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Alter vor Schönheit

Biologie. - Nacktmulle werden steinalt, sind nicht sonderlich schmerzempfindlich – und sie entwickeln keine Tumore. Deshalb gehören sie inzwischen zu den Lieblingsnagern der Wissenschaft. Jetzt hat ein internationales Forscherteam den Mechanismus hinter der Krebsresistenz möglicherweise entschlüsselt und in "Nature" veröffentlicht.

Von Marieke Degen | 20.06.2013
    Der Nacktmull - für die einen ist er das hässlichste Tier der Welt: eine faltige Wurst mit gelben Zähnen. Für die Krebsforscherin Vera Gorbunova ist er einfach nur liebenswert. An ihrem Arbeitsplatz, der Universität von Rochester in den USA, gibt es eine eigene Nacktmullkolonie: Die Tiere leben in einem abgedunkelten Raum in einem gigantischen Höhlensystem aus Plexiglas, wo sie geschäftig hin und her wuseln. Vera Gorbunova könnte ihnen stundenlang zuschauen.

    "Sie sind wahnsinnig fleißig: bauen ihre Schlafplätze um, schaffen Futter von einer Höhle in die andere oder beschäftigen sich miteinander. Wenn man Nacktmulle auf einem Foto sieht, denken viele: was für hässliche Tiere! Aber wenn man sie in Aktion erlebt, erkennt man, wie niedlich sie eigentlich sind."

    Nacktmulle werden unglaublich alt für ihre Größe, bis zu 30 Jahre. Und: sie erkranken praktisch nie an Krebs. Warum, war bislang nicht vollständig geklärt, doch Vera Gorbunova und ihr Team haben jetzt möglicherweise das entscheidende Puzzlestück gefunden.

    "Wir haben bei den Nacktmullen eine Substanz im Körper gefunden, die die Zellen davon abhält, unkontrolliert zu wuchern. Diese Substanz ist der Grund dafür, dass die Tiere keinen Krebs bekommen. Wenn wir die Substanz aus einer Zellkultur in der Petrischale entfernen, dann können die Nacktmullzellen sehr wohl Tumore bilden, genau wie die Zellen von Mäusen."

    Bei der Substanz handelt es sich um Hyaluronsäure. Eigentlich ein ganz normaler Bestandteil des Bindegewebes, also jenem Teil des Gewebes, der zwischen den Zellen liegt. Die Hyaluronsäure ist ein kettenartiges Molekül. Unter anderem verleiht sie der Haut Elastizität, sie wird seit Jahren in der Schönheitschirurgie eingesetzt, um Falten zu unterspritzen oder Lippen zu vergrößern. Die Hyaluronsäure der faltigen Nacktmulle sei aber etwas ganz besonderes, sagt Vera Gorbunova. Die kettenartigen Moleküle sind fast sechsmal so lang wie beim Menschen.

    "Wir haben schon vor ein paar Jahren entdeckt, dass Nacktmull-Zellen in der Petrischale früh aufhören, sich zu teilen – lange, bevor sie die Petrischale komplett ausgefüllt haben. Aber wir wussten nicht, warum. Nun – es ist diese langkettige Hyaluronsäure. Sie interagiert mit Rezeptoren auf der Zelloberfläche und kann den Zellen so signalisieren: Hört auf Euch zu teilen, hört auf herumzuwandern."

    Vielleicht könnte die Hyaluronsäure der Nacktmulle auch Mäuse vor Tumoren schützen – oder sogar Menschen. Dafür müsste die Hyaluronsäure aber auch dieselben Wirkmechanismen in den menschlichen Zelle anstoßen, und ob sie das kann, wissen die Forscher noch nicht. (sie halten es aber durchaus für denkbar.). Gorbunova:

    "Ich bin da insgesamt ziemlich optimistisch. Zumal Hyaluronsäure beim Menschen ja auch schon angewandt wird, wenn auch nur die normale, kürzere Version und gut verträglich ist. Wir müssen jetzt herausfinden, ob die lange Version die gleichen Effekte beim Menschen hat wie beim Nacktmull, und wie man sie am besten verabreicht. Das sind Studien, die machbar sind."

    Bleibt noch eine Frage zum Schluss: Warum haben ausgerechnet Nacktmulle diese Hyaluronsäure im Laufe der Evolution entwickelt?

    "Das ist faszinierend - es gibt nämlich noch ein anderes Nagetier, das mit dem Nacktmull nicht verwandt, ihm aber sehr ähnlich ist: Die Blindmaus. Beide Arten können sehr alt werden, beide bekommen keinen Krebs. Beide leben in einem unterirdischen Höhlensystem, an diesen Lebensraum haben sie sich unabhängig voneinander angepasst. Und: auch die Blindmaus stellt diese lange Form von Hyaluronsäure in ihrem Körper her."

    Wahrscheinlich, so die Forscherin, hatte die Hyaluronsäure ursprünglich eine ganz andere Aufgabe: die Haut elastisch und widerstandsfähig zu machen, damit sich die Tiere besser durch die engen Tunnel quetschen können. Der Schutz vor Krebs war nur ein praktischer Nebeneffekt.