehen.
    Grundsätzlich ist bemerkenswert, wie deutlich sich die englische Kirchenmusik in diesen Jahrzehnten entwickelt hat — und die Dominanz der Landessprache im Gottesdienst ist dabei nur einer der Aspekte. Ein anderer besteht darin, dass die lange herrschende Vokalpolyphonie mit gleichberechtigten Stimmen von einer Musik abgelöst wurde, in der Solostimmen den Ton angeben. Im sogenannten "Verse Anthem" wechseln sich Passagen mit einem oder mehreren Solisten mit Chorabschnitten ab. Beim Solovortrag war der Text leichter zu verstehen und der Chor hatte auch weniger Text einzustudieren. Sicherlich haben aber auch Entwicklungen in der weltlichen Musik, insbesondere das Madrigal, Einfluss ausgeübt — gerade bei einem Komponisten wie Orlando Gibbons, der auch erfolgreiche Madrigale produziert hat.
    Musik: Orlando Gibbons, See, see, the Word is incarnate (1.Teil)
    Dies war der Beginn des Anthems "Sieh, sieh, das Wort ist Fleisch geworden" auf der von William Hunt geleiteten neuen Gesamtaufnahme der "Consort Anthems" von Orlando Gibbons. Kirchengesänge dieser Art wurden normalerweise auf der Orgel begleitet, es gibt jedoch auch Noten, in denen Stimmen für ein Instrumentalensemble festgehalten sind — wahrscheinlich für die Aufführungen in der Privatkapelle des Königs. Und die beliebteste Form solcher Ensembles war in jener Zeit das Gambenconsort.
    Forschungsergebnisse musikalisch umgesetzt
    Bei der in Cambridge erfolgten Aufnahme hat man neueste Forschungserkenntnisse hinsichtlich des damals üblichen hohen Stimmtons von 466 Hertz berücksichtigt. Dadurch erzielt man einen wunderbar leuchtenden Klang, den man bei den hohen Männerstimmen bewusst nicht mit Falsettisten anstrebt, sondern mit sehr hohen Tenören wie dem herausragenden Charles Daniels. Im Ganzen ist dies eine mitreißende Aufnahme der sehr poetischen Werke von Orlando Gibbons.
    Bei dem Anthem "O all true faithful hearts - O alle wahrhaft gläubigen Herzen" handelt es sich um eine Dankeskomposition aus dem April 1619 "für die glückliche Genesung des Königs von einer großen, gefährlichen Krankheit", wie über den Noten vermerkt ist.
    Musik: Orlando Gibbons, O all true faithful hearts
    Thomas Tallis
    Queen Katherine Parr & Songs of Reformation
    Alamire
    Fretwork
    Leitung: David Skinner
    Obsidian CD716 (LC 18870)
    EAN: 658592071627
    In Chains of Gold
    Orlando Gibbons – Complete Consort Anthems
    Fretwork
    His Majestys Sagbutts & Cornets
    Magdalena Consort
    Leitung: Lionel Meunier
    Signum Records SIGCD511 (LC 15723)
    EAN: 653212051122