Freitag, 29. März 2024


Am Anfang war das Wort

Wann haben Sie das letzte Mal jemandem vorgelesen? Ob Kind oder Partner - die Früchte des Vorlesens sind immens. Auch und obwohl man sie vielleicht nicht sofort erntet - denn natürlich ist Vorlesen auch Überwindung, mehr noch: sich selbst überwinden.

Von Florian Felix Weyh | 26.12.2009
    Ich machte es mir in den aufgetürmten Kissen bequem (meist am Abend, oft aber auch am Tag, weil mich das Asthma häufig für Wochen ans Bett fesselte) und hörte meinem Kindermädchen zu, das mir die furchterregenden Märchen der Brüder Grimm vorlas.

    ... erzählt der Literaturforscher Alberto Manguel in seiner "Geschichte des Lesens".

    Mal lullte mich ihre Stimme ein, mal versetzte sie mich in fieberhafte Erregung, und dann trieb ich sie zur Eile an, um schneller, als es der Autor beabsichtigt hatte, den Ausgang der Geschichte zu erfahren. Aber meistens genoss ich einfach nur das luxuriöse Gefühl, von den Worten entführt zu werden in eine ferne Welt – dies mit einer fast physischen Intensität, sodass ich tatsächlich dem wundersam fernen Ort entgegenschwebte, der am Ende der Geschichte auf mich wartete, auf der geheimnisvollen letzten Seite, in die ich kaum einen Lidschlag lang hineinzuschmulen wagte.

    "Meine Großmutter, die keine sehr gebildete Frau war und selber eigentlich überhaupt nicht gelesen hat, die hat – weil sie merkte, dass ich mich dafür interessiere – mir viele Bücher vorgelesen. Und ich glaube, sie hatte, bevor sie anfing mir vorzulesen, selber vielleicht in ihrem ganzen Leben nur zwei oder drei Bücher gelesen. Und als sie das dann machte, und ich immer sie bat und begeistert war, hat sie einfach ... durch dieses Vorlesen ist sie, glaub ich, selber so ein bisschen zur Leserin geworden."

    "Ich hab so ein Bild im Kopf, dass die an meinem Bett gesessen hat, weil ich im Liegen das so faszinierend fand, sie von unten zu sehen, ja? Ich konnte nicht aufhören, so auf ihren Mund zu starren, weil ich das immer so ein bisschen gruselig fand, dass das Gesicht von unten so komplett anders aussieht, fast gar nicht wie meine Mama! Das hat mich mehr beschäftigt als der Text."""Mein Vater hat mir als allererstes Buch, an das ich mich erinnern kann, "Pu der Bär" vorgelesen. Und das ist eine tolle Erinnerung für mich, wie mein Vater also möglichst die Figuren gespielt hat und die Pu-Bär-Lieder gesungen und gebrummelt hat, und das war also etwas ganz, ganz Tolles für mich.""

    Später, als ich neun oder zehn war, erklärte mir der Schuldirektor, dass das Vorlesen nur für kleine Kinder tauge. Ich glaubte ihm und verzichtete auf das Vorlesen, doch ich tat es auch deshalb, weil es mir eine so gewaltige Lust bereitete, und ich war damals gerade zur Überzeugung gelangt, dass alles, was Vergnügen macht, irgendwie schädlich sein muss.

    Nein, schädlich ist es bestimmt nicht, etwas vorgelesen zu bekommen, sonst dürfte man ja auch als ausgewachsener Student keine Universität besuchen, wo bis heute Vorlesungen zelebriert werden – und das, obwohl Professoren selten zu großartigen Interpreten ihrer eigenen Schriften zählen. Vorgelesen hat man zu allen Zeiten: Religiöse Texte, gesetzliche Verordnungen, Berichte und die schöne Literatur ... deren Qualität unsere Klassiker ganz maßgeblich nach ihrer Vorlesbarkeit beurteilten:

    Denken Sie einmal, dass mir seit einiger Zeit nichts mehr Vergnügen macht, als Gedichte zu schreiben, die man nicht vorlesen kann! Das ist denn doch, wenn man's genau besieht, ein pathologischer Zustand, von dem man sich je eher je lieber befreyen soll.

