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"Am Ende wird Joachim Gauck die richtige Entscheidung gewesen sein"

Dass sich Angela Merkel letztlich auf Joachim Gauck als Kandidat für das Amt des Bundespräsidenten eingelassen hat, werde ihr nicht schaden, sagt der SPD-Fraktionsvorsitzende Frank-Walter Steinmeier. Es zeige aber, dass die Spannungen in der schwarz-gelben Koalition größer werden.

Frank-Walter Steinmeier im Gespräch mit Frank Capellan | 26.02.2012
    Frank Capellan: Herr Steinmeier, es geht turbulent weiter auch zu Beginn des Jahres 2012. Hätten Sie es vor einer Woche für möglich gehalten, dass ausgerechnet Phillip Rösler gegen den Willen der Kanzlerin den rot-grünen Präsidentschaftskandidaten Joachim Gauck durchsetzen würde?

    Frank-Walter Steinmeier: Ja, in der Tat, es ist nicht nur turbulent, sondern auch hoch spannend mit Blick auf das zurückliegende Wochenende und einer wahrscheinlichen Vorentscheidung für den zukünftigen Bundespräsidenten. Ich freue mich natürlich darüber, dass Joachim Gauck der gemeinsame Vorschlag von Union und FDP, SPD und Grünen sein wird. Wir mussten nicht überredet werden, Joachim Gauck war unser Vorschlag. Und ich bin jetzt sehr zufrieden damit, dass er jetzt die große Chance auf eine breite Mehrheit in der Bundesversammlung hat.

    Capellan: Die FDP verärgerte sehr viele in der Union. Glauben Sie, dass das jetzt die Koalition schwächen wird?

    Steinmeier: Also, jedenfalls ist der Streit ganz offenbar, auch nach allem, was ich höre, innerhalb der Koalition bei Weitem nicht zu Ende. Auch innerhalb der FDP wird ja darüber gestritten, wer eigentlich die Autorenschaft für die Position der FDP für Gauck eigentlich innehaben darf - ob das stärker von Herrn Kubicki kam oder stärker aus der Fraktion oder gar vom Parteivorsitzenden. Ich bin der Letzte, der das entscheiden könnte. Nur nehme ich zur Kenntnis, dass der vermeintliche Sieg der FDP verschiedene Väter hat. Ob es dann ein Sieg wird, das wage ich zu bezweifeln. Frau Merkel wird lange übel nehmen, dass ihr Koalitionspartner ihrem Veto gegen Gauck nicht gefolgt ist.

    Capellan: Glauben Sie, dass die Koalition hält bis zum Ende?

    Steinmeier: Ich sehe jedenfalls voraus, dass die Spannungen wieder größer werden. Und ob die Koalition hält oder nicht, hängt wahrscheinlich nicht nur an dieser Frage, aber sie haben jetzt wieder erheblich mehr Dynamik in den Koalitionsstreitigkeiten, als das um Weihnachten herum der Fall war.

    Capellan: Auf die Streitigkeiten wollen wir später zu sprechen kommen. Aber zunächst noch einmal einen Blick auf den Rücktritt von Christian Wulff. Am Ende verlief doch alles viel ruhiger als auch von den Sozialdemokraten gedacht. Wenn ich daran erinnere, dass Sigmar Gabriel, der Parteivorsitzende, mal davon geredet hatte, ein zweiter Rücktritt innerhalb von zwei Jahren - das könnte uns in eine Staatskrise führen, oder Andrea Nahles, die Generalsekretärin, hatte gesagt, da muss es Neuwahlen geben. Von all dem ist nichts geblieben, oder?

    Steinmeier: Nein, Neuwahlen gibt es nicht, und ich habe die auch nicht vorausgesehen. Was die Staatskrise angeht, so müssen wir doch immerhin feststellen: Es ist schon ein ungewöhnlicher Vorgang, dass innerhalb von zwei Jahren zweimal ein Bundespräsident zurücktritt. Das hatten wir in den fast 60 Jahren vorher nicht. Insofern ist es ungewöhnlich. Es muss uns beunruhigen, finde ich. Nur ich plädiere dafür, dass wir sehr sorgfältig unterscheiden zwischen dem Fehlverhalten eines Einzelnen im Amt und der Institution selbst. Natürlich hat die Debatte der Politik insgesamt geschadet, aber ich glaube nicht, dass das Amt des Bundespräsidenten infrage gestellt ist, auch nicht durch so kurzatmige Reaktionen, die es jetzt gibt - das Amt für ganz überflüssig zu erklären oder das gegenwärtige Wahlverfahren zu ändern, aus der Wahl in einer Bundesversammlung in eine Direktwahl umzusteigen. Und ich bin auch sicher, dass sich mit einem neuen Bundespräsidenten das Amt von der gegenwärtigen Debatte erholen wird.

