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Ambulanter psychiatrischer Pflegedienst
Hilfe für psychiatrisch Erkrankte in Coronazeiten

Die Angst angesteckt zu werden, die Kontaktsperre und der jetzt oft ungeregelte Tagesablauf: Die Coronapandemie verstärkt bei Menschen mit psychiatrischen Erkrankung zum Teil die Symptome. Auch deshalb ist die ambulante Pflege für Menschen mit psychiatrischen Diagnosen zurzeit besonders gefragt.

Von Pia Behme | 30.04.2020
Wieslawa Elisabeth Kwiatkowski leitet die ambulante Pflegestation des Arbeiter-Samariter-Bundes in Bonn
Wieslawa Elisabeth Kwiatkowski leitet die ambulante Pflegestation des Arbeiter-Samariter-Bundes in Bonn (Deutschlandradio / Pia Behme)
Wenn Wieslawa Elisabeth Kwiatkowski über ihre Arbeit spricht, ist sie dabei strukturiert und sachlich. Geht es dagegen um ihre Klientinnen und Klienten, strahlen ihre Augen und sie lächelt: "Es macht mir so unglaublich viel Spaß, hier in der Ambulanten, die Menschen in ihrer eigenen Umgebung zu erleben und zu sehen, welche Ressourcen die haben, was sie alles machen können, welche Lösungsmöglichkeiten sie für sich und für ihre Probleme ausarbeiten."
Eine Frau trägt einen Mundschutz und blickt in die Kamera 
Strategien gegen Angst und Einsamkeit
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Kwiatkowski leitet die ambulante Pflegestation des Arbeiter-Samariter-Bundes in Bonn. Unter anderem koordiniert sie die ambulante psychiatrische Pflege, kurz APP. Sie hat zum Ziel, dass Menschen mit einer psychiatrischen Erkrankung zu Hause leben können. Zum Beispiel Menschen mit Depressionen, Psychosen oder Borderline-Persönlichkeitsstörungen. Gemeinsam mit ihren Klienten erstellen die Pflegerinnen und Pfleger Wochenpläne, gehen zum Arzt oder zum Einkaufen und erarbeiten Strategien, um mit der Erkrankung besser umgehen zu können.
Die Pandemie verstärkt Symptome der psychiatrischen Erkrankungen
Seit einigen Wochen schießen die Anfragen für die ambulante psychiatrische Pflege bei Kwiatkowski in die Höhe. Ein anderer Pflegedienst musste dauerhaft schließen und der ASB hat einige Klientinnen und Klienten übernommen. Aber das ist nicht der einzige Grund für die erhöhte Nachfrage: Die Covid-19-Pandemie verstärkt die Symptome der psychiatrischen Erkrankungen, sagt Kwiatkowski: "Unsere Klienten, die wir seit Jahren haben, haben verstärkte Psychosen, verstärkte Wahnvorstellungen. Die Depressiven rutschen in depressive Phasen. Die Patienten mit Sozialphobien, Ängsten, haben noch mehr Ängste."
Dazu kommt, dass aufgrund der Corona-Beschränkungen andere Einrichtungen nur eingeschränkt Unterstützung anbieten können. Es gibt weniger Hilfsangebote für Erkrankte. Obwohl die gerade jetzt mehr Unterstützung brauchen.
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"Hallo Frau Stein." –"Hallo!" – Andrea Stein ist eine von Kwiatkowskis Klientinnen. Besuchen geht derzeit nur mit Maske: "Sehen wir nicht lustig aus?" –"Ja." – "Jetzt kann ich sie nicht drücken." –"Nee."
So gut es geht, wird auf dem Weg in die Küche Abstand gehalten. Was die Hygieneregeln betrifft, hat sich sonst wenig für den ambulanten Dienst geändert. Eine kleine Flasche Desinfektionsspray trägt Kwiatkowski sowieso immer in der Jackentasche und nach dem Einsteigen ins Auto geht der erste Griff an die große Flasche in der Autotür.
Persönlicher Kontakt, Vertrauen und Fingerspitzengefühl
In dieser speziellen Form der ambulanten Betreuung, fährt immer dieselbe Person zu einer Klientin, für Andrea Stein ist das normalerweise Nicole Stedler. Denn es geht hier um Vertrauen und Fingerspitzengefühl. Kwiatkowski hat Stein nur ab und zu in Vertretung betreut, aber die beiden Frauen kennen sich schon lange und halten Kontakt. Stein lebt allein mit ihrem Kater Anton in der Nähe von Bonn. In ihrer Wohnung hängen bunte Bilder, die sie selbst gemalt hat.