    ... schrieb Goethe 1810 an Charlotte von Schiller. Und über ihn selbst berichteten Zeitgenossen:

    Sein Vorlesen ist ein tieferes Donnern, vermischt mit dem leisesten Regengelispel; es giebt nichts Ähnliches.

    Gewiss, das Vorlesen unter Erwachsenen hat an Prestige gewaltig eingebüßt, doch unser Leben als literarisches Individuum beginnt nicht anders als zu Goethens Zeiten mit dem kindlich-gespannten Zuhören. Lange, bevor wir den ersten Buchstaben entziffern können, haben wir schon Wort um Wort Geschichten in uns aufgesogen, fremd klingende Ausdrücke klaglos akzeptiert, Sätze auf uns wirken lassen, die uns später schwarz auf weiß Respekt abnötigen: So lang und kompliziert hatten wir sie gar nicht in Erinnerung! Dieses Wunder kann sich ereignen, weil Vater oder Mutter, Großeltern oder ältere Geschwister ihr Können selbstlos zur Verfügung stellen. Und können muss man schon ein bisschen was als Vorleser. Oder etwa nicht?

    "... so kann ich auch vorlesen! Ist alles grammatikalisch richtig, ich bediene auch die Kommas und die Punkte, und es ist stinkelangweilig, und ich schwör dir, nach fünf Minuten hört mir keiner mehr zu. Weil ich nicht den Mut habe, in die Geschichte einzusteigen!"

    ... sagt Markus Hoffmann, der schon unzählige Sendungen als professioneller Vorleser bestritt, der Hörbüchern mit seiner Stimme prägte und auf Lesungen sein Publikum in den Bann schlug. Ob Profi oder Amateur, als Vorleser benötigt man eine gewisse Entschlossenheit, ja Mut – aber diese Tugend ist gerade bei Männern offensichtlich eher schwach ausgeprägt. Seit Jahr und Tag belegt die Forschung eine erschütternde väterliche Zurückhaltung, sodass sich die aktuelle "Vorlesestudie 2009" der Stiftung Lesen explizit mit diesen Verweigerern beschäftigt. Am schieren Informationsmangel liegt es kaum; dass Kinder diese Art von Zuwendung brauchen, ist auch bei Vätern unumstritten. Aber die Praxis macht den Unterschied. Ein Befragter diktierte dem Interviewer erfrischend ehrlich in die Feder:

    Ich finde es ungeheuer wichtig – deswegen versuche ich immer wieder, meine Frau zu motivieren, vorzulesen.

    Mangel erkannt, Problemlösung delegiert – dieses klassische Managerprinzip wollen wir in der Sendung ein bisschen unterlaufen, getreu der Erkenntnis, dass Lernen am Rollenvorbild das beste Ergebnis verspricht. Entgegen aller statistischen Wahrheit kommen deshalb mehr vorlesende Männer als Frauen zu Wort. Vielleicht regt das zur Nachahmung an. Manche von ihnen trauen sich sogar, vor großen Gruppen aufzutreten.

    Harald Martenstein liest vor Schülern einen kurzen Ausschnitt aus "Der geheime Garten" von Frances Hodgson Burnett.

    "Kinder sind zunächst mal viel faszinierter, und dann nach wenigen Minuten ungeduldiger! Also es sind sozusagen extremere Zuhörer! Die hören einem mit mehr Begeisterung zu als die Erwachsenen, die sind aber auch schneller gelangweilt und geben ihre Langeweile dann aber auch klar zu erkennen. Also Höflichkeit ist da weniger verbreitet als bei uns Erwachsenen."

