Donnerstag, 28. März 2024

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Am Ende des Archipels

Karrieren wie die des Alfred Russel Wallace konnte es wohl nur geben, als die modernen Wissenschaften noch jung waren: Er zählt zu den Autodidakten, die durch ungeheuren Einsatz auch ohne formale Ausbildung zu Spitzenforschern avancieren konnten. Alfred Russel Wallace war ehrgeizig und sehr talentiert - und äußerst leidensfähig, wie er auf seinen ebenso abenteuerreichen wie beschwerlichen Reisen unter Beweis stellen sollte.

Rezension: Dagmar Röhrlich | 13.10.2013
    Gelohnt hat sich sein Einsatz allemal: Er wurde zum Mitentdecker der Evolution, des Prinzips des Artenwandels durch natürliche Auslese - und er war einer der Begründer der Biogeographie, also der Wissenschaft von der räumlichen Verbreitung der Arten und der Frage nach dem warum.

    Geboren 1823 in Wales, entstammte Alfred Russel Wallace einer verarmten Mittelklassefamilie. Deshalb musste er mit 13 Jahren die Schule verlassen und sich in London als Bauhandwerker durchschlagen. Er begann - gemeinsam mit seinem Bruder William - eine Karriere als Landvermesser und entwickelte in dieser Zeit seine Leidenschaft für Geologie und Biologie. Als das Vermessergeschäft nicht mehr viel abwarf, wurde er Lehrer. In dieser Zeit lernte er den begeisterten Insektensammler Henry Walter Bates kennen. Auch Bates war Autodidakt, und auch er sollte ein bekannter Wissenschaftler werden. Die Reisebeschreibungen von Charles Darwin und Alexander von Humboldt wiesen den beiden den Weg, und als sie dann noch die damals sehr populären, anonym erschienenen "Vestiges of the Natural History of Creation" (zu deutsch: Spuren der Naturgeschichte der Schöpfung) lasen, stand für sie fest: Sie wollten herausfinden, wie Arten entstehen.

    Thema der Vestiges, die - wie man heute weiß - der schottische Verleger und Autor Robert Chambers geschrieben hatte - war, dass sich Kosmos und Leben ohne göttliches Eingreifen entwickeln. Chambers Ideen waren eher krude und schlecht begründet und veranlasst Charles Darwin dazu, seine eigene Theorie noch besser zu durchdenken und wissenschaftlich zu unterfüttern. Wallace jedoch machte das Werk zu einem überzeugten Evolutionisten: Es bestimmte von da an seinen weiteren Lebensweg, den der Berliner Biologe Matthias Glaubrecht nun in der ersten deutschsprachigen Biographie des Forschers mit viel Liebe zum Detail und großer erzählerischer Begeisterung nachgezeichnet hat.

    1847 entschieden sich Wallace und sein Freund Bates, auf den Spuren von Humboldt den Amazonas zu bereisen, um den Ursprung der Arten zu erforschen und sich ihren Unterhalt durch das Sammeln von Insekten zu verdienen. Im viktorianischen England war das eine durchaus erfolgversprechende Geschäftsidee. Damit begann die Reisephase im Leben der beiden. Alfred Russel Wallace war die nächsten 14 Jahre - von einem 18-monatigen Aufenthalt in London abgesehen - unterwegs: zunächst am Amazonas, später dann im Malaiischen Archipel.

    Wallace treibt die Frage an, wie Arten sich entwickeln und neue entstehen. Er beobachtet genau, untersucht, vergleicht und erkennt. 1855 entstand seine erste große Veröffentlichung zu diesem Thema, der Sawarak-Artikel. In dem beschrieb er am Bild eines Stammbaums, dass jede Art räumlich und zeitlich aus einer vorher existierenden, nahe verwandten Art hervorgeht. Er stand in Kontakt mit Charles Darwin, der nun wusste, dass ihm ein anderer Forscher auf den Fersen war. Noch fehlte Wallace jedoch der Mechanismus, die treibende Kraft. Auch das erkannte Darwin, der nun jedoch auf Anraten seiner Freunde - allen voran der damals führende Geologe Charles Lyell - damit begann, seine eigene Theorie schriftlich zu formulieren. Auch Wallace setzte seine Suche fort - und wurde fündig: Es muss die Umwelt sein, die bei diesem allgegenwärtigen Kampf ums Dasein die Auswahl trifft. 1858 schickte er den Ternate-Aufsatz an Darwin mit der Bitte, er möge die Arbeit prüfen und - sofern sie es wert sei - an den ihm unbekannten Charles Lyell weiterleiten: Was Darwin da las, war für ein Schock, glichen die Erkenntnisse doch sehr seiner eigenen, jahrzehntelangen Forschung. Und in London trafen Darwins Freunde das "delikate Arrangement", dass beide Artikel bei der Sitzung der Linnaean Society verlesen wurden.

    Im Folgenden widmet sich Matthias Glaubrecht ausführlich der Diskussion, ob Darwin auf Kosten von Wallace versucht hat, seinen Vorrang zu retten. Es geht um verschwundene Briefe und die Dauer des Postwegs: ein Krimi eingebettet in die Erzählung eines abenteuerlichen Forscherlebens. Entscheiden lässt sich der Vorwurf nicht: Es gibt nur Verdachtsmomente, keine handfesten Beweise. Und: "Im Zweifel für den Angeklagten" - urteilt der Autor. Wallace jedenfalls scheint nicht verbittert gewesen zu sein, im Gegenteil: Er ließ Darwin immer den Vortritt. Mit seinem Rivalen Darwin verband ihn schließlich eine Freundschaft, und er schrieb sogar das Buch, das den Begriff "Darwinismus" prägte.

    Nun war Wallace jedoch kein weißer Ritter in schimmernder Rüstung. Er hatte auch ausgesprochen unsympathische Züge. Da war etwa seine unstillbare Jagdgier, die weit über das bei Naturforschern seiner Zeit übliche hinausging und die es schwer macht, ihn nicht trotz seiner Leistungen abzulehnen. Matthias Glaubrecht spart auch nicht aus, dass sich der Waliser in seinen späteren Jahren dem im 19. Jahrhundert in England so modernen Spiritismus zuwandte: vielleicht, weil er Kontakt zu seinen früh verstorbenen Kindern herstellen wollte. Außerdem nahm er schließlich - anders als zu Beginn der Forschung - den Menschen aus der Evolution aus, ein Umstand, über den Darwin entsetzt war.

    "Am Ende des Archipels - Alfred Russel Wallace" ist spannend und farbig geschrieben, zieht den Leser in den Bann. Eigentlich gibt es nur eine Kritik: Ein wenig mehr Hintergrund zum allgemeinen Wissensstand dieser Zeit hätte nicht geschadet. Aber das ist schon Mäkelei: Das Buch ist sehr empfehlenswert und mitreißend zu lesen.

    Matthias Glaubrecht: Am Ende des Archipels. Alfred Russel Wallace
    ISBN: 978-3-86971-070-9
    Galiani Verlag, 442 Seiten, 24,99 Euro