    Capellan: Wäre denn eine Alternative, über eine andere Zusammensetzung der Bundesversammlung nachzudenken, also Verbänden, der Zivilgesellschaft, mehr Gewicht zu geben. Denn am Ende hat sich doch auch jetzt bei dieser Kandidatenfindung gezeigt, dass die parteitaktischen Manöver, die man ja eigentlich verhindern wollte, am Ende doch stattgefunden haben. Die FDP wollte sich offenbar profilieren, SPD und Grüne hatten schon ein Interesse daran, die Union vorzuführen, die Union wiederum wollte am Ende die SPD nicht verprellen, man braucht sie vielleicht für eine Große Koalition nach der nächsten Bundestagswahl. Das spielt doch alles eine Rolle.

    Steinmeier: Das spielt eine Rolle, aber dass Parteien Vorstellungen, auch Vorstellungen bezüglich des Personals haben, ist ja zunächst mal nicht illegitim, auch nach dem Grundgesetz. Es sollte nur nicht alles durch die Parteien dominiert werden. Ist das der Fall? Ich finde, gerade die Verständigung auf Joachim Gauck ist doch ein Beispielsfall dafür, dass es durchaus eine Verständigung jenseits des klassischen politischen Personals gegeben hat. Joachim Gauck ist nun bekanntermaßen nicht jemand, der aus den Führungsspitzen einer Partei kommt, der gerade frisch aus den alltäglichen Grabenkämpfen zwischen den Parteien heraufsteigt, sondern es ist ein Kandidat, den die Grünen und wir, die SPD, ja vor zwei Jahren deshalb vorgeschlagen haben, weil er am ehesten die Chance auf sich vereint, die Mehrzahl der Stimmen, eine breite Mehrheit in der Bundesversammlung auf sich zu vereinen, weil das eine Person mit einer Biografie ist, die Respekt in breiten Teilen der Bevölkerung hervorruft.

    Capellan: Auch bei der Union, das hatten Sie schon 2010 einkalkuliert. Letztlich haben aber die Kanzlerin und der Vorsitzende einer derzeitigen Drei-Prozent-Partei darüber entschieden, wer Staatsoberhaupt in Deutschland wird. Ist das noch zeitgemäß?

    Steinmeier: Darüber entscheiden wird die Bundesversammlung, aber natürlich ist überhaupt nicht wegzureden: Mit der Positionierung der FDP für Gauck ist am vergangenen Sonntagnachmittag eine Vorentscheidung gefallen. Hätte sich die FDP nicht so positioniert, wären die Chancen für uns - für die SPD und die Grünen, Gauck durchzusetzen, natürlich kleiner gewesen. So ist eine Situation entstanden, bei der Frau Merkel sich ja nur noch zwischen zwei Alternativen entscheiden konnte: Entweder gemeinsam mit der Linkspartei ein Veto gegen Gauck einzulegen, oder aber sich mit der Mehrheit, nämlich mit SPD, Grünen und FDP zu verständigen. Und sie hat sich für die zweite Alternative entschieden. Aber wenn ich so eine Grundstruktur erkenne, bei der Koalition von Union und FDP ist, dass es dort eigentlich Kampf um Zentimeter vom ersten Tag an gibt, dass es eine Koalition ist, in der man sich gegenseitig nichts gönnt, in der man auch keine Spielräume lässt. Und daraus entstehen natürlich Schärfen und Zuspitzungen bei solchen Personalentscheidungen.

    Capellan: Ergeben sich da nun neue Koalitionsoptionen für die Sozialdemokraten? Sie waren als Kanzlerkandidat ein Anhänger der Ampelkoalition. Die FDP hat sich ja in gewisser Hinsicht jetzt beim Thema Präsidentenwahl auf die Sozialdemokraten zubewegt. Wir erinnern uns alle an die Wahl von Gustav Heinemann, das war ein Wegweiser in Richtung Sozialliberale Koalition. Ist da jetzt auch so was möglich, sehen Sie das?