    Harald Martenstein, Journalist, Kolumnist, Romancier, geht wie viele andere Prominente alljährlich zum "bundesweiten Vorlesetag" Ende November in Schulen oder Kindergärten. Er tut das aus Überzeugung, weil es ihm Spaß macht ... und weil er es gut kann! Seinen Roman "Heimweg" hat er 2007 selbst mühelos auf CD eingelesen, schreibt diesen Umstand aber keineswegs einem überragenden Naturtalent zu, sondern langjährigem Ausdauertraining als Vater eines Sohnes:

    "Ich hab viel vorgelesen. Das ist wahrscheinlich meine Schule gewesen. Ich habe die drei ersten Bände von Harry Potter vorgelesen. Die wurden ja von Band zu Band länger, diese Bücher. Der dritte hatte dann so was wie 800 Seiten oder schon 1000, ich weiß es nicht mehr. Auf jedem Fall hab ich ihm nach diesem Band gesagt: "Jetzt ist Schluss! Den vierten Harry Potter kriegst du nicht mehr vorgelesen! Den musst du schon selber hinkriegen." Den hat er dann nicht mehr gelesen. Ist das nicht deprimierend? Das Hörbuch gab es noch nicht. Er wollte Harry Potter haben und wollte es nicht selber lesen! Vielleicht wäre es pädagogisch richtig gewesen zu sagen: "Wenn du ihn kennen willst, dann lies ihn gefälligst!" Aber da war mein Herz zu weich ... ich hab's ihm dann vorgelesen."

    Das weiche Herz forderte indes seinen Preis beim Vortragenden:

    "Danach kam nichts mehr. Dieser dicke Harry-Potter-Band hat mich so fertiggemacht, dass ich nicht mehr vorlesen wollte!"

    Aber das, liebe Väter, ist kein Automatismus! Man muss ja nicht gleich in der Schwergewichtsklasse "Harry Potter" anfangen. Kleine Kinder nehmen mit dünnen Werken vorlieb, und später kommen dann die ganzen Kinderbuchklassiker von Astrid Lindgren bis Erich Kästner, von Enid Blyton bis Otfried Preußler. Allesamt leicht portionierbar, weswegen sie beim Vorlesewettbewerb des "Börsenvereins des Deutschen Buchhandels" seit Jahrzehnten die vordersten Beliebtheitsränge einnehmen. Einer weiß davon zu erzählen.

    "Das war unsere Konkurrenz sozusagen, wir waren bei beiden Sendern in Berlin, beim Sender SFB und beim RIAS, und da war ich bei vielen Sendungen mit dabei mit vielen anderen Kindern. Und was sehr schön war: Wir haben viele Sachen kennengelernt, und das hat das Weltbild eines Kindes ganz, ganz entscheidend verändert. Und das hat sehr, sehr viel Spaß gemacht. Und mit etwas, was heute vielleicht viele denken, hatte es nichts zu tun: mit Geld oder Honorar."

    Bodo Sengebusch ist ein alter Hase. Vor 50 Jahren, im Sommer 1959, trug er als erster Bundessieger den Titel "bester deutscher Vorleser" nach Hause. Der damals 13-Jährige hatte freilich schon Erfahrungen im Kinderfunk gesammelt, und Bücher waren seine besten Freunde. Über 15 Millionen ähnlich enthusiasmierter Kinder – die Mehrzahl allerdings Mädchen – haben seither an diesem Wettbewerb teilgenommen, dessen ursprüngliches Motto heute wie eine Karikatur der 50er-Jahre-Pädagogik wirkt:

    "Viel lesen, dabei gut auswählen und durch Vorlesen Aussprache und Stil pflegen!"

    Bodo Sengebusch hat sich damals nicht abschrecken lassen und ist auch später dem Vorlesen treu geblieben, als Juror im Wettbewerb wie in seinem Beruf als Lehrer. Allerdings nicht, wie man vermuten könnte, mit Schwerpunkt Deutsch, Theater oder Musik, sondern als Physiklehrer. Das hatte durchaus seinen Grund:

    "Ich wollte ursprünglich auch mal Deutschlehrer werden, hab das aber dann sein gelassen, weil ich ein Erlebnis in der Schule hatte: Ein Lehrer hat sehr engagiert eine Geschichte vorgelesen, und die Klasse hat sich gelangweilt, Karten gespielt, und der ist dann entnervt rausgegangen. Und das hätte mir auch so gehen können, weil ich die Geschichten dann, die ich vorlese, auch liebe und mag. Aber ich habe als Physiklehrer vor den Ferien meistens etwas vorgelesen, und häufig, was sie dann doch sehr verwundert hat, Gedichte! Und auch Gedichte, was man einem Physiklehrer vielleicht gar nicht zutraut, von Rilke oder ähnlich Romantisches, wo die Sprachmelodie also eine große Rolle spielt."

    Herbsttag
    Herr, es ist Zeit. Der Sommer war sehr groß.
    Leg deinen Schatten auf die Sonnenuhren,
    und auf den Fluren lass die Winde los.
    Befiehl den letzten Früchten, voll zu sein;
    gib ihnen noch zwei südlichere Tage,
    dränge sie zur Vollendung hin, und jage
    die letzte Süße in den schweren Wein.
    Wer jetzt kein Haus hat, baut sich keines mehr.
    Wer jetzt allein ist, wird es lange bleiben,
    wird wachen, lesen, lange Briefe schreiben
    und wird in den Alleen hin und her
    unruhig wandern, wenn die Blätter treiben.


    "Ich liebe aber bei Gedichten unter anderem auch die Persiflagen, also nicht nur bei der Glocke "Loch in Erde, Bronze rin, Glocke fertig, bimbimbim!", nein sondern es darf auch ausführlicher sein! Und es heißt: "Herbsttag für Katzen":

    Herr, es ist Zeit. Der Hunger ist sehr groß.
    Leg auf den Teller mir zwei Lachsforellen
    und in die Schüssel einen Hackfleischkloß.
    Befiehl den Kindern, nicht herumzuschreien!
    Ich speise gern bedächtig und in Ruhe,
    denn ich tu voller Andacht, was ich tue.
    Erfüllte Leere im bewussten Sein.
    Wer jetzt sein Futter kriegt, braucht keines mehr.
    Wer jetzt sich sattfrißt, wird es lange bleiben,
    wird schlafen, spielen, sich die Zeit vertreiben,
    und zwischen Tischen wandern hin und her
    geduldig, wenn die Menschen Briefe schreiben.
    [Sabine Hübner: "Herbsttag für Katzen"]"

    So klingt der engagierte Amateur Bodo Sengebusch – doch was erwartet er in seiner Funktion als Juror des Vorlesewettbewerbs von den mutigen jungen Teilnehmern?

    "In der Jury gibt es immer wieder eine unterschiedliche Betrachtungsweise. Man kann ja Lesen für andere sehr stark rollenspielend, ein bisschen wie ein Schauspieler, das sehr betont machen, oder eben ruhiger und sachlicher lesen. Da sind die Meinungen da drüber auch sehr unterschiedlich, weil sehr schauspielerhaftes Lesen in Rollen häufig als sehr eingeübt betrachtet wird und nicht so gern gesehen wird."

    Freilich sind das schon Mängelrügen an eine Elite, nämlich an solche Kinder, die bereits so gute Leser sind, dass sie sich in die Öffentlichkeit trauen. Andere muss man erst zu Lesern machen, und das tut man am besten durch regelmäßiges Vorlesen:

    "Jedes Mal, wenn Sie und Ihr Kind sich mit einer heißen Schokolade bewaffnet auf Ihre Leseinsel zurückziehen, bringen Sie auch ein bisschen Wasser für eine Pflanze mit. Diese haben Sie zuvor gemeinsam aus einem Samen gezogen und gießen sie nun regelmäßig. Das positive Gefühl, das Ihr Kind beim Vorlesen erlebt, wird so verstärkt."

    ... empfiehlt die Journalistin Katrin Müller-Walde in ihrem Buch "Warum Jungen nicht mehr lesen":

    Die Pflanze wächst langsam, aber bestimmt. Im Grunde ist sie nichts anderes als der Ausdruck Ihrer steten Zuwendung zu Ihrem Kind. So wie Sie Ihrem Kind vorlesen, wird es sich seinerseits liebevoll um die Pflanze kümmern. Seine Erfahrung: Es lohnt sich, sich in andere hineinzuversetzen, seien es nun Pflanzen, Bücher, fiktive Figuren oder Menschen. (...) Geschichten, die Sie vorlesen, können Sie auch auf Kassette mitschneiden, um sie später abzuspielen, wenn Sie einmal nicht da sind. Kinder lieben Hörspielkassetten und hören eine Geschichte gern mehrfach hintereinander.

    "Die haben vorgelesen und gleichzeitig ein Tonband, also eine Kassette mitlaufen lassen, und das wurde uns dann auf ewig langen Autofahrten vorgespielt. Also das war sozusagen das Hörbuch vor dem Hörbuch, weil die als Erwachsene – und das kann ich auch gut verstehen – diese Kinderhörspiele vollkommen unerträglich fanden. Aber ihre eigene Stimme ... also ich würde meine eigene Stimme auch unerträglich finden hier auf dem Tonband. Aber das haben die gemacht!"

    ... erinnert sich der Literaturwissenschaftler David Oels an die Tricks seiner Eltern. Heute ist der Vater zweier Töchter und eines Sohnes selbst ein passionierter Vorleser, einerseits ... andererseits aber auch, qua Ausbildung zur analytischen Lektüre, ein kritischer Leser. Soll er die Maßstäbe, die er im beruflichen Alltag an Texte anlegt, abends vor dem Bett der Kinder über Bord werfen? Muss er wohl ... zähneknirschend:

    "Ich kenn bei bestimmten Bilderbüchern Sätze, die einfach vorgelesen überhaupt nicht funktionieren, weil die syntaktisch so sind, dass man eigentlich die Satzzeichen vor sich braucht. Oder wörtliche Rede, Anfang, Ende, mit einer Inquit-Formel. Sehr schwierig! "Sagte er, fragte er" ... wenn das mittendrin kommt, und das gibt's ja: "Nein, sagte er, das ist soundso" ... und wenn dann direkt eine andere wörtliche Rede sich anschließt, von einer anderen Person, sehr schwer vorzulesen!"

    "Da haben wir auch so ein Buch, wie heißt der denn, "Schnuddel" oder so ein kleiner Schnuddel ... grauenhaft! Das heißt nicht 'Schnuddel', das Buch, aber da denk ich auch immer: 'Oh Gott, wie les ich das jetzt vor, damit wir da alle Spaß dran haben?' Das ist zum Vorlesen denkbar ungeeignet!"

    "Winnie Pu beispielsweise ... sehr kompliziert auch vorzulesen! Find ich, vom Rhythmus und von der Syntax her. Und da bin ich oft in Sätze reingefallen, die ich dann einfach anders beenden wollte, als sie tatsächlich zu beenden waren. Und dann, das kennt man ja: Man bleibt dann irgendwie in der Satzmelodie hängen und stocken und weiß dann nicht: Muss ich jetzt noch das irgendwie zu Ende bringen? Meistens überspiel ich das, versuch ich's für meine Kinder zu überspielen."

    "Oder mich regt auf, wie die gesetzt sind! Also ich find die Grafik schön und alles und denke: "Oh, mein Gott, wer hat denn da den Text so brutal reingesetzt?" Und nicht auch daran gedacht, dass der die Seite mitgestaltet? Vielleicht ist es auch deshalb so, dass ich sehr, sehr gerne reine Bilderbücher ankucke."

    Cordula Erk arbeitet als Grafikerin, und vor allem bei Bilderbüchern gehen die Vorlieben von Eltern und Kindern meist weit auseinander. David Oels, der sich professionell mit Sachbuchforschung befasst, fühlt sich von einer, seinem Forschungsgegenstand verwandten Textsorte nachgerade gemartert:

    "Ich finde es unerträglich, diese Aufklappbücher vorzulesen, die sind so textreich! Und die sind so mit Informationen voll. Mein Sohn liebt das, die vorgelesen zu haben. Auch die Töchter, nicht so intensiv, aber die haben es auch geliebt, und ich finde es unerträglich, das vorlesen zu müssen! Aber es kommt gut an, auch wenn ich betont völlig gelangweilt lese, um sozusagen Wiederholung zu vermeiden, aber selbst das ist egal! 'Kannst nicht mal wieder?' Ja, nein, ja .... gut, okay!"

    Nun wollen wir aber gar nicht hören, wie man Texte schlecht liest, um sie möglichst nie mehr vortragen zu müssen – eine typische, wenngleich meist wirkungslose elterliche Finte –, sondern wie man Texte so serviert, dass ihnen das junge Publikum gebannt lauscht. Markus Hoffmann, der Profi-Vorleser hilft da mit ein paar Tipps weiter:

    "Wir leben von Bildern. Worte sind ja uninteressant, solange sie nicht im Hörer Bilder hervorrufen. Und das ist ja meine Aufgabe als Interpret: Ich schreib ja nicht den Text, aber ich bin derjenige, der dem Hörer die Möglichkeit gibt, in die Bilder, die hinter diesem Text stecken, einzusteigen."

    "Satzzeichen sind sehr wichtig! Was heute leider nicht mehr so viele Leute können, gute Satzzeichen, und ich halte die für sehr wichtig. Wenn ich einen Text vorbereiten kann, mache ich mir ja auch Zeichen in den Text! Ich mach mir Betonungszeichen, ich mach mir Pausenzeichen, ich mach mir Schwebepausezeichen. Dann mach ich mir zum Beispiel, wenn ich einen Satz sage, auf den ich komme, und nebenher einen anderen Gedanken hab, und dann geht eigentlich der Hauptsatz erst weiter, dann setz ich zum Beispiel diesen Nebengedanken, in dem oft die wichtige Information des Autors steckt, mach ich mir dann aber trotzdem zum Beispiel in Klammern. Dann weiß ich einfach, okay jetzt kommt eine Parenthese, also ein gedanklicher Einschub, und den hebt man natürlich sprachlich anders ab."

    "Ich möchte die Haltung des Erzählers spüren. Das heißt, seinen Mut Entscheidungen zu fällen! Wie ich eine Rolle anlege, worauf ich als Erzähler wert lege, was ich wichtig finde im Text. Also wo ich eventuell durch eine kleine Pause ... eine Bedeutung reinlege und dann vielleicht normal weitererzähle, oder Höhen/Tiefen reinbringe, die einfach einen Text plastisch und dadurch erfahrbar machen."

    "Je besser ich einen Text strukturiere von der Klarheit des Gedankens und dann natürlich auch von der Schönheit der Bilder, zu denen ich anrege, umso besser verständlich ist ein Text!"

    Und das wollen wir jetzt auf die Probe stellen, an einem einfachen Beispiel:

    So schaffst du es, dass dein Vater mit dir liest. Zehn goldene Tipps für Söhne. Von Jonny Wilkens:
    1. Zwinge nie deinen Vater, etwas zu lesen.
    2. Bitte ihn, dir etwas vorzulesen, was er spannend findet.
    3. Zeige ihm, was er lesen kann: das Bierflaschenetikett, die Betriebsanleitung der neuen Spielkonsole, die TV-Zeitschrift, den Medikamentenzettel, den ausgelesenen Comic von dir.
    4. Lies ihm selbst ab und zu etwas vor, zum Beispiel dein Zeugnis oder deine Bewerbungsunterlagen zum nächsten Casting.
    5. Schenke ihm zum Geburtstag ein Buch mit großer Schrift und vielen Bildern zu seinem Lieblingsthema.
    6. Versprich ihm ein Eis oder einen Besuch seines Lieblingsvereins, wenn er eine halbe Stunde pro Tag liest.
    7. Lege ihm alle zehn Seiten ein leckeres Steak zwischen die Seiten.
    8. Lies mit deinem Vater um die Wette: Wer in einer Woche mehr Buchseiten gelesen hat, darf den anderen im Schwimmbad vom 10-Meter-Turm schubsen.
    9. Sage ihm, dass seine Frau (deine Mutter) das Buch, das er lesen soll, für billigen Schund hält.
    10. Verzweifle nicht, wenn dein Vater trotz all deiner Bemühungen nicht lesen will. Er wird es überleben. Und du auch. [Aus: Johnny Wilkens: "Wie man einem Außerirdischen begegnet, ein Floß baut und in der Wildnis überlebt]


    Die Sache mit dem Steak scheint beherzigenswert, denn der Geruch von Essen vermag Männer zu jeder Tages- und Nachtzeit aufzuwecken. Das nämlich ist ein beinahe genauso großes Problem wie der nicht lesende Vater: der von bleierner Müdigkeit überwältigte, mechanische Sprechautomat am Kinderbett – übrigens nicht ausschließlich männlichen Geschlechts:

    "Das gibt es auch! Dass man sozusagen innerlich abschaltet, die Lippen bewegen sich, Geräusche kommen heraus, man liest vor, aber man denkt währenddessen an was anderes. Das ist mir auch schon passiert!"

