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Altkanzler und Stimme der Vernunft

Autobiografen, so Helmut Schmidt, ähnelten Männern bei der Nassrasur. Sie seien ständig in der Gefahr, sich zu schneiden, und möchten doch nur gut aussehen. Wie es sich für einen Pragmatiker gehört, war auch dieser Befund für Schmidt eher lockere Wegweisung denn Dogma. Denn seit dem vergangenen Freitag liegt sein autobiographisches Werk vor. Jürgen Krönig weiß, ob der Autobiograf Helmut Schmidt ohne Schnittwunde davongekommen ist.

15.09.2008
    Helmut Schmidts Einfluss ist seit seinem Abschied von der Politik stetig gewachsen. In Deutschland genießt keine andere Persönlichkeit des öffentlichen Lebens solch hohes Ansehen quer durch alle Bevölkerungsschichten und Altersgruppen. Wohl auch ein Indiz dafür, dass hier ein Vakuum existiert, das bislang niemand auszufüllen vermochte. Der Respekt, der dem Exbundeskanzler entgegengebracht wird, gründet sich einmal auf seinen Ruf als kompetenter, entscheidungsstarker Bundeskanzler in den schwierigen Jahren zwischen 1974 und 1982, in einer Zeit, in der Ralph Dahrendorf bereits das "Ende des sozialdemokratischen Ära" postulierte. Doch etwas anderes kam hinzu. Schmidt wird weithin als Stimme der Vernunft empfunden - in einer hektischen Mediendemokratie, die eine ohnehin für Ängste anfällige Nation allzu leicht Opfer von Panikattacken werden lässt. Als Beispiele führt Schmidt das Waldsterben, die Furcht vor der Atomkraft und die Klimakatastrophe an, auch wenn er betont, dass es notwendig sei, die Abhängigkeit von fossilen Brennstoffen wie Emissionen zu reduzieren. In Deutschland wie anderen westlichen Gesellschaften ist die Neigung erheblich gewachsen, jedes nur denkbare Risiko auszuschalten und das Leben der Bürger immer stärker zu regulieren. Schmidts Entscheidung, beharrlich selbst dort zu rauchen, wo es die moderne Tugenddiktatur untersagt, gewann so den Charakter eines gerechtfertigten Protestes, dem selbst Nichtraucher Beifall zollen. Mit seinem jüngsten Werk, dem er den schlichten Titel "Außer Dienst - eine Bilanz" gab, fügt Schmidt seiner Rolle als "Elder Statesman" im Leben der Bundesrepublik die des Staatsphilosophen hinzu, aus dessen Worten Erfahrung und praktische Vernunft des Verantwortungsethikers sprechen. Das Buch ist die Summe dessen, was er in einem langen politischen Leben in Krieg und Frieden gelernt hat. Klar und verständlich werden Einsichten und Zusammenhänge vermittelt, ohne dass der Autor auf die komplizierte, oftmals absichtsvoll hermetische Sprache zurückgreift, die allzu oft den akademischen und intellektuellen Diskurs in Deutschland kennzeichnet.
    Helmut Schmidt hat nicht nur wichtiges zu sagen. Er legt Wert darauf, verstanden zu werden. Fragen, die er zu Beginn seines des Buches aufwirft, müssen Nation wie politische Klasse, zu der er auch die Medien zählt, in Verlegenheit bringen.

    Haben wir aus der Geschichte genug gelernt? Gelingt es uns, das große Glück der Wiedervereinigung in einen Erfolg umzumünzen? Warum sind wir fähig, im Export Weltmeister zu sein, aber zugleich unfähig, im eigenen Land eine gefährliche Massenarbeitslosigkeit zu bewältigen? Erkennt die politische Klasse nicht, was das öffentliche Wohl gebietet? Mangelt es ihr an der Courage, den Wählern unpopuläre Wahrheiten zuzumuten oder weigert sich der Wähler, solchen Wahrheiten ins Gesicht zu schauen? Oder gilt alles zugleich?
    Es sind rhetorische Fragen. Die Deutschen, so Schmidt, bleiben eine "gefährdete Nation", gefährdet sowohl von innen wie außen. Auch deshalb, weil die Deutschen eine schonungslose Diagnose ihres Landes zu lange hinauszögerten, vor allem angesichts der Überforderung des Sozialstaates, den er als große, zivilisatorische Errungenschaft bezeichnet. Bislang sei unzureichend gehandelt worden. Doch lobt er Schröders Agenda 2010 als zwar verspäteten, aber ersten Schritt in die richtige Richtung. Dem dringend weitere folgen müssten. Allein die Überalterung und das Schrumpfen der Bevölkerung erzwingen den Umbau Deutschlands. Wobei Schmidt die Vorstellung zurückweist, man könne das deutsche Geburtendefizit durch Einwanderung aus Afrika und dem Nahen Osten ausgleichen. Schon beim Stand von 7 Millionen ausländischen Einwohnern, darunter 3 Millionen Muslimen, sei die kulturelle Einbürgerung nur sehr unzureichend zustande gebracht worden. "Wer die Zahlen der Muslime erhöhen will", schreibt er, "nimmt eine zunehmende Gefährdung unseres inneren Friedens in Kauf". Ein ähnliches Motiv liegt seiner Ablehnung der türkischen EU Mitgliedschaft zugrunde, wie er überhaupt die hastige, zu schnelle Ausdehnung der Europäischen Union nach Osten für einen Fehler hält - wegen der dadurch reduzierten inneren Handlungsfähigkeit der EU, aber auch wegen Russland. Er rät zu einer behutsameren Gangart des Westens gegenüber Moskau, spart nicht mit Kritik an imperialen Tendenzen Amerikas, das noch lange die Führungsmacht des Westens sein werde, und warnt eindringlich vor dem törichten Antiamerikanismus, der in Deutschland wie Europa grassiert. Falsche Bescheidenheit konnte man Helmut Schmidt noch nie vorwerfen. Doch seiner Beobachtung über den bedrohlichen Mangel an ökonomischer Kompetenz bei Politikern wie Öffentlichkeit ist nicht zu widersprechen. Er begreift dies als bedrohliches Defizit:

    Nur bei Kenntnis sozialer und ökonomischer Zusammenhänge ist es möglich, vernünftige politische Entscheidungen zu treffen ... Die öffentliche und veröffentlichte Meinung konzentrieren ihre Aufmerksamkeit fast immer nur auf einzelne Probleme. Wechselseitige Abhängigkeiten bleiben zumeist außerhalb der Betrachtung. Den meisten Politikern bleiben die ökonomischen Zusammenhänge auch bei langer politischer Betätigung verschlossen.
    Unkenntnis aber erhöht das Risiko, durch falsche Propheten verführt zu werden und Psychosen zu erliegen. Schmidt denkt dabei nicht nur an Lafontaine und die "Linken". Man spürt seinen Zorn, wenn er sich gegen die falschen Parolen von Globalisierungsgegnern wendet, die auf viel Zustimmung selbst bei konservativen Zeitgenossen stoßen. Kein Land sei mehr verflochten mit der Weltwirtschaft als Deutschland, das sich längst in ein Dienstleistungsland verwandelt habe. Der Sektor mache bereits mehr als 70 Prozent des Bruttosozialprodukts aus - im übrigen sei dieser Prozess typisch für reife Industriegesellschaften, wobei Amerika und Großbritannien auf dem Weg schon weiter vorangekommen seien, "der gelegentlich mit dem irreführenden und Angstmachenden Begriff "Entindustrialisierung" bezeichnet werde. Schmidt erinnert daran, dass alle Auf- und Abschwünge der deutschen Volkswirtschaft seit den 60er Jahren durch außenwirtschaftliche Faktoren ausgelöst und durch innerstaatliche, strukturelle Verhärtungen lediglich gesteigert worden seien. Mit anderen Worten: Es gibt keine Alternative zur Globalisierung und schon gar nicht besteht die Möglichkeit, sich hinter nationale Barrieren zu verschanzen und zugleich den erreichten Lebensstandard zu bewahren.

    Je zaghafter und zögerlicher die politische Klasse handelt, desto mehr wird sich der unausweichliche Strukturwandel ungeplant, und zufällig, vielleicht sogar chaotisch vollziehen.
    Andere Gefahren für Deutschland, die Schmidt benennt, sind Resultat seiner Geschichte, seiner Kleinstaaterei und dem dadurch verzögerten Durchbruch von Aufklärung und langsam eingeübter Demokratie. Das fördere die Neigung, irrealen Idealvorstellungen über den demokratischen Prozess anzuhängen:

    Unerfahren in Demokratie neigen einige unter uns dazu, ihre Schwächen als Kennzeichen prinzipieller Unzulänglichkeit anzusehen. Viele Deutsche müssen erst noch lernen, dass die Demokratie überall auf der Welt mit Versuchungen, Defiziten und Irrtümern behaftet ist, dass sie aber tatsächlich die bei weitem beste Regierungsform darstellt... Wer Demokratie übermäßig idealisiert, läuft Gefahr, dass er andere, die zunächst allzu gläubig sind, einer späteren bösen Enttäuschung aussetzt - und sie sich in Antidemokraten wandeln.
    Eine besondere Qualität Helmut Schmidts ist es, Zeit seines Lebens aus vielen Quellen geschöpft und auch noch im hohen Alter, in dem sich die meisten Menschen zur Ruhe setzen, weiter entwickelt zu haben. Als junger Mensch beeindruckten ihn Erich Maria Remarque, dessen Schilderungen des Krieges ihn schaudern ließ, und Oswald Spenglers "Untergang des Abendlandes", dessen quasi biologische These von Wachsen, Blütezeit und Niedergang einer Kultur ihm einleuchtete. Seine Ratschläge, auf langjährige Erfahrung gestützt, besitzen Gewicht gerade auch in der Außenpolitik: anderen, auch befremdlichen Stimmen zuhören, selbst mit Diktatoren sprechen, die eigene Nation von außen anschauen, um neue Einsichten und Maßstäbe zu gewinnen. Religiöse Toleranz hält er für unerlässlich. Doch ethische Lehren und Grundsätze müssten nicht an eine Religion gebunden sein, wenn nur der einzelne sich seiner Vernunft und dem Prinzip der Mitmenschlichkeit verpflichtet wisse. Helmut Schmidt hat in den 70er Jahren einmal gesagt, ein Regierungschef habe viel erreicht, wenn er Hunger und Krieg von seiner Nation habe abwenden können. Er wurde für seinen "abgemagerten Politikbegriff" und für den Mangel an Vision kritisiert. Die Rückkehr der Geschichte in diesem Jahrhundert beweist, wie wenig seine Kritiker verstanden haben.

    Helmut Schmidt: außer Dienst - Eine Bilanz. Das Buch ist im Siedler Verlag erschienen, hat 352 Seiten und kostet 22,95 Euro.