Hinter der Maske wirkt sie zurückhaltend: "Ich habe eine Borderline-Störung und Depressionen. Gestern hatte ich wieder morgens schon eine depressive Phase und auch eine Anspannungsphase. Und wenn dann Frau Stedler da ist, dann reden wir darüber, wo es herkommen könnte. Sie unterstützt mich dann bei meinen Skills, die ich anwenden muss. Das sind Hilfsmittel zur Vermeidung der Anspannung, um die wieder runterzukriegen, denn in höheren Anspannungsbereichen neige ich dazu mich selbst zu verletzen. Deshalb ist es ganz wichtig, dass ich da Unterstützung bekomme."
Coronavirus
Übersicht zum Thema Coronavirus (imago / Rob Engelaar / Hollandse Hoogte)
"Angefangen haben wir damals mit APP.", erzählt Kwiatkowski. "Genau", bestätigt Stein. "Und so sind Sie bei uns geblieben." – "Ja." - Die ambulante psychiatrische Pflege ist auf vier Monate ausgelegt. Wer darüber hinaus Unterstützung braucht, kann Eingliederungshilfe beantragen, wie Andrea Stein. Dies ermöglicht eine flexiblere Einteilung der verfügbaren Stunden nach Bedarf.
Stein und ihre Betreuerin treffen sich zurzeit zweimal in der Woche. "Das wird dann aber so sein, dass ich dann am Ende des Jahres weniger Stunden zur Verfügung habe", sagt Stein. "Ich gehe normalerweise vier Tage in der Woche ins Sozialpsychiatrische-Zentrum, das ist eine Tagesstätte. Ja, das fällt jetzt alles weg."
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Alles – das ist das gemeinsame Kochen, die Arbeiten mit Holz, Badminton, Entspannungsübungen, Gespräche und die wöchentlichen Ausflüge, die die Tagesstätte sonst anbietet. In dieser Zeit ist die APP für Stein eine umso wertvollere Hilfe. Und vielleicht könne man ja auch noch mehr Stunden beantragen, ermutigt Kwiatkowski sie.
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Angst vor dem persönliche Kontakt in Coronazeiten
Die ambulante psychiatrische Pflege könnte jetzt eine zusätzliche Versorgung anbieten und so viele pflegebedürftige Menschen auffangen, meint Günter Meyer, Vorsitzender der Bundesinitiative ambulante psychiatrische Pflege. Das Problem: Die APP wird nicht überall in Deutschland angeboten. "Beispielsweise haben wir in Niedersachsen fast über 40 zugelassene psychiatrische Pflegedienste und in Bayern nur einen einzigen. Das heißt, wenn Sie in Nürnberg erkranken, haben Sie nicht die Möglichkeit psychiatrische Pflege ambulant zu bekommen", erläutert Meyer.
Darüber hinaus zahlt auch längst nicht jede Krankenkasse psychiatrische Betreuung über Telefon und Videoanrufe. Günter Meyer sieht hier ein großes Problem. Denn während manche Klientinnen und Klienten den menschlichen Kontakt durch die ambulante psychiatrische Pflege gerade jetzt besonders brauchen, bedeutet er ist für andere zusätzlichen Stress: "Es ist so, dass wir überall beobachten, dass sehr viele Patienten gerade mit einer entsprechenden Angstsymptomatik, dass sie die Behandlung jetzt ablehnen. Dass sie sagen, sie haben Angst, sich selbst zu infizieren. Sie haben Angst, Menschen in die Wohnung zu lassen."
Von Kwiatkowskis Klientinnen in der psychiatrischen Pflege hat bisher nur eine die persönliche Betreuung aufgrund der Covid-19-Pandemie abgelehnt. Sie möchte jetzt lieber am Telefon betreut werden. Die anderen wünschen sich eher den persönlichen Besuch. Kwiatkowski: "Wir sind der einzige menschliche Kontakt für die Klienten. Und die haben Ängste, wie verhalte ich mich draußen, was muss ich tun. Deswegen begleiten wir sie zum Einkaufen beispielsweise."
Wieslawa Elisabeth Kwiatkowski und Andrea Stein treffen sich um diese Zeit eigentlich immer zu einem traditionellen Spargelessen. Das wird in diesem Jahr wohl ausfallen. Aber es gibt noch Hoffnungen für den runden Geburtstag im Juni: "Vielleicht dürfen wir dann schon zu dem Italiener."- "Ja, ja."