    Steinmeier: Ja, meine Erinnerung an das Jahr 2009 ist noch relativ frisch, und ich erinnere mich auch gut daran, dass mein Vorschlag, auch die Ampel - eine Koalition aus SPD, Grüne und FDP - nicht von vornherein zu verwerfen, mit sehr forschen Antworten, insbesondere von der FDP, versehen wurde. Das war die Zeit des Hochmutes, das war die Zeit, als ein Parteivorsitzender der FDP sich nicht vorstellen konnte, dass das Wetter auch für die Liberalen mal wieder rauer werden wird. Ich bin im Augenblick wahrscheinlich der Schlechteste, der Ratgeber sein kann für den zukünftigen Kurs der FDP. Ob die überhaupt in der gegenwärtigen Situation in der Lage sind, sich neu zu orientieren, weiß ich nicht. Ich würde jetzt das Verhalten am vergangenen Sonntag bei der Personalvorentscheidung über den zukünftigen Bundespräsidenten auch nicht zu hoch bewerten . . .

    Capellan: . . . aber Sie schauen sich das genauer an, was sich da ergibt . . .

    Steinmeier: . . . ich sage mir: Warten wir mal ab, was sich da tut.

    Capellan: "Die Zeit" hat diese Woche geschrieben, Joachim Gauck ist im Grunde kein Konsenskandidat, er ist der größte Anti-Konsenskandidat, weil er überall aneckt, auch bei Sozialdemokraten. Auch da hat es mittlerweile Kritik gegeben, weil er Hartz IV verteidigt, weil er Sarrazin für "mutig" erklärt hat, weil er die Bankenproteste als albern bezeichnet hat. Gibt Ihnen das zu denken? Müssen Sie jetzt mit einem Kandidaten leben, den viele in der Partei eigentlich doch nicht wollten?

    Steinmeier: Nein, das ist ja verdienstvoll, dass Journalisten sich über die Positionen von Joachim Gauck Gedanken machen, auch vieles aufarbeiten, selbst bewerten. Nur, ich meine, vieles ist natürlich nicht neu für mich. Ich beschäftige mich nicht erst seit zwei Jahren mit Joachim Gauck, kenne ihn ein bisschen länger. Und alle, die wir Gauck vor zwei Jahren vorgeschlagen haben, wussten erstens, dass er kein Sozialdemokrat ist. Zweitens wussten wir, dass es jemand ist, der nicht in die engen Schubladen alltäglicher Parteipolitik hinein passt. Und drittens wussten wir, dass das ein Mann ist, der nicht nur geradeaus sprechen kann, sondern wo es notwendig ist, auch die Kontroverse sucht. Das wussten wir, und wir haben ihn gleichwohl vorgeschlagen, weil es jemand sein könnte, der gerade auch, wenn die Schönwetterzeiten nicht am Horizont heraufziehen, sondern wenn wir in einer europäischen Krise Orientierung brauchen, könnte das ein Mann sein, der auch solche Orientierung geben kann. Es ging also nicht um Nähe zur Sozialdemokratie, sondern es ging um die Frage: Bringt der Bewerber einen Lebenslauf mit sich, bei dem wir wissen, das ist ein tadelloser Lebenslauf für Demokratie und Freiheit und ist das jemand, der diesem Amt, dem Amt des Bundespräsidenten, Würde und Respekt zurückgeben kann. Ich glaube, beides trifft auf Joachim Gauck zu.

    Capellan: Nun wird von Christian Wulff an Positivem wohl hängen bleiben, dass er eine Art - ich sage mal - "Integrationspräsident" war. "Der Islam gehört zu Deutschland" - das ist das, was ihm positiv angerechnet wurde, diese Rede, dieser Ausspruch. Von Gauck, sagen viele, ist da anderes zu erwarten. Wäre es nicht gerade in Zeiten des rechten Terrors ungeheuer wichtig, dass auch Joachim Gauck daran anknüpfen würde?