    "Das ist fürchterlich, dass es den Hörern nicht auffällt! Als mir das das erste Mal passiert ist, war es ein fürchterliches Erlebnis, dass offensichtlich – das war dann noch meine Tochter – dass es ihr nicht aufgefallen ist, dass ich nicht mehr wusste, über zwei Seiten, was hab ich da jetzt eigentlich gelesen? Schlimm! Dass das geht, ist schlimm. Aber es scheint zu funktionieren."

    "Das ist ja auch ein interessantes Gehirnphänomen, dass man in der Lage ist, mit einer Hirnhälfte was vorzulesen, während man sich mit der anderen Hirnhälfte überlegt, was man einkaufen muss gleich."

    Doch wie bei vielen anderen Dingen des Lebens wächst auch beim Vorlesen der Genuss mit der Konzentration. Wer weiß, was er tut, nimmt für sich selbst etwas mit. Der aus Argentinien stammende Leseforscher Alberto Manguel las als Gymnasiast dem blinden Dichter Jorge Luis Borges stundenlang vor und erinnert sich:

    "Ich entdeckte Texte, indem ich sie laut vorlas, und Borges tat mit den Ohren, was andere mit den Augen tun: Er nahm die Seite in sich auf, um nach einem Wort, einem Satz oder einer Passage zu suchen, die in seinem Gedächtnis eine Spur hinterlassen hatten. Dem blinden alten Mann vorzulesen war eine sonderbare Erfahrung, denn obwohl es mir vorkam, als bestimmte ich mit einiger Mühe Tonfall und Tempo des Lesens selbst, machte er, der Zuhörer, sich zum Herrn des Textes. Ich war sein Chauffeur, aber der Raum, der sich vor uns entfaltete, gehörte ihm, dem Fahrgast, der nichts weiter zu tun hatte, als die Landschaft in sich aufzunehmen."

    "Ein interessantes Phänomen beim Vorlesen für Kinder ist ja, dass man, wenn man ein Kind großgezogen hat, irgendwann so einen Vorrat von so ganz schlichten Kleinkinderbüchern hat, die man auswendig kann! Das ist dann ein ganz anrührender Moment, wenn das Kind dann groß ist und man irgendwann sortiert, und einem diese allerersten Vorlesebücher wieder in die Hand fallen, Jahre später man diesem Text wiederbegegnet und denkt: 'Ach, das hab ich ja auswendig gekonnt, das hab ich bestimmt fünfzig, ach hundertmal vorgelesen.' Das ist ein ganz sonderbarer Moment! Ein trauriger eigentlich, weil man sich dann zurückerinnert, wie schön das gewesen war, mühsam natürlich auch ... aber eben auch schön!"


    Zitierte Literatur:
    Sabine Hübner: "Goethe für Katzen. Schnurrige Gedichte und Volkslieder", Eichborn Verlag, Frankfurt a.M. 2002
    Alberto Manguel: "Eine Geschichte des Lesens", Verlag Volk&Welt, Berlin 1998
    Katrin Müller-Walde: "Warum Jungen nicht mehr lesen", Campus Verlag, Frankfurt a.M. 2005
    Jonny Wilkens: "Wie man einem Außerirdischen begegnet, ein Floß baut und in der Wildnis überlebt: 93 Abenteuer für Entdecker und ganze Kerle", Beltz Verlag, Weinheim 2009
    Stiftung Lesen: "Vorlesestudie 2009: Warum Väter nicht vorlesen", Mainz 2009

    Weiterführende Lektüre:
    Cem Özdemir (Hg.): "Abenteuer Vorlesen. Ein Wegweiser für Initiativen", Edition Körber-Stiftung, Hamburg 2002