Dienstag, 16. April 2024

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Am Alexanderplatz vor 30 Jahren
Letzter Kampf für eine andere DDR

Die Großdemonstration auf dem Alexanderplatz in Berlin am 4. November 1989, heute vor 30 Jahren, war Teil des fröhlichen, fast leichtfüßigen Aufbruchs kurz dem Mauerfall. Die Forderungen der Rednerinnen und Redner galten jedoch nicht der deutschen Einheit, sondern der Einhaltung der DDR-Verfassung.

Von Vladimir Balzer | 04.11.2019
Menschenmenge bei einer Kundgebung auf dem Alexanderplatz
Am 4. November 1989: Demonstration auf dem Alexanderplatz, veranstaltet von den Kunst- und Kultur- schaffenden der DDR (picture alliance / akg)
Was für ein Anblick. 500.000 Menschen auf dem Berliner Alexanderplatz. Freie Menschen auf freiem Grund. Die erste genehmigte nicht staatliche Demonstration in der DDR. Es war die größte, die dieses Land je erlebt hat.
Gerufen hatten Ostberliner Theaterleute. Unter anderem die Schauspielerin Marion van de Kamp.
"Die Straße ist die Tribüne des Volkes, überall dort wo es von den anderen Tribünen ausgeschlossen wird."
Die Theaterleute waren akzeptiert, weil sie weder Dissidenten noch Funktionäre waren, sondern als Künstler eine gewisse Unabhängigkeit verkörperten.
Dossier: 30 Jahre Mauerfall
Stefan Heym nutzte den Moment
Und die Forderungen an diesem Tag waren weder die Öffnung der Mauer noch die deutsche Einheit, sondern die Einhaltung der DDR-Verfassung, in der - auf dem Papier – Versammlungs- und Meinungsfreiheit garantiert waren.
Ein Schriftsteller wie Stefan Heym, der trotz aller Widrigkeiten in der DDR geblieben war, nutzte den Moment.
"Es ist als habe einer die Fenster aufgestoßen, nach all den Jahren der Stagnation, der geistigen, wirtschaftlichen, politischen. Den Jahren von Dumpfheit und Mief, von Phrasengewäsch und bürokratischer Willkür, von amtlicher Blindheit und Taubheit."
Alexanderplatz voller Menschen mit Verkehrsschild. . Es war die größte Protestdemonstration in der Geschichte der DDR. Von diesem Tag an konnte die SED-Führung an den Forderungen der Massen nicht mehr vorbeigehen. 
Nahezu eine Million Bürger versammeln sich am 4.11.1989 auf dem Alexanderplatz in Berlin-Mitte und demonstrieren friedlich für Veränderungen in der DDR (dpa-Zentralbild / Peter Kroh)
30 Rednerinnen und Redner. Und wie unterschiedlich. Schauspielerinnen, Musiker, Schriftsteller. Aber eben auch Funktionäre. Diese Demonstration hing noch einem alten Bild nach: "Wir" in der DDR sitzen doch alle in einem Boot. Es ist doch "unser" Projekt. Das glaubte jemand wie Günter Schabowkski, ja – der der fünf Tage später aus Versehen die Maueröffnung verkündete. Das Politbüromitglied dachte, seine SED sei Teil der Veränderung. Nein, sie war schon überholt worden.
"Die SED bekennt sich zur Umgestaltung. Das kam spät, aber es ist unwiderruflich. Wir lernen unverdrossen, mit Widerspruch, mit Pfeffer und Salz zu leben."
Er kam zu spät. Wenn überhaupt etwas aus dieser DDR-Geschichte, dann löste das Wort "Sozialismus" noch Hoffnungen aus. Jedenfalls bei Christa Wolf.
"Stell dir vor, es ist Sozialimus und keiner geht weg."
Nur die Pfarrer und Rechtsanwälte kamen in Frage
Es sprach auch der heutige Linken-Politiker Gregor Gysi, der später SED-Chef wurde. Einer der wenigen Rechtsanwälte, die diese DDR hatte. In einem Land ohne Rechtsstaatlichkeit hatten sie eine Art vermittelnde Rolle zwischen der Willkür des Staates und den übriggebliebenen Rechten des Einzelnen.
30 Jahre später erinnert er sich. "Ich als Rechtsanwalt spielte eine Rolle, weil man bei einem Machtwechsel Eliten braucht. Und da kamen in der DDR nur die Pfarrer und die Rechtsanwälte in Frage, weil die was mit Politik zu tun hatten. Weil die anderen nicht mehr gingen. Und das erklärt auch, warum so viele Pfarrer und Rechtsanwälte später im Bundestag so eine starke Rolle spielten. Das ist kein Zufall, das ist so bei solchen Umbrüchen."
Hunderttausende Bürger beteiligten sich an einer Demonstration am 04. November 1989, zu der Ost-Berliner Kunst- und Kulturschaffende eingeladen hatten. 
Gregor Gysi spricht bei der Demonstration in Ost-Berlin (dpa / Andreas Altwein)
All das fand in einer Art politischem Vakuum statt. Die alte DDR war vorbei. Der Westen noch nicht da. Das Volk war im Laufe weniger Tage zum Souverän geworden. Und probierte sich aus. Eine Zwischenzeit, die Westdeutsche in ihrem Land in dieser Form nie erlebt hatten.
Die Schauspielerin Jutta Wachowiak war Mitorganisatorin dieser Demonstration.
"Das ist für viele ein wundervoller Tag mit sehr viel Hoffnung verbunden, mit ganz vielen Vorschlägen wie man das jetzt hier machen könnte. Dass wir ein Land bauen, in dem sich alle wohlfühlen."
Dann kam der 9. November, die Mauer fiel. Der Westen kam in den Osten. Der Osten passte sich an.
Brüche und Enttäuschungen
Jemand wie Jutta Wachowiak, legendäre Schauspielerin des Deutschen Theaters in Ostberlin, erlebte einen Bruch, eine Enttäuschung im Blick auf den Westen.
"Dass da keiner davon ausging, dass man was Nützliches beisteuern kann. Das kann man nicht verzeihen! Da sind so viele Leute eingegangen. Es hätte den Schanzentisch gebraucht, auf dem das Ganze zu etwas vollkommen neuen loshopst. Dieses Risiko ist nicht eingegangen worden. Wir sollten alle so werden wie die. Ich sollte so spielen wie die. Ich soll mal mehr auf mich achten, nicht dick werden, schöner sein. Ich sollte so vieles über den Haufen werfen, was absolut wertvoll war für mich, dass ich das nicht über den Haufen geworfen habe. Und da stellt man sich wieder hinten an."
Demonstranten mit Transparent. Berlin erlebt an diesem Tag die größte Demonstration für eine andere DDR. Eine halbe bis eine Million Demonstranten ziehen durch die Innenstadt
Mit einem selbst gefertigten Transparent nehmen Teilnehmer der Massendemonstration am 4.November 1989 auf dem Berliner Alexanderplatz auch die offizielle DDR-Nachrichtenagentur ADN aufs Korn (dpa-Zentralbild /Thomas Lehmann)
Sie brauchte Jahre, um wieder Fuß zu fassen. Sie und viele andere Theaterleute hatten damals zu einer Demonstration aufgerufen, die etwas anderes nach sich zog, als sie wollten. Die Tage des fröhlichen, aufgeräumten, fast leichtfüßigen Aufbruchs – das war Mitte Oktober bis Mitte November 1989 – sie waren schnell vorbei. Die Enttäuschungen und Verletzungen dauerten deutlich länger.