    Steinmeier: Hätten wir dieses Interview zu einem früheren Zeitpunkt geführt und hätten wir in einer Amtszeit von Christian Wulff, die noch Monate und Jahre dauern würde, gesprochen, dann hätte ich Ihnen auch geantwortet: Ja, das ist ein richtiger Schwerpunkt. Das ist ein politisches Feld, auf dem alle politischen Parteien, auch meine eigene, Defizite hinterlassen haben. Und ein Bundespräsident muss Orientierung geben und sagen: Diese Defizite sind, auch wenn es manchmal gegen den eigenen Stammtisch geht, aufzuarbeiten. Das war ein Thema, ein richtiges Thema von Christian Wulff, und ich kann mir nicht vorstellen, dass irgendein anderer Bundespräsident, und erst recht nicht Joachim Gauck, dieses Thema liegen lässt.

    Capellan: Gehört dazu - zur Aufarbeitung der Fehler, die da gemacht worden sind - gehört dazu, in der Konsequenz am Ende auch das NPD-Verbot wieder anzupacken, wieder anzugehen?

    Steinmeier: Ja, wenn Sie es nicht zu kurzfristig meinen. Aufarbeiten der Defizite heißt für mich vor allen Dingen auch, den Anspruch an Politik dafür zu sorgen, dass diejenigen, die in Zuwandererfamilien geboren werden, die gleichen Chancen in einer Zulaufbahn bekommen, heißt für mich auch, dass wir diejenigen, die einen Schulabschluss in der Tasche haben, dann auch versorgen mit Ausbildungs- und Arbeitsmöglichkeiten auf dem deutschen Arbeitsmarkt, der ja in Zukunft jeden Jugendlichen und jede Jugendliche dringend brauchen wird. Das - zunächst mal - gehört auch zur Aufarbeitung der Defizite. Das Zweite ist, dass wir uns Gedanken machen müssen, ob wir mit der Änderung des Staatsangehörigkeitsrechtes 1999 weit genug gegangen sind. Wir haben damals unter Ausschluss der Doppelstaatsangehörigkeit eine Entscheidungspflicht für Jugendliche im 18. Lebensjahr eingeführt, bei dem sich ein Kind, sagen wir aus einer türkischstämmigen Familie, entscheiden muss im 18. Lebensjahr, ob es nur Türke oder nur Deutscher sein will - eine Entscheidung, die offenbar viele, viele, viele Menschen aus Zuwandererfamilien in diesem Alter überfordert. Da müssen wir aus meiner Überzeugung noch mal ran. Ja, und da haben Sie recht. Viertens haben uns die blutigen Gräueltaten dieser rechtsradikalen Mörderbande vor Augen geführt, dass wir offensichtlich nicht genau hingeschaut haben, was sich da am rechten Rand dieser Gesellschaft tut. Heißt das NPD-Verbot? Ich würde sagen, im Ergebnis ja, aber wir müssen sehr, sehr sorgfältig vorbereiten, dass wir nicht selbst in eine Falle hineinlaufen. Mit anderen Worten, wir müssen die Vorgaben des Bundesverfassungsgerichtes sehr sorgfältig anschauen. Die Vorgabe des Bundesverfassungsgerichtes war, dass Angehörige des Verfassungsschutzes, auch V-Leute, keinen dominierenden Einfluss in der Willensbildung einer solchen rechtsradikalen Partei haben dürfen. Dafür muss Vorsorge getroffen werden, dass dieser Vorwurf nicht erneut erhoben werden kann. Und zweitens müssen wir den Nachweis führen, dass die Gewaltbereitschaft und die Ausübung von Gewalt durch solche Untergrundgruppen etwas mit der NPD zu tun haben. Da allerdings sehe ich die Chancen sehr viel besser als beim ersten Verbotsverfahren.

    Capellan: Ein kurzes Wort in diesem Kontext zur Kanzlerin. Hat sie angemessen reagiert Ihrer Ansicht nach bei der Gedenkfeier in der vergangenen Woche für die Opfer des rechten Terrors?

    Steinmeier: Ich finde, es war eine sehr würdige Gedenkfeier mit einer richtigen Aussage der Kanzlerin, dass dieses eine Schande für unser Land ist, und das fand ich gut.

    Capellan: Wenn wir über Angela Merkel reden, dann sagen viele politische Beobachter, die Kandidatenfindung, das Sichaussprechen für Joachim Gauck, war für sie eine große politische Niederlage, vielleicht die größte in ihrer Amtszeit als Kanzlerin. Sie sind da skeptisch, entnehme ich Ihrem Gesichtsausdruck, aber in der Bevölkerung hat sie ja doch gerade auch wieder an Boden gutmachen können durch die Präsidentenkrise.

    Steinmeier: Nein, ich finde auch in der Tat, das ist jetzt nicht die Frage, Niederlage oder nicht, sondern Sie haben es vorhin in einer früheren Frage selbst angesprochen. Am Ende wird Joachim Gauck die richtige Entscheidung gewesen sein, und es wird ihr nicht schaden, wenn sie auch mit Verspätung auf diese richtige Entscheidung sich am Ende eingelassen hat.

    Capellan: Es nutzt ihr offenbar auch in den Umfragewerten. Worauf ich hinaus möchte, wie kann die SPD, die sie ja herausfordern möchte, wie kann sie die Kanzlerin knacken? Denn sie punktet ja offenbar auch mit der Eurorettung.

    Steinmeier: Ehrlich gesagt, das interessiert mich auch gar nicht so furchtbar, weil Politik zu machen im täglichen Wechsel der Umfragesituation macht wenig Sinn. Entscheidender ist aber, dass Frau Merkel ganz offensichtlich profitiert hat davon, dass in der Debatte um den Bundespräsidenten Wulff die präsidiale Rolle in der Demokratie frei geworden ist und die hat sie sich schnell mitgegriffen. Und das hat ihr ganz offenbar genutzt. Sie selbst hat für sich den Eindruck gestärkt, als Kanzlerin quasi über den Parteien zu stehen. Diesen Eindruck haben wir allerdings im Alltag der Politik nie. Und es kommt hinzu, dass in der Tat, so schwierig die Eurorettung fällt, Frau Merkel die vielfältigen Bilder von internationalen Gipfeln ganz gerne nutzt. Das ist in einer Woche der europäische Gipfel, in der nächsten Woche der G8-Gipfel, in der Woche darauf der G20-Gipfel.

    Capellan: Aber wie will sich die SPD da abgrenzen, wenn die Sozialdemokraten ja in aller Regel auch die Rettungspakete mittragen. Ich nehme an, auch die Sozialdemokraten werden bei der Sondersitzung am Montag für das zweite Hilfspaket zu Griechenland stimmen, oder?

    Steinmeier: Ja, sehen Sie, das ist eben Verantwortung in der Politik. Man schaut auf Umfragen und sollte trotzdem nicht versucht sein, deshalb das Falsche zu tun. Will sagen, ich bin lange genug in der Politik unterwegs. Ich weiß, dass wer auch noch so geschickt mit den Medien spielt, solche Trends halten nicht ein Jahr oder gar länger. Auch Bilder von Gipfeln verbrauchen sich am Ende über Monate hinweg. Und wer dauerhaft wie Frau Merkel aus der Innenpolitik flüchtet, wird dafür auch in Wahlen nicht belohnt. Was unsere Haltung zu Europa angeht, ganz klar, ich sage auch intern bei uns in der Fraktion, dieses Europa lässt sich nicht unterteilen in ein schwarz-gelbes Europa oder ein rot-grünes Europa, sondern gerade wenn die SPD sich auf Regierungsverantwortung vorbereitet - und das tun wir sehr intensiv -, dann ist es das selbe Europa, mit dem wir ab 2013 wieder in Regierungsverantwortung zu tun haben. Deshalb werde ich jedenfalls meiner Fraktion empfehlen, dem Griechenlandpaket trotz bestehender öffentlicher Kritik zuzustimmen.

    Capellan: Wie kann eine sozialdemokratische Partei einem Rettungspaket für ein Land zustimmen, das bei den Schwächsten kürzt, das an die Renten und Pensionen ran geht, das die Tarifautonomie infrage stellt und auf der anderen Seite Schwarzgeld von Millionären und Milliardären ins Ausland abwandert? Konten werden nicht gesperrt. Es ist die Rede von 50 Milliarden Euro, die griechische Wohlhabende ins Ausland geschafft haben sollen.

    Steinmeier: Die Verantwortung der europäischen Mitgliedstaaten, insbesondere der in der Eurozone, ist vor allen Dingen die, Griechenland nicht völlig ungeordnet in die Pleite gehen zu lassen. Sehen Sie, das vergessen wir immer ganz gerne in Deutschland, was das bedeuten würde, wenn so leicht hingesagt wird, schmeißt die Griechen mal aus der Eurozone raus. Das bedeutet, dass in der Stunde später alle Menschen in Griechenland vor den griechischen Banken und Sparkassen stehen und wahrscheinlich verzweifelt versuchen werden, das letzte mühsam Gesparte von ihren Konten abzuholen, während diejenigen, die darauf nicht angewiesen sind, es in den letzten Jahren - Sie sagten es eben in Ihrer Frage - außer Lande gebracht haben.

    Capellan: Also müsste man da nicht mehr Einfluss nehmen, auch auf Reform- und Sparbemühungen in Athen?

    Steinmeier: Es gibt keine einfache Antwort, aber eine der Antworten, die wir auf jeden Fall geben müssen, ist, Griechenland muss endlich das tun, was sie in den vergangenen Jahren versäumt haben, nämlich mit dem, was sie einnehmen, auch auszukommen. Sie brauchen eine funktionierende Verwaltung, und dazugehört auch eine Finanzverwaltung und - ja, Sie haben recht - endlich auch von denjenigen Steuern einzutreiben, die in der Vergangenheit keine Steuern bezahlt haben.

    Capellan: Hat die SPD einen Überblick, wie viel Steuergeld, wie viele Milliarden für die Griechenlandrettung bereits ausgegeben worden sind? Es gibt Berechnungen, wonach zehn Milliarden Euro weg sein sollen, weil natürlich auch die Landesbanken vom Schuldenschnitt betroffen sind.

    Steinmeier: Kann ich Ihnen nicht sagen, ob der Bundesfinanzminister das zum gegenwärtigen Zeitpunkt schon zusammengetragen hat. Aber die Risiken sind ja größer als diejenigen, die sich aus dem Rettungsschirm ableiten.

    Capellan: Aber Sie gehen auch davon aus, dass es eben nicht nur allein um Bürgschaften gehen wird, sondern definitiv wir auch Geld zahlen müssen?

    Steinmeier: Sehen Sie, das ist eines der Probleme dieser Bundesregierung. Die Bundesregierung hat zu lange den Menschen, auch den Menschen in Deutschland, vorgemacht, dass wir die Rettung Europas oder sagen wir die Wiedergewinnung von Stabilität am Ende kostenlos werden haben können. Die Wahrscheinlichkeit ist relativ gering. Umgekehrt würde ich sagen, wir haben allerdings das größte Interesse daran, dass wir Stabilität in Europa schnellstmöglich wiedergewinnen. Sehen Sie, deshalb sind wir auch so dringend daran interessiert, dass wir die Stabilisierung schnellstmöglich wieder hinbekommen.

    Capellan: Nun könnte man sagen, große Krisen erfordern Große Koalitionen. Das Tandem Merkel-Steinbrück, der frühere SPD-Finanzminister, hat zu Zeiten der Finanzkrise sehr gut funktioniert. Was spricht dagegen, es in den Zeiten der Eurokrise erneut mit einer Großen Koalition zu versuchen?

    Steinmeier: Wir haben eine Große Koalition hinter uns. Ich sage gerne, wir haben sie hinter uns und nicht vor uns. Wir haben uns erklärt, dass wir eine Koalition mit den Grünen anstreben. Das war eine gute Konstellation in der Vergangenheit, warum nicht auch in der Zukunft?

    Capellan: Die SPD hat eine Koalition mit der Linkspartei ausgeschlossen. Sie würden aber nicht eine Koalition mit der Union unter der Führung von Angela Merkel ebenfalls ausschließen?

    Steinmeier: Ich finde die ganze Spekulation über die Große Koalition deshalb unsinnig, weil wir gegenwärtig in einem Trend sind, bei dem ich daran arbeite - und viele mit mir -, dass Rot-Grün für die Bundestagswahl 2013 eine Mehrheit erhält. Und die Chancen dafür stehen doch gar nicht schlecht.

    Capellan: Warum wird die SPD dann erst im Frühjahr 2013 entscheiden, wer gegen Angela Merkel antreten soll?

    Steinmeier: Ich sage Ihnen ganz eindeutig, weil ich selbst eine Kandidatenzeit von mehr als einem Jahr hinter mir habe und Ihnen sage, ein Jahr ist schon sehr lang. Wenn wir im Januar 2013 entscheiden ist das immerhin noch ein Dreiviertel Jahr für einen zukünftigen Kanzlerkandidaten der SPD, lange genug, um sich einer deutschen Öffentlichkeit zu präsentieren, auch mit Alternativen zur gegenwärtigen Regierung zu präsentieren.

    Capellan: Herr Steinmeier, erlauben Sie mir noch eine Frage an den früheren Außenminister mit Blick auf die Situation in Syrien. Wie können Sie es begründen, dass man in Libyen militärisch eingegriffen hat, in Syrien schaut man mehr oder weniger tatenlos zu?

    Steinmeier: Das ist nicht einfach zu begründen. Und mit dem Eingreifen in Libyen war auch klar, dass man in solche Widersprüche hineingeraten würde. Dennoch kann ich nicht raten, nur zur Vermeidung von Widersprüchen jetzt in einen militärischen Konflikt mit Syrien zu gehen.

    Capellan: Was könnte man da tun?

    Steinmeier: Das Land ist anders und ich kann mir nicht vorstellen, jetzt nach Möglichkeiten zu suchen, doch noch eine Art Waffenstillstand in Syrien hin zu bekommen zwischen den Kräften der Regierung und den Oppositionskräften, damit das tägliche Morden endlich aufhört. Ich hoffe, dass eine Mission in Gang kommt unter Kofi Annan, der nicht nur in der Region, aber gerade auch in der arabischen Welt viel Respekt hat. Und ich hoffe, dass es ihm gelingt, eine Phase der Beruhigung zu schaffen, in der man ernsthaft nach Lösungen sucht. Ob das eine Lösung sein wird in Syrien mit Präsident Assad an der Spitze, da zweifele ich. Ich kann mir das nach den letzten Wochen und Monaten kaum noch vorstellen. Insofern wird es keine einfache Lösung sein, aber ohne zu versuchen, einen Waffenstillstand hinzukriegen in den nächsten Wochen, kann ich mir keine andere Lösung vorstellen.

    Capellan: Sie waren ja auch zurückhaltend beim NATO-Einsatz in Libyen, haben damals gesagt, man darf nicht einfach gedankenlos auch den besten Partnern im Bündnis folgen. Rührt Ihre Skepsis auch daher, dass man in Afghanistan - wir erleben das gerade in diesen Tagen wieder - so schlechte Erfahrungen gemacht hat?

    Steinmeier: Nach zehn Jahren Afghanistan müssen wir anerkennen, dass die Vorstellungen, die wir vor zehn Jahren auf dem Bonner Petersberg entwickelt haben, der Etablierung einer Demokratie in Afghanistan jedenfalls nicht so reifen wird, wie sich das die Beteiligten das vor zehn Jahren vorgestellt haben. Afghanistan ist und bleibt ein Land, das von sogenannten tribalen Strukturen, einer Struktur der Gesellschaft nach Stämmen und ethnischen Zugehörigkeiten, strukturiert bleibt. Insofern bleibt die Vereinbarung solcher Strukturen mit Demokratie eine große Herausforderung, und sie ist uns bis zum heutigen Tage in Afghanistan nicht gelungen. Was gelungen ist, ist eine Autorität von Wahlen herbeizuführen. Aber Wahlergebnisse strukturieren nicht den politischen Alltag in Afghanistan. Das, was wir jetzt vor uns haben in den nächsten zwei Jahren, den Rückzug der internationalen Streitkräfte vorzubereiten, ist anspruchsvoll genug. Je weniger dort sein werden, umso weniger Möglichkeiten bestehen auch zum Selbstschutz der dann verbliebenen Soldaten und zivilen Helfer. Insofern ist das Ganze nicht einfach und wir müssen hoffen, dass es in diesen zwei Jahren gelingt, so viel Verantwortung in Afghanistan zu etablieren, dass nach dem endgültigen Abzug der ausländischen Streitkräfte nicht die Kräfte wieder an Vorhand gewinnen, die zur Zerstörung dieses Landes schon einmal beigetragen haben.

    Capellan: Frank Walter Steinmeier, besten Dank für das Gespräch.

    Steinmeier: Ja, ich danke Ihnen.